Nicht im Grand Hotel »Abgrund« einrichten
Ein dreiviertel Jahr nach Gründung von DiEM25
pf: Im Namen steckt schon ein ambitionierter Zeitplan — bis 2025 will DiEM25 beziehungsweise das „Democracy in Europe Movement 2025“ eine radikale Demokratisierung Europas erreichen. Kurze Zwischenbilanz nach einem Dreivierteljahr: Was sind Erfolge und Enttäuschungen?
Srecko Horvart: Seit der Gründung im Februar in der Berliner Volksbühne haben wir tausende Unterstützer in ganz Europa gewonnen — einfache BürgerInnen, AktivistInnen, Intellektuelle aus verschiedensten Bewegungen und Parteien. Wir haben Mitglieder in allen EU-Staaten und sogar in einigen Nicht-EU-Staaten wie der Türkei und Serbien. Auf der Praxisebene versuchen wir eine neue Dialektik zwischen „Horizontalität“ und „Vertikalität“ zu entwickeln. Auf der politischen Ebene verbinden wir die lokale, nationale und internationale Ebene. Ohne eine paneuropäische Bewegung, die politische Kämpfe auf den verschiedenen Ebenen verbindet, wird Europa scheitern. Wir arbeiten an einer solchen Bewegung mit einer gänzlich neuartigen Organisationsform, was selbstverständlich nicht einfach ist. Es wird in den kommenden Monaten sicher noch viele Überraschungen geben — vor allem im nächsten Jahr, wenn DiEM während der wichtigsten Wahlkämpfe in Europa, denen in Frankreich und Deutschland, aktiv und sichtbar werden wird — nicht als Partei, sondern als Bewegung, die sowohl mit Parteien als auch anderen sozialen Bewegungen eine progressive europäische Agenda entwickelt. Das ist eine Einladung an alle progressiven Kräfte Europa uns zusammenzutun.
pf: Teile der Linken in Europa versuchen nationalistischen EU-Feinden mit dem Konzept eines linken Exit — auch Lexit — das Wasser abzugraben. Was hältst Du davon?
Horvart: Glaubt irgendjemand daran, dass Großbritannien seit dem Brexit tatsächlich eine Insel ist? Geographisch ist sie das, aber geopolitisch? Es ist doch naiv zu glauben, dass es heutzutage ein Außen des Kapitalismus gebe. Oder wie Yanis Varoufakis sagt: Es ist wie im „Hotel California“ — man kann jederzeit einchecken, aber man kommt nicht mehr raus. Die Lexit-Argumentation will eine Entkopplung vom globalen Kapitalismus durch einen Rückzug in den Nationalstaat. Aber die europäischen NationalistInnen mit einem sozialistischen Nationalismus bekämpfen zu wollen, ist nicht nur ein falsches, sondern auch ein gefährliches Unterfangen. Es ist falsch, weil selbst wenn man „draußen“ ist und beispielsweise die Eurozone verlässt, trotzdem den Auswirkungen des globalen Kapitalismus ausgesetzt bleibt. Und es ist gefährlich, weil das von NationalistInnen von Ungarn bis Polen genutzt wird.
Darüber hinaus lohnt ein Blick auf den Wandel von Teresa May von einer „Remainerin“ zur Brexit-Befürworterin. Wir brauchen stattdessen einen pan-europäischen zivilen Ungehorsam. Dem globalen Kapitalismus kann man sich nur mit einer progressiven Internationale entgegenstellen. Von der Flüchtlingskrise bis zu den geheimen Handelsabkommen CETA und TTIP, die neuen Kriege und die neuen Mauern können nur auf internationaler Ebene bekämpft werden. Mir scheint, dass unsere GenossInnen aus der Plan-B und Lexit-Fraktion die Lehren aus den historischen Debatten über den „Sozialismus in einem Land“ vergessen haben.
pf: In gewisser Weise ist DiEM25 auch eine alternative europäische Verfassungsbewegung. Nach dem Brexit und den gescheiterten bisherigen Referenden über eine europäische Verfassung — woher der Optimismus?
Horvart: Ich glaube nicht an Optimismus. Was wir brauchen ist Hoffnung ohne Optimismus. Wir stehen am Rande des Abgrunds, andere wohnen sogar im berühmten Grand Hotel »Abgrund«[1], aber optimistisch sein und an die Methoden von gestern glauben, ist naiv. Die soziale Revolution muss ihre Poesie aus der Zukunft schöpfen, wie das Marx so treffend in „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ beschrieben hat. Das ist der Punkt, an dem Hoffnung ins gesellschaftliche Bewusstsein eintritt. Wenn es uns gelingt die Zukunft in den Rissen der Gegenwart zu bauen, sei es wie bei den Kooperativen Barcelonas oder den Alternativwährungen und Solidaritätsbewegungen in Griechenland, so nähern wir uns schrittweise einer alternativen Verfassungsbewegung. Der Brexit ist jedenfalls kein Grund für Optimismus. Die Tatsache, dass Labour mit seinen 500.000 Mitgliedern größer ist als alle britischen Parteien zusammen und damit die stärkste Mitte-Links-Partei Europas hingegen schon.
pf: KritikerInnen monieren die Abwesenheit eines politischen Subjekts im Manifest von DiEM25. Was erwiderst Du Ihnen?
Horvart: Die Frage nach dem politischen Subjekt ist eine wichtige Frage. Wer ist mit „Wir EuropäerInnen“ im gegenwärtigen Europa gemeint? Die Frage stellt sich ja gerade, weil die EU so schrecklich darin versagt hat, einen europäischen demos, ein europäisches Staatsvolk, zu schaffen. Deshalb haben wir ja den immer stärkeren Rückzug auf die Idee des Nationalstaats und den Phantasien von „nationaler Souveränität“. DiEM25 hat wie Du ja schon gesagt hast, einen sehr ambitionierten Plan. Wir gehen nicht davon aus, dass es ein feststehendes politisches Subjekt gibt, sondern dass dieses erst in einem kontinuierlichen Prozess geschaffen werden muss. Es ist offensichtlich, dass es nicht vom EU-Establishment geschaffen wird, sondern von den progressiven Bewegungen Europas, von der Peripherie ins Zentrum. Die griechischen und französischen Arbeiter eint oder sollte zumindest einen, dass die gleichen Arbeitsmarktreformen, die in Griechenland eingeführt werden, als Bumerang nach Frankreich zurückkehren.
Die Sozialdemokratie macht seit einiger Zeit das, was normalerweise Konservative tun würden. Aber Syntagma und Nuit Debout sind nicht so fern. Das gleiche gilt für das Netzwerk der „rebellischen Städte“ von Barcelona bis Neapel. Es ist entscheidend, diese Kämpfe zu universalisieren. Nur wenn die scheinbar unverbundenen partikularen Widerstände verbunden oder in einem hegelianischen Sinn verallgemeinert werden, können wir das politische Subjekt schaffen, dessen Europa so dringend bedarf. DiEM25 will hierfür einen Raum, eine Infrastruktur bieten, den „Klebstoff“ wenn man so will. Damit die Poesie aus der Zukunft geschöpft werden kann.
Srećko Horvat ist ein kroatischer Philosoph sowie Gründungsmitglied und Inspirator von DiEM25. Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte Stefan Gerbing.
[1] Dies spielt auf den Text „Grand Hotel Abgrund“ von 1933 an, in dem Georg Lukács den Intellektuellen der Frankfurter Schule vorwirft, sie schauten von der Terrasse besagten mataphorischen Hotels bei einem Aperitif auf das Elend der Welt. Er kritisierte damit die Isolierung kritischer Theorie von politischer Praxis und revolutionärer Bewegung.
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