„Spielarten des Kapitalismus“, der Euro und die Notwendigkeit gewerkschaftlicher Gegenmacht
Eine Fixierung auf inkompatible „Spielarten des Kapitalismus“ in Europa als Fundament der Euro-Krise führt die gewerkschaftliche und politische Linke in die Irre
In den gegenwärtigen Debatten über die Zukunft der Europäischen Union und der gemeinsamen Euro-Währung schimmert auch immer wieder ein theoretisch fundierter Diskurs durch, der in den letzten anderthalb Jahrzehnten viel wissenschaftliche, aber auch politische Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat: jener, der „Spielarten des Kapitalismus“ (Varieties of Capitalism, VoC). Solche und artverwandte Perspektiven führen in dieser Debatte aber zu teils irreführenden Schlüssen, da sie übermäßig auf die institutionelle Dimension fixiert sind und die grundlegende Bedeutung von Klassenverhältnissen und –auseinandersetzungen verkennen.
„Spielarten des Kapitalismus“ …
Umreißen wir zunächst kurz die Grundprämissen der VoC-Literatur bevor wir diskutieren, wie diese in den gegenwärtigen Debatten über die Zukunft der EU und des Euro wirksam werden. Der „Markenkern“ des im Jahr 2001 erstmals in konsistenter Form vorgestellten Ansatzes (vgl. Hall & Soskice 2001) ist zweifellos das Postulat, der zeitgenössische Kapitalismus in den Metropolenländern ließe sich sinnhaft anhand zwei großer Idealtypen unterteilen: die durch Marktsteuerung dominierten „liberalen Marktökonomien“ (in der Realität am stärksten repräsentiert durch die USA und Großbritannien) und die „koordinierten Marktökonomien“ (wie etwa die BRD), wo der Markt durch alternative, vertrauensbasierte ökonomische Koordinationsmechanismen ergänzt werde. Grundlage für diese fortdauernde Differenzierung seien die aus den institutionellen Strukturen sich ergebenden „komparativen institutionellen Vorteile“, verstanden insbesondere als internationale Wettbewerbsfähigkeit einheimischer Unternehmen.
- Joshua Willis (CC BY-NC-ND 2.0)
Diese ebenso elegante wie einfache Erklärung fand in den frühen 2000er Jahren großen Anklang, vor allem weil sie es vermochte, eine empirisch unterfütterte Begründung für die Zukunftsfähigkeit der korporatistisch und wohlfahrtsstaatlich geprägten Kapitalismusmodelle Kontinentaleuropas zu entwickeln, welche aber zugleich in ihrer Fokussierung auf ökonomische Effizienz mit dem neoliberalen Zeitgeist kompatibel war. In den Folgejahren geriet sie aber gerade wegen ihrer übermäßigen Simplizität in die Kritik (vgl. zuletzt Bruff u.a. 2015).
In der wissenschaftlichen Diskussion hat der „Spielarten des Kapitalismus“-Ansatz als solcher deshalb inzwischen seine Vorrangstellung verloren. An seine Stelle ist eine Vielzahl von Perspektiven getreten, welche allerdings zumeist etliche entscheidende Grundannahmen teilen und welche deshalb als „Post-VoC“-Ansätze bezeichnet werden können. Diese unterscheiden sich von der VoC-Perspektive vor allem durch die Abkehr von der elegant-einfachen LME/CME-Differenzierung, durch eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber dem institutionellen Wandel von Kapitalismusmodellen (mit potenziell offenem Ende) sowie einen weniger stark ausgeprägten Funktionalismus und Ökonomismus. Zugleich halten die Post-VoC-Perspektiven aber an der grundsätzlichen Idee von durch ihr jeweiliges wirtschaftliches Institutionenregime voneinander sinnvoll abgrenzbaren, relativ eigenständigen und lediglich extern miteinander interagierenden Kapitalismusmodellen fest.
Ein Zentrum der Post-VoC-Schule im deutschsprachigen Raum ist das prestigereiche Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Wichtige Vertreter sind etwa der ehemalige Direktor des Instituts, Wolfgang Streeck, seinerzeit Berater der Schröder-Regierung und zuletzt mit seinem Buch Gekaufte Zeit Furor im Feuilleton, oder der Max-Planck-Forschungsgruppenleiter Martin Höpner. Beide gehören seit einigen Jahren – und damit kommen wir zurück zum politischen Ausgangspunkt des Artikels – zur Gruppe prominenter mitte-linker Euro-KritikerInnen. Zur Unterfütterung ihrer Kritik bringen sie maßgeblich Annahmen und Denkfiguren der Post-VoC-Diskussion über Spielarten des Kapitalismus in Anschlag.
… und die vermeintliche Ausweglosigkeit des Euro-Krise
Im Zentrum der Argumentationslinie von Höpner – dieser soll hier im Mittelpunkt stehen, da er deutlich stärker auf der institutionellen „Mikro-Ebene“ argumentiert – steht, vereinfachend gesagt, die These, die Spielarten des Kapitalismus in der Eurozone seien institutionell zu heterogen, als dass der Euro als gemeinsame Währung funktionieren könnte. So hebt er in zahlreichen Veröffentlichungen (etwa Höpner 2013) auf die Unterschiedlichkeit der institutionalisierten Lohnfindungsregime in der Eurozone und ihren Beitrag zu strukturell divergierenden Lohnauftriebsquoten ab: im Zeitraum von 1999 bis 2008 seien so z.B. die nominalen Lohnstückkosten in Deutschland um lediglich 1,1 Prozent gestiegen, verglichen mit Anstiegen zwischen gut 25 und gut 35 Prozent in den Südländern Italien, Portugal und Spanien und sogar über 40 Prozent in Irland. Die Folge sei eine massive Verzerrung der realen Wechselkurse, mit den zu erwartenden Konsequenzen für die Wettbewerbsfähigkeit. Absehbar könnten, so der pessimistische Schluss, weder ein Export des deutschen, makroökonomisch geerdeten Lohnfindungsregimes noch ein europäisches Regime dieser Problematik Herr werden könnten. Nur eine Abkehr von der gemeinsamen Währung könne den einzelnen Nationalökonomien wieder ausreichend Spielraum zur Herstellung preislicher Wettbewerbsfähigkeit geben.
Diese Argumentation, obgleich sie einige wichtige Denkanstöße enthält, ist aber institutionell enggeführt und daher in ihren Schlussfolgerungen überzogen. In Bezug auf den für die von Höpner angesprochene Problemkonstellation paradigmatischen deutschen Fall, lautet die Essenz der Post-VoC-Analyse, dass das makroökonomisch zentrierte deutsche Lohnfindungsregime aufgrund seiner institutionellen Struktur dazu tendiere, die preisliche Wettbewerbsfähigkeit zuungunsten der Lohnabhängigen zu privilegieren. Was Höpner allerdings – wie die Post-VoC-Literatur im Allgemeinen – zu wenig berücksichtigt sind die Klassenbeziehungen und die mit ihnen verwobenen Machtverhältnisse, welche in den Institutionen ihren temporär fixierten Ausdruck finden, sie zugleich aber auch fortwährend verändern. In seiner Analyse bleibt deshalb die Tatsache fast völlig außer Acht, dass der von ihm analysierte Zeitraum (schwerpunktmäßig das erste Jahrzehnt dieses Jahrtausends) gleichzeitig auch eine ausgeprägte Schwächephase der deutschen Gewerkschaftsbewegung war – ein Schwäche die weniger durch Veränderungen in der institutionellen Infrastruktur als durch wirtschaftliche Strukturveränderungen und die politische Großwetterlage verursacht war.
Transformation des institutionellen Unterbaus durch Gegenmacht
In den Debatten über gewerkschaftliche Erneuerung wird hingegen seit einigen Jahren ein „Comeback der Gewerkschaften“ verzeichnet, welches sich zum Beispiel in einer Rückkehr zum Mitgliederwachstum, oder wenigstens –stabilisierung, Organisierungs- und Tariferfolgen niederschlägt (so etwa Schmalz & Dörre 2013). In der Folge sind auch die deutschen Realeinkommen und, in Verbindung damit, die Lohnstückkosten in der jüngsten Vergangenheit wieder deutlich und über dem europäischen Durchschnitt gewachsen – erstere etwa zwischen 2010 und 2015 um 7,1%. Dieser Sachverhalt, der durch eine Erweiterung des Betrachtungszeitraums deutlich geworden wäre, entgeht Höpner und deutet auf eine institutionelle Blickverengung hin, welche in der Tendenz die gesamte Post-VoC-Literatur prägt. Einfach gesagt: das Problem sei institutioneller Natur, die Lösung könne deshalb auch nur – oder eben, in diesem Fall: nicht – in den Institutionen liegen. Im Ergebnis scheint lediglich die Auflösung der Euro-Zone als gangbarer Weg.
Dass die Verwerfungen im ökonomischen Unterbau des Euro nicht vorrangig mit dessen (selbstverständlich verbesserungswürdigen) institutionellen Design, sondern vielmehr mit einer besonderen Konjunktur der Stärke der deutschen und anderer nord-zentraleuropäischen produktionsorientierten Kapitalfraktionen begründet lagen, kann so nicht erfasst werden. Ebenso wenig deutlich wird die Perspektive, dass ihre Behebung neben einer generellen Revitalisierung von Arbeiter- und Gewerkschaftsmacht einer stärkeren europäischen Zusammenarbeit der Gewerkschaften, inklusive einer tarifpolitischen Koordination – allerdings keiner „von oben“ institutionell konstruierten, sondern einer „von unten“ aus den Organisationen heraus gewachsenen – bedarf.
Glücklicherweise hat es auch hier in den letzten Jahren einige ermutigende, wenn auch nach wie vor begrenzte Fortschritte gegeben. Um deren Wichtigkeit (auch) für die Zukunft des Euros und der europäischen Integration zu erkennen, bedarf es allerdings alternativer Ansätze der vergleichenden Kapitalismusanalyse. Ansatzpunkte bieten hier zum Beispiel kritische Varianten der Regulationstheorie, aber auch die zu Unrecht in Vergessenheit geratene lateinamerikanische Dependenzschule, die etwa helfen könnte, die hierarchische Verzahnung von europäischen Kapitalfraktionen und Kapitalismusmodellen sichtbar zu machen. Der institutionell verkürzte „Spielarten“-Blick ist jedenfalls für sich genommen nicht ausreichend. Kritische WissenschaftlerInnen tun, ebenso wie die politische Linke, besser daran, sich auf Möglichkeiten zur Veränderung der Kräfteverhältnisse innerhalb der Institutionen und schließlich auf deren Transformation in Übereinklang mit einem sozial-ökologisch gewendeten europäischen Projekt zu konzentrieren.
Matthias Ebenau ist Gewerkschaftssekretär der IG Metall und Lehrbeauftragter an Universitäten in Argentinien und Deutschland.
Literatur:
Ebenau, Matthias / Bruff, Ian / May, Christian: New Directions in Comparative Capitalisms Research. London 2015.
Hall, Peter / Soskice, David: Varieties of Capitalism. Oxford 2001.
Höpner, Martin: Ein Währungsraum und viele Lohnregime. Warum der Euro nicht zum heterogenen Unterbau der Eurozone Passt. In: Der Moderne Staat 6 (2), 2013.
Schmalz, Stefan / Dörre, Klaus: Comeback der Gewerkschaften? Frankfurt/New York 2013.
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