Wirtschafts- statt Währungspolitik
Thesen der Redaktion für eine soziale und ökologische Wirtschaftspolitik in Europa
1. Man kann die Einsicht, dass die ökonomische Produktion und Reproduktion von zentraler Bedeutung für gesellschaftliche Veränderung ist, unterschiedlich umschreiben. Nun hat sich die gesellschaftliche Linke, zumal in der BRD, in der Vergangenheit mit vielen wichtigen Fragen befasst: Vom WG-Tisch aus hat man schon vor Jahren den Nahost-Konflikt gelöst, sich eingehend mit den Bündnisoptionen des linken Flügels der US-amerikanischen Demokraten befasst, darum gerungen, ob der Tauschwert in kapitalistischen Gesellschaften nun wirklich ein „automatisches Subjekt“ ist, wie Karl Marx einst im Kapital notierte und gestritten, ob das bedingungslose Grundeinkommen nun überwiesen oder mit der Steuer verrechnet werden soll.
Dennoch: Die technokratischen Floskeln des Wirtschaftsteils führen auch bei einigen unserer Redaktionsmitglieder dazu, lieber direkt vom Feuilleton zum Sportteil zu blättern.
2. Das ist problematisch, weil das beliebteste Abwehrargument gegen progressive Forderungen wie solidarische Mindestrente und Mindestsicherung oder nach mehr Frauenhäusern und antirassistischen Bildungsarbeit die haushälterischen und gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen sind. Wenn dann noch Wirtschaftsweisen in der Öffentlichkeit erklären, dass eine progressive Politik den Untergang der europäischen Wirtschaft bedeutet, hilft es, wenn man halbwegs konkret benennen kann wie eine Abkehr vom Neoliberalismus in Europa beginnen könnte. Also: Ja, man muss den Wirtschaftsteil lesen. Ja, man muss die Zeit aufwenden und verstehen, was ökonomisch passiert und welche Institutionen eine Rolle spielen. Ja, die Linke braucht ein ökonomisches Programm, das sich nicht auf allgemeinen Floskeln über Wünschenswertes reduziert.
3. Die Frage nach progressiver Politik unter kapitalistischen Bedingungen ist nicht neu: Die sozialistischen Arbeiterparteien in Europa begannen in den 1920er Jahren unter dem Eindruck der Wirtschaftskrisen über die Frage nachzudenken, wie eine linke Wirtschaftspolitik aussehen könnte. Davor beschränkte man sich auf die Forderung nach Verstaatlichung und Vergesellschaftung. Doch wenigstens in Europa und den USA, aber auch in der Sowjetunion — man denke nur an Lenins Kurswechsel zur „Neuen Ökonomischen Politik“ — trat deutlich hervor, dass eine linke Wirtschaftspolitik sich mit Fragen, der Geldmengenpolitik, der öffentlichen Haushalte und der Umgestaltung des privatwirtschaftlichen Sektors befassen muss.
Die Theorien des Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes boten hier eine Antwort. Die Frage, ob Keynes selbst nun ein Linker, ein Konservativer oder ein Liberaler war, scheint uns hier zweitrangig. Entscheidend ist, dass bestimmte Einsichten seiner Theorien in der Folge für linke Bewegungen und Parteien einen Anknüpfungspunkt boten, um eine eigene, konkrete Praxis zu entwickeln, die auf das Aufkommen komplexer Marktwirtschaften und internationaler Handelsbeziehungen reagierte. Keynes entwarf eine Theorie über den gesamten volkswirtschaftlichen Produktionsprozess, der im Gegensatz zur neoklassischen Marktgläubigkeit die besondere Rolle öffentlicher Investition und antizyklischer Ausgabenpolitik betonte. Damit lieferte Keynes eine ökonomische Begründung für eine expansive Lohnpolitik, den Ausbau des Wohlfahrtsstaats und starke Eingriffe in den Markt. Die Anwendung keynesianischer ökonomischer Instrumente ist natürlich nicht per se fortschrittlich. Denn es ist ein Unterschied, ob in Rüstung oder in Schulen, ob in Autobahnen oder in den ÖPNV investiert wird.
4. Ein zweiter wichtiger Strang des Nachdenkens über eine linke Wirtschaftspolitik begann mit der Kulturrevolution von 1968. Hier wurde in unterschiedlichen Spielarten der wirtschaftliche Produktions- und Reproduktionsprozess in seiner Gesamtheit und vor allem in Hinblick auf seine gesellschaftlichen und ökologischen Folgen betrachtet. Dazu zählt beispielsweise die Frage nach Mechanismen, die das Entfremdungspotential kapitalistischer Lohnarbeit reduzieren. Besonders radikal haben hier feministische und ökologische Bewegungen angesetzt. Die feministische Bewegung hat nachgewiesen, dass die gesamte Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspolitik mit ihrem Schwerpunkt auf die materielle Produktion letztlich eine falsche Perspektive auf ökonomische Prozesse einnimmt, da sie Reproduktionsarbeit, also geradezu die Grundlage jeder Form von Gesellschaftlichkeit, nie systematisch in ihre Modelle aufgenommen hat. Die ökologische Bewegung hat die Frage nach den Grenzen des Wachstums und die nach ökologischen und sozialen Folgekosten in die wirtschaftspolitische Diskussion eingeführt.
5. Die aktuellen Suchbewegungen nach „Mehr Pluralismus “ in der Wirtschaftswissenschaft insbesondere nach der Finanzkrise 2008 haben unter dem Sammelbegriff „heterodoxe Ökonomie“ an Bedeutung gewonnen. Bisher haben sie jedoch noch kaum Anschluss an politische AkteurInnen und EntscheidungsträgerInnen im engeren Sinne gefunden. Zum anderen wird derzeit noch nach Ansätzen für eine Synthese beider Stränge — also (post)keynesianischer Theoriebildung einerseits und Entfremdungskritik sowie ökologischer und feministischer Kritik andererseits — gesucht. Die große Herausforderung für Theorie und Praxis besteht darin, eine solche Verbindung zwischen beiden Strängen herzustellen: Eine Wirtschaftspolitik also, die sich in der realpolitischen Komplexität bewährt und nicht nur allgemeine Phrasen vor sich herträgt, die aber trotzdem durchaus radikal an einer Überwindung der kapitalistischen Arbeits- und Lebensweise arbeitet.
6. Gegenwärtig erleben wir weiterhin, wie der neoliberale, finanzgetriebene Kapitalismus einfach so weitermacht wie bisher. Während sich die Krisentendenzen fortsetzen, bleibt umkämpft, was eigentlich die Antwort der Linken auf diese Herausforderungen ist.
a) Einerseits gibt es die Tendenz, der Propaganda der Finanzmärkte auf den Leim zu gehen und die Hauptprobleme der Wirtschaftsweise nur noch in der Zirkulationssphäre und im Bereich der Währungsarchitektur zu verorten. Wir glauben, dass die Kritik an den Entwicklungen im Finanz- und Bankensektor absolut notwendig ist, trotzdem stehen diese Tendenzen in einem Zusammenhang zu Kämpfen im Bereich der Primär- und Sekundärverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Eine Kritik, die nur das „Geld“, den „Euro“ adressiert, produziert ein strategisches Problem, weil sie die faktischen Machtbeziehungen ausblendet und das politische Handeln nur noch auf der Ebene von „Machtlosigkeit“ oder von „Allmachtsphantasien“ verhandeln kann. Auf der einen Seite steht das Lamentieren über die anonyme Macht der Finanzmärkte, an denen man sowieso nichts ändern kann, auf der anderen Seite die Forderungen danach, Währungen abzuschaffen, neue Währungen einzuführen und irgendwie nochmal mit allem „ganz von vorne“ beginnen zu wollen.
b) Andererseits sind neoklassische Ansätze im Bereich der sozialdemokratischen und grünen Parteien weiterhin präsent und die politische Klasse hängt an den Glaubenssätzen neoliberaler Politik: Haushaltsausgleich, Schuldenbremse, Verschlankung des öffentlichen Sektors und Schuldenabbau. Dies wird auch durch die Verbindung mit den relevanten wirtschaftswissenschaftlichen Beratungsinstitutionen hergestellt: Gerade in der BRD sind diese Institutionen einseitig neoklassisch ausgerichtet. Eine linke Bundesregierung hätte hier ein prioritäres Handlungsfeld, da deren Expertisen politische Handlungsspielräume mitprägen. Eine solche alternative Expertise-Bewegung müsste schon jetzt Teil eines linken Reformprojektes sein, um überhaupt eine Chance auf eine solidarische Hegemonie zu haben und die nötigen Umverteilungspolitiken auch verfolgen zu können.
c) Die einfache Rückkehr zu einem rein nationalstaatlich verfassten Kapitalismus, wie sie in rechten und linken Bewegungen in Europa gegenwärtig diskutiert wird, hat ein funktionales und ein normatives Problem. Das funktionale Problem besteht darin, dass eine einfache Rückabwicklung der europäischen Wirtschaftsintegration zu Wohlstandsverlusten gerade der Unter- und Mittelschichten der europäischen Ländern führen würde.
d) Die Linke muss den Solidaritätskonflikten, die im Zuge von Europäisierung und Globalisierung entstehen, offensiv begegnen. Jede linke Politik im nationalstaatlichen Rahmen unterliegt unter diesen Bedingungen einer Berücksichtigungspflicht: Sie muss prüfen, wie sich das eigene Handeln auf die Situation der ärmeren Länder und subalternen Gruppen der Weltgesellschaft auswirkt. Damit diese „Solidarität“ nicht nur ein Bekenntnis bleibt, braucht es allerdings institutionelle Mechanismen und Transferstrukturen auf transnationaler und europäischer Ebene, die Solidarität organisieren und praktisch erfahrbar machen. Erst so – nicht durch wohlfeile Bekenntnisse auf Parteitagen – kann eine solidarische Lebensweise und Geisteshaltung verallgemeinert werden. Deshalb sollte der Kampf für einen Neustart europäischer und transnationaler Institutionen im Mittelpunkt linker Politik stehen. Aussichtsreich sind Pläne, wie sie etwa Yanis Varoufakis zur Reform der EU vorschlägt.
e) Das Argument, dass eine Demokratisierung in der vermeintlichen Überschaubarkeit des Nationalstaats möglich wäre, halten wir für nicht überzeugend. Der Rückzug in den Nationalstaat führt nicht zur Demokratisierung, sondern zum Machtzuwachs der Regierungen und Exekutivorgane, da Handel weiter getrieben wird. Die Staaten bleiben Wettbewerbsstaaten. Unter diesen Bedingungen werden kaum solidarische Lösungen für den europäischen Wirtschaftsraum entstehen. Deshalb wird nur andersherum ein Schuh draus: Um den Wettbewerb der Nationalstaaten, der ja immer ein Dumpingwettlauf hinsichtlich sozialer, demokratischer und ökologischer Standards ist, braucht es gerade unter den Bedingungen der verzahnten Ökonomie in Europa soziale, steuerrechtliche und ökologische Standards. Dies und nicht die Re-Nationalisierung ist die Voraussetzung für Demokratiesierung. Demokratie ist schließlich keine Frage der Ebenen, sondern eine der Entscheidungsspielräume. Die Schweiz ist nicht demokratischer als die BRD, nur weil die Bewohner die Hauptstadt schneller erreichen können und das Territorium „überschaubarer“ ist.
- floheinstein (CC BY-SA 2.0)
f) Aus marxistischer Sicht sind im Hinblick auf eine Abkehr von Finanzmarktkapitalismus nicht nur numerische Mehrheiten bei parlamentarischen Wahlen relevant, sondern auch, ob um dieses Projekt ein belastbarer „historischer Block“ (Gramsci) entstehen kann, also gesellschaftliche Interessenlagen sich in diesem Projekt wiederfinden und es auch aktiv unterstützen oder wenigstens nicht verhindern.
9. Von der Theorie zur Praxis:
a) Statt entweder den angegriffenen oder den wirtschaftlich starken Euroländern den Exit nahezulegen, braucht es eine solidarische europäische Wirtschaftspolitik. Diese kann sich nicht in Geldpolitik erschöpfen, zumal das Spektrum der hier verfügbaren Maßnahmen bereits nahezu ausgeschöpft ist.
Stattdessen braucht es neben fiskalpolitischen Maßnahmen wie Eurobonds einen europäischen Stabilisierungsmechanismus zum Ausgleich konjunktureller Schwankungen. Ein solcher Ausgleich kann und sollte eine europäische Erwerbslosigkeitsversicherung beinhalten wie sie Sebastian Dullien in seinem Beitrag in dieser Ausgabe skizziert.
b) Vielfach und zu Recht ist die mangelnde demokratische Legitimität der weitreichenden Entscheidungen der EZB kritisiert worden. Doch statt das selbstherrliche Hineinregieren des EZB-Chefs in die einzelnen Länder zu beklagen, bedarf es der Demokratisierung und Legitimierung dieser Institution. Gerade die Tatsache, dass die EZB eine größere Gestaltungsmacht hat als die nationalen Zentralbanken bedeutet, dass die Gremien stärker demokratisch legitimiert sein und gewerkschaftsnahe sowie unorthodoxe Positionen vertreten sein müssen. Das gleiche gilt für Beratungsinstitutionen wie den Rat der Wirtschaftsweisen. Auch hier muss sich die alternative Expertise-Bewegung auch personell wiederfinden.
c) Wir brauchen eine europäisch koordinierte Umverteilungs- und Investitionsinitiative, um die soziale Ungleichheiten zu bekämpfen, die Nachfrageseite zu stärken und schrittweise einen Umbau der europäischen Wirtschaft vom Finanzmarktkapitalismus zu einem sozialökologischen Entwicklungsmodell einzuleiten.
d) In der BRD muss der wirtschaftspolitische Handlungsrahmen neu bestimmt werden. Die Einführung nachfrageseitiger Steuerungsmechanismen ist eng mit dem „Stabilitäts- und Wachstumsgesetz“ verbunden, das 1967 beschlossen wurde. Eine progressive Bundesregierung hätte dieses Gesetz zu erneuern und zu erweitern: Statt einseitig auf klassische Kennzahlen wie Wachstumsraten und Preisniveaustabilität zu setzen, müssten hier Kriterien, wie ökologische Folgekosten, Auswirkungen auf die Arbeitszeitverteilung zwischen den Geschlechtern und den informellen Sektor der Reproduktionsarbeit aufgenommen werden. Die Wirtschafts- und Fiskalpolitik könnte so an einen sozial-ökologischen Entwicklungsindex gebunden werden.
e) Erforderlich sind auch Veränderungen in der Eigentumsfrage. Es gilt die Voraussetzungen für eine Stärkung des Gemeineigentums und der Mitbestimmung zu schaffen und konzentrierte wirtschaftliche Macht zu entflechten. Einige Vorschläge dazu haben wir in vergangenen Ausgaben bereits gemacht.
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