Auf der Suche nach der Ästhetik des Widerstandes
Alles Politur? Zum Verhältnis von Politik und Kultur
Am Anfang war das Bild — der für die Ewigkeit erstarrte Moment des Leidens und des Schreckens. Am Anfang war Laokoon, der im Todeskampf mit den von der Kriegsgöttin Athene gesandten Schlangen resigniert, und sein jüngerer Sohn, der im Würgegriff sein Leben schon aufgab. Doch dann war da noch das ältere Kind zu seiner Rechten, das den Moment des Todes durchbricht: Für den Schriftsteller Peter Weiss verkörpert angesichts des Untergangs dieser junge Mann in der Laokoon-Gruppe den überzeitlichen Moment der Hoffnung und Befreiung. Seine Gesichtszüge tragen den Willen zum Leben, den Funken des Widerstands gegen das scheinbar verordnete Schicksal von Unterdrückung, Ausbeutung und Tod. Ein Wesenszug des Menschen, dem Peter Weiss Zeit seines Lebens auf der Spur war und dem er in seinem finalen literarischen Monument „Die Ästhetik des Widerstands“ ein eindrückliches Denkmal setzte. An diesem Koloss von über tausend Seiten sprichwörtlicher Bleiwüste sollte auch heute, gut 30 Jahre nach dem Tod seines Verfassers, kein Linker achtlos vorbeigehen, denn das Monument will neu belebt werden. Das ist vielleicht eine der wichtigsten Botschaften von Weiss: Ein Bild ist nur ein Bild, völlig unpolitisch und nichts sagend wird es nicht durch die Gedanken und Assoziationen des Rezipienten aus seiner Erstarrung geweckt — erst dann ist Auseinandersetzung, ist Widerstand möglich.
Peter Weiss` in drei Bänden verfasster Roman über die Geschichte des kommunistischen Widerstands gegen den Faschismus sprengt ebenso sein Thema wie seine Form. Das Werk ist in jeder Hinsicht transzendent, grenzüberschreitend. Weiss ging es nicht nur um eine Erinnerung, sondern um eine plastische Belebung des Widerstandsgedankens, der angesichts eines der Gipfel menschlicher Gewalt — des Faschismus — von Weiss neu aufgerollt und bis in den 30jährigen Krieg zurückverfolgt wird. Doch in diese Chronik, die trotz ihrer bruchstückhaften aber durchgängigen Handlung in weiten Strecken dokumentarisch, fotografisch daherkommt, ragt schmerzlich die Ästhetik hinein. Sie ist der Stein des Sisyphos, der immer wieder den Berg hoch gerollt werden muss: Nur durch sie kann das Unfassbare, Unsagbare benannt und plastisch gemacht werden.
Weiss, der seine künstlerische Laufbahn als Maler begann, wagt sich mit diesem Werk an eine Synthese von Wort und Bild, ohne jedoch eine Illustration in die Bände zu integrieren. Seine innere Zerrissenheit zwischen der Intensität des Augenblicks (Bild) und dem „Medium kritischer Reflexion“ (Wort) ist bei Weiss mehr als eine Genreentscheidung: Es ist eine politische Entscheidung. Als er die „Ästhetik“ schrieb, die sein letztes großes Werk werden sollte, hatte Weiss schon ein bewegtes Künstlerleben hinter sich: Er begann mit der Malerei, in der er relativ unpolitisch die verborgene Immanenz von Welt und Ich und „ihre Erlösung im Bild“ suchte, er machte sich dann vertraut mit der Avantgarde (Louis Buñuel), begann zu schreiben, versuchte sich mit bewegten Bildern (Film) und verlegte sich schließlich in den 60er Jahren auf die „bilderlose“, politische Kunst. So entstanden Dokumentartheaterstücke wie „Die Ermittlung“ oder der „Vietnam Diskurs“. 1965 zeichnete Weiss sein letztes Bild. Doch dann rehabilitierte er Bilder und Ästhetik in seinem großen „Danteprojekt“, der „Ästhetik des Widerstandes“, die nach eigenen Angaben eine neue „Divina Comedia“ werden sollte: Eine Höllenwanderung auf Erden. Weiss sah nun die Bilder als „notwendiges Korrektiv“ gegen die Wörter, die zwar dokumentieren, analysieren und beschreiben, aber nie die Tiefe des Schmerzes — eben das „Unsagbare“ — darstellen können.
Die Wörter hingegen sind sein Mittel der „Verflüssigung“ der in der Bildenden Kunst erstarrten Augenblicke, des ewigen Schmerzes und des „ursprünglichen Erlebniskerns“, denn: am Anfang war das Bild. Alexander Stephan nennt das die Weiss’sche Dialektik von Leiden und Handeln: Dies sei schlussendlich die Verbindung von radikaler Theorie und bildender Kunst. So konstatiert Weiss in seiner berühmten Lessingpreisrede 1965 über Laokoon und über die Grenzen der Sprache: „Bilder begnügen sich mit dem Schmerz, Worte wollen den Ursprung des Schmerzes wissen.“ Weiss gibt mit seinem Werk nicht nur einen unvergleichlich reichen Einblick in die Geschichte des Widerstands, sondern bringt zusammen, was aufeinander angewiesen ist: die künstlerische Darstellung des Unsagbaren und die Tat. So gibt er der Politik, dem Wort, ein unverzichtbares Korrektiv gegen Dogmatismus, Kälte und ihrer naturgegebenen Ausdrucksschwäche an die Seite und der Kunst wiederum eine Sprache, um sie aus ihrer Stummheit und ihrer verdammten Apathie zu befreien. Diese Wechselwirkung gibt ein explosives Gemisch, das durch die Lektüre des großen Weiss’schen Werkes neu entdeckt werden sollte und das vor allem die LINKE mit ihrem ambivalenten kulturpolitischen Erbe zum Nachdenken anregen und zu mehr Mut für Kunst ermuntern sollte. Der ältere Sohn des Laokoon könnte dafür ein gutes Symbol für den Aufbruch abgeben, sich von althergebrachten Fesseln zu befreien und den künstlerischen Aufschrei zuzulassen.
Zu bedenken ist aber, dass die Schlangen nicht nur übers Wasser, sondern auch vom Land her kommen können.
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