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Die Neuaushandlung von Bewegungsfreiheit und Grenzregimen
Die EU-Migrations- und Grenzpolitik ist unter dem Eindruck der enormen Flüchtlingsbewegungen dieses Sommers gescheitert. Tausende Flüchtlinge haben sich – kollektiv – einen Weg in die kerneuropäischen Länder gebahnt, die sich während der letzten drei Jahrzehnte hinter einer Reihe militärisch-technologischer (Frontex), digitaler (Eurodac, SIS), sozialer und infrastruktureller (Lager, Arbeitsverbot) Maßnahmen und Hürden gut abgeschirmt wähnten.[1] Trotz eines mehrstufigen, bis nach Afrika reichenden Grenzregimes, des konkreten Auf- und Ausbaus materieller Grenzanlagen und Zäune[2] und eines zunehmend militarisierten Kampfes gegen die Migrationsbewegungen im Mittelmeer sind mittlerweile Hunderttausende Flüchtlinge unterwegs und fordern damit ihr Recht auf sicheren und freien Grenzübertritt sowie Aufnahme in Europa ein.
Diese Entwicklung zeichnete sich schon seit Jahren ab: Der Versuch, eine Technologie der Migrationskontrolle zu errichten, ignorierte die Eigengesetzlichkeit, die Intensität und das spontane Begehren, welches in der Migration – wie in jeder anderen sozialen Bewegung – zum Ausdruck kommt, und die sie damit gleichzeitig zu einer politischen Bewegung machen. Mit dem Scheitern des Grenzregimes ist die Politik des Sozialen, der Rechte und der Zugehörigkeit im Herzen des Europas der Austerität angekommen.
Während die aktuelle Situation in der politischen Notstandsrhetorik als unglücklicher Unfall erscheint, der durch altbekannte Maßnahmen der Verschärfung und Abschreckung[3] gekittet werden soll, ist aus grenzwissenschaftlicher Perspektive festzustellen, dass diese Regulationslogik auch weiterhin grundsätzlich zum Scheitern verurteilt ist. Die derzeitige Krise resultiert aus dem neoliberalen Spagat zwischen freier Mobilität im europäischen Wirtschaftsraum und dem Fortbestand nationaler gesellschaftlicher Ordnungen im Bezug auf die Bevölkerung. Die nahezu vollständige Aufhebung nationalstaatlicher Grenzkontrollen im Binnenraum der EU wird in Schengen-Europa durch den Ausbau der Außengrenzen „kompensiert“.
Die sinkenden Flüchtlingszahlen in Deutschland Mitte der 2000er Jahre erschienen daher als Erfolg der Politik und nährten den Glauben, dass die weltweiten Flucht- und Migrationsbewegungen am Rande Europas gestoppt werden könnten.
Doch in den letzten Jahren hat sich das Gefüge des Grenzregimes massiv verschoben. Einerseits kam es zu einer zunehmenden Verrechtlichung der Außengrenze. Weitreichende Urteile des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte haben sowohl europäische Abschreckungslogiken als auch die Dublin-Fiktion eines homogenen europäischen Raums des Schutzes unterminiert. Auch die neue Sichtbarkeit der Kämpfe von Geflüchteten in den letzten Jahren sowie eine breiter angelegte gesellschaftliche Einsicht, Einwanderungsgesellschaft zu sein und nach Jahrzehnten der Ausgrenzung nun eine „Willkommenskultur“ etablieren zu wollen, haben sich in der Gesellschaft niedergeschlagen.
Die derzeitige Krisenkonstellation steht dabei im Zusammenhang mit den Aufständen des Arabischen Frühlings. Der brutale syrische Bürgerkrieg geht mittlerweile in sein viertes Jahr. Mehr als die Hälfte der syrischen Bevölkerung, 22 MillionenMenschen, sind mittlerweile auf der Flucht. Die EU zielte dabei lange Zeit auf eine regionale Containment-Politik. Doch die Erfahrung des Aufstands und die Einforderung von Demokratie werden dieser Tage auch in den kollektiven Handlungen der syrischen Flüchtlinge in Europa sichtbar. Wie bereits bei der Migration tausender tunesischer junger Männer im Jahr 2011 nach der erfolgreichen Revolution stellen diese einen zweiten demokratischen Aufbruch dar. Als Beispiel sei nur der Fußmarsch vieler Tausender Flüchtlinge genannt, der am 4. September vom Budapester Ostbahnhof (Keleti) seinen Anfang nahm mit dem Ziel, bis nach Österreich zu gelangen. Dieser kollektive Akt der Mobilität erzeugte letztendlich den politischen Druck, der zur Öffnung der österreichischen und deutschen Grenzen führte, und in dessen Zuge in den nächsten Wochen zehntausende Flüchtlinge Deutschland erreichten. Diese mobilen politischen Strukturen bauen auf den digitalen und sozialen Netzwerkstrukturen der syrischen Oppositionsbewegung auf.[4]
Die zweite Konsequenz aus den Aufständen des arabischen Frühlings war der Zusammenbruch des europäischen Grenzregimes im Mittelmeer. Das Projekt der Externalisierung, also der Einbeziehung von Drittstaaten in die Migrationskontrolle und die Vorverlagerung der Grenze, fiel im Sommer 2011 in sich zusammen. Der Europäischen Union kamen aufgrund der demokratischen Aufstände ihre diktatorischen Kooperationspartner im Mittelmeerraum abhanden. Auch die Türkei blieb trotz kontinuierlicher Gespräche im Rahmen der Vorbeitrittsverhandlungen zur EU als Grenzwächter ein unsicherer Kandidat, auch wenn sie diese Tage verstärkt umworben wird.
Was sich vor unseren Augen gerade abspielt, ist eine Entwicklung, die auf das Scheitern der zentralen Logiken der europäischen Migrationspolitik verweist. Anstatt die aktuellen krisenhaften Entwicklungen jedoch als Chance zu begreifen, inne zu halten und das migrationspolitische System auf den Prüfstand zu stellen, wird in die gleiche alte Schublade gegriffen und wieder auf Abschottung und Abschreckung gesetzt.[5] Notwendig wäre jetzt jedoch ein politischer Kurswechsel, der die Ankünfte der Flüchtlinge in Europa als Chance begreift, ein neues europäisches Projekt von unten zu initiieren und ein neues Modell von Zugehörigkeit und Teilhabe zu formulieren. Die neue Aktualität schon lange drängender sozialer Fragen wie etwa sozialer Wohnungsbau, medizinische Versorgung und Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt stellt eine Chance dar, einen post-nationalen und post-kolonialen Entwurf von BürgerInnenschaft und sozialer Grundsicherung zu entwickeln, der eine Alternative darstellt zur falschen Dichotomie zwischen einem europäischen Projekt von oben, das auf Zentralisierung und fortgesetzter Neoliberalisierung setzt, und der drohenden Re-Nationalisierung Europas. Die aktive Willkommenskultur, die in den letzten Wochen in ganz Europa sichtbar geworden ist, zeigt, dass ein solcher Entwurf schon längst eine gelebte europäische Praxis ist.
Sabine Hess ist Professorin am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Ihre Schwerpunkte sind Gender- und Gouvernementalitäts-Studien sowie kritische Grenzregimeforschung.
Bernd Kasparek ist Mathematiker und Ethnologe. Er promoviert über europäische Grenz- und Migrationsregimes. Bernd Kasparek ist aktiv im Netzwerk kritische Migrations – und Grenzregimeforschung und engagiert sich in der der Forschungsassoziation bordermonitoring.eu.
[1] Vgl. hierzu: Hess, Sabine; Kasparek, Bernd (Hrsg.): Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa, Berlin 2010.
[2] Beispielsweise um die spanischen Enklaven Ceuta und Mellila in Marokko, oder entlang der Landesgrenzen zwischen Griechenland und der Türkei, bzw. zwischen Bulgarien und der Türkei.
[3] Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes (Drucksache 446/15), 29.09.2015.
[4] Vgl. hierzu: Kasparek, Bernd; Speer, Marc: Of Hope. Ungarn und der lange Sommer der Migration, in: bordermonitoring.eu. Politiken, Praktiken, Ereignisse an den Grenzen Europas, 07.09.2015. [Zuletzt abgerufen am 09. 10. 2015]
[5] Vgl. hierzu: Rat für Migration: Stellungnahme des „Rats für Migration“ (RfM) zur geplanten Asylrechts-Reform der Bundesregierung, in: mediendienst-intergration.de, 29.09.2015. [Zuletzt abgerufen am 09. 10. 2015]
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