This is a movement
Die Neuaushandlung von Bewegungsfreiheit und Grenzregimen
Eine der Erkenntnisse des „Sommers der Migration“ ist, dass gesetzliche Vorschriften und staatliche Kontrolle relative Kategorien sind. Die hunderttausende Flüchtlinge, die in den vergangenen Monaten aus den Kriegsgebieten des Nahen und Mittleren Ostens nach Europa aufgebrochen sind, haben das Migrationsregime der Europäischen Union de facto außer Kraft gesetzt. Die Kontrolle der Außengrenzen der Schengen-Staaten hat sich operativ als unmöglich erwiesen. Auch die Dublin-Verordnungen, denen zufolge Asylanträge im ersten EU-Ankunftsland gestellt werden müssen, konnten nicht durchgesetzt werden. Die Entschlossenheit der Flüchtlinge, eine Lebensperspektive im Zentrum Europas zu suchen, hat sich für einige Monate gegen staatliche Regulation und Repression durchgesetzt.
Trotz der überraschenden Willkommensgesten von Bundeskanzlerin Angela Merkel war allerdings bereits im Frühjahr voraussehbar, dass der vorübergehende Kontrollverlust zu einer Verschärfung des Grenzregimes der EU führen würde. Vor allem in den Ländern der Visegrad-Gruppe (Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen) sorgte bereits im Frühsommer nur der Transit der Flüchtlinge für eine wahre nationale Mobilmachung. Polizei, Militär und sogar Bürgerwehren wurden zur Grenzsicherung in Marsch gesetzt. Medien und Politik feuerten sie an. Ungarn schottete seine Grenze nach Serbien und Kroatien mit einem eilig errichteten Zaun ab. Auch in den anderen EU-Staaten wachsen rassistische und nationalistische Ressentiments und Mobilisierungen. PEGIDA ist ein europäisches Phänomen.
Spätestens mit der Verabschiedung der euphemistisch „Asylpaket“ genannten Restriktionen am 15. Oktober im Deutschen Bundestag haben sich auch in der Bundesregierung die Anhänger der Flüchtlingsabwehr durchgesetzt. Ein ganzes Set von Maßnahmen, die vor allem abschreckend wirken sollen, möchte man nun ergreifen: Dazu zählen Verschärfungen bei Abschiebungen. Sozialleistungen sollen verstärkt in Sachleistungen statt in Bargeld ausgegeben werden. Die Gesundheitsversorgung wird unter das Hartz-IV-Niveau gesenkt. Abgelehnte Asylbewerber, die sich einer Ausreise verweigern, sollen gar keine Sozialleistungen mehr erhalten. Gleichzeitig wird über die Einrichtung von „Transitzonen“ an den deutschen Grenzen diskutiert, in denen Asylverfahren noch vor der Einreise abgeschlossen werden sollen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière bezeichnete das Asylpaket als „größte und umfassendste Änderung des Asylrechts seit den 1990er Jahren“.
Einen besonderen Stellenwert in der Diskussion um die Begrenzung haben die Flüchtlinge aus dem „Westbalkan“ – so werden seit einiger Zeit die Länder Südosteuropas genannt, die noch nicht Mitglied der EU geworden sind. Wie PolitikerInnen und ExpterInnen immer wieder hervorheben, kommt eine große Anzahl der AsylbewerberInnen aus dieser Region. Tatsächlich verzeichnete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Jahr 2014 unter den zehn Hauptherkunftsländern für Asylerstanträge mit Serbien (Rang 2), Albanien (Rang 5), Kosovo (Rang 6), Bosnien und Herzegowina (Rang 7) und Mazedonien (Rang 8) fünf „Westbalkanstaaten“. Insgesamt handelte es sich um knapp 63.000 Menschen.[1]Im Zeitraum vom Januar bis September 2015 lag die Gesamtzahl der Asylerstanträge aus diesen Ländern sogar bei etwa 100.000 Menschen.[2]
Während die Legitimität der Fluchtgründe bei den Kriegsflüchtlingen aus Syrien, Irak oder Afghanistan kaum angezweifelt wird, sieht es bei den Menschen aus dem „Westbalkan“ ganz anders aus. Die Anerkennungsquote der Asylanträge von Menschen aus dieser Region lag in 2014 bei lediglich 0,4 Prozent. Nicht nur in der Praxis der Asylgewährung, sondern auch im öffentlichen Diskurs hat sich weitgehend durchgesetzt, dass es bei ihnen eigentlich nur um „Wirtschaftsflüchtlinge“ handeln könne.
Zur argumentativen Unterstützung für die generalisierte Abwertung der Flüchtlinge aus dem „Westbalkan „nutzt die Bundesregierung die Kategorie der „sicheren Herkunftsstaaten“, die inzwischen für alle Staaten der Region eingeführt wurde.[3] Nach § 29a AsylVfG handelt es sich dabei um „Staaten, bei denen aufgrund der allgemeinen politischen Verhältnisse die gesetzliche Vermutung besteht, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet.“
Diese „Vermutung“ gilt für alle Mitgliedstaaten der EU sowie eben auch für die EU-Beitrittskandidaten (Albanien und Mazedonien) oder Länder, die EU-Beitrittsverhandlungen führen (Serbien und Montenegro). Und auch in Kosovo und Bosnien-Herzegowina kann nach Ansicht der Bundesregierung die Lage nicht so schlimm sein – immerhin handelt es sich um internationale Protektorate mit Aussicht auf EU-Integration.
In der Realität zeigt sich allerdings ein anderes Bild. Die Qualifizierung der „Westbalkanstaaten“ als „sichere Herkunftsstaaten“ verweist auf den fundamentalen Widerspruch des EU-Integrationsprozesses der Region – die Kluft zwischen normativem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit.
Seit dem Ende der Kriege im ehemaligen Jugoslawien 1999 wurden tatsächlich erhebliche Fortschritte erzielt. Normativ und deklarativ herrschen überall Rechtsstaat und Demokratie. Die gesetzlichen Bestimmungen zum Minderheitenschutz sind auf dem Papier sogar oft besser als in Westeuropa. Doch die gesellschaftliche Realität ist gezeichnet durch brutalen Machtmissbrauch der wirtschaftlichen und politischen Eliten, oftmals dysfunktionale staatliche Institutionen, extreme soziale Ungleichheit, eine massenhafte Verarmung und einer Durchsetzung ethnonationaler Ideologie. Viele BürgerInnen sehen einen Ausweg nur durch die Auswanderung.
In einem umfassenden Gutachten zur Einschätzung der Lage in Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien kommt Pro Asyl zum Schluss, dass selbst auf der Grundlage der offiziellen Einschätzungen der EU-Kommission und des US-Außenministeriums „eine Einstufung der Westbalkanstaaten unter rechtlichen Gesichtspunkten wie unter der Berücksichtigung der herrschenden menschenrechtlichen Realitäten in diesen Staaten nicht zu rechtfertigen ist.“[4]
Die Misere zeigt sich am besten am Beispiel der Roma, die einen großen Anteil der Asylsuchenden ausmachen. Fast überall werden sie als BürgerInnen zweiter Klasse behandelt. Die Diskriminierung ist die Folge eines umfassenden sozialen Ausschlusses aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit. Es reicht, eine dunklere Hautfarbe zu haben, um bei der Einschulung, der Wohnungssuche und der Arbeitssuche diskriminiert zu werden. Das Leben in den Roma-Slums ist unmenschlich und erniedrigend. Und was in der deutschen Debatte über die Roma oft vergessen wird: Viele Roma sind nach wie vor Kriegsflüchtlinge. Allein aus dem Kosovo sind während des Krieges 1999 mindestens 80.000 Roma geflohen. Sie waren Opfer albanischer Nationalisten und wurden von der Nato nicht beschützt. Nur wenige Roma-Familiensind seither in das Kosovo zurückgekehrt.
Wie untauglich der Begriff der „sicheren Herkunftsstaaten“ ist, zeigt vor allem auch das Vorgehen gegenüber der Türkei. Auch in diesem Fall koppeln CSU-Politiker wie Manfred Weber, Fraktionschef der Europäischen Volkspartei im Europaparlament, oder auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Bewertung der menschenrechtlichen Lage an die Tatsache, dass mit der Türkei schon seit 2005 EU-Beitrittsverhandlungen geführt werden. Solange dies so sei, müsse die Türkei als „sicherer Herkunftsstaat“ gelten, erklärte Weberanlässlich eines Besuches des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan Anfang Oktober 2015 in Brüssel. Das war nur wenige Tage vor dem Massaker an einer Friedensdemonstration in Ankara am 10. Oktober, bei der über hundert Menschen starben.
Boris Kanzleiter ist Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung für Südost Europa in Belgrad.
[1] Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Migrationsprofil Westbalkan. Ursachen, Herausforderungen und Lösungsansätze (Working Paper 63) 2015.www.bamf.de
[2] Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Aktuelle Zahlen zu Asyl. Ausgabe September 2015. www.bamf.de
[3] Bosnien-Herzegowina, Serbien und Mazedonien gelten bereits seit 2014 als „Sichere Herkunftsstaaten“. Kosovo, Albanien und Montenegro seit Oktober 2015.
[4] Pro Asyl: Serbien, Mazedonien und Bosnien und Herzegowina: Zur faktischen und rechtlichen Bewertung des Gesetzgebungsvorhabens der Großen Koalition zur Einstufung von Westbalkanstaaten als „sichere Herkunftsstaaten“, April 2014. http://www.proasyl.de/
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