In DIE LINKE wird aktuell ein Papier der ostdeutschen Landtagsfraktionen zur Reform des Einwanderungsrechts diskutiert. Eine Podiumsdiskussion dazu haben wir hier dokumentiert. Auch die Genoss*innen von Marx21 greifen die Diskussion auf. Sie starteten mit einem Diskussionsbeitrag von Susanne Hennig-Wellsow und einem von Jules El-Khatib. Auf der Seite der akl ist darüber hinaus ebenfalls ein Beitrag von Ianka Pigors erschiene. Ein Kommentar zum Stand der Debatte.
Eine Linke, die für Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit und eine solidarische Transformation streitet, muss sich zwangsläufig auch zum Faktum der Migration verhalten. Durch die wachsende globale Ungleichheit ist der Lebensort mittlerweile signifikantester Indikator für die Höhe des Einkommens eines Menschen — entscheidender noch als Klassenzugehörigkeit. In liberalen kapitalistischen Gesellschaften wiederum eröffnen und begrenzen Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatus wie kaum ein anderes Kriterium den Zugang zu bürgerlichen Freiheitsrechten, in Sozialstaaten limitieren sie zudem auch den Zugang zu grundlegenden sozialen Rechten. Dem entsprechend stellen Migrationsbewegungen die seit Entstehung von Nationalstaaten und ihrer Grenzregime virulenten Fragen in neuer Dringlichkeit: Mit welchem Recht schließen demokratische Staaten Menschen vom Aufenthalt auf Ihrem Territorium aus? Und: Welche Rechte sollten Sie im Land lebenden Menschen mit „fremden“ Staatsbürgerschaften gewähren müssen?
Für die politische Rechte aller Schattierungen im Bündnis mit großen Teilen des politischen (Neo)Liberalismus ist dabei das „Recht auf gewaltsamen Ausschluss“ und das „Recht auf Verweigerung sozialer Rechte“ dabei vorausgesetzt. Ausnahmen werden, wenn überhaupt, als Gnadenrechte gewährt, die nach „nationalem“ oder „ökonomischem Interesse“ jederzeit wieder entzogen werden können. DIE LINKE ist die einzige Partei, die in dieser Frage einen grundlegend anderen Zugang hat.
Aufweichung durch Auslegung
In dem verschärften Kulturkampf von rechts geraten aber auch manche Formelkompromisse im Programm von DIE LINKE unter Beschuss. Die richtige Forderung nach „offenen Grenzen” bzw. „offenen Grenzen für Menschen in Not” sind wie jede gute Kompromissformel deutungsoffen. In konkreten Auseinandersetzungen müssen aber positive Forderungen inhaltlich gefüllt werden, sonst werden sie zu Leerformeln. Das kann man derzeit erleben. So interpretiert Sahra Wagenknecht die Forderung nach offenen Grenzen als eine „Vision für eine Welt, in der alle Menschen in Wohlstand leben”, während Gregor Gysi sie ebenfalls restriktiv lediglich als Gewährung von „Reisefreiheit” auslegt. Beides sind mögliche Deutungen, allerdings beide am eher unteren Rand des Spektrums vorstellbarer Interpretationen. Einige, die damals für das Programms votierten, hatten dabei sicher anderes vor Augen.
Kämpfe um Migration auf Höhe der Zeit
Es verdankt sich einer Arbeitsgruppe, die im Auftrag der ostdeutschen Landtagsfraktionen eine „Konzeption einer linken Flüchtlings- und Einwanderungsgesetzgebung” entwickelt hat, die das Recht auf globale Bewegungsfreiheit aller Menschen ernst nimmt und in Forderungen für die konkret stattfindenden Auseinandersetzungen um positives Recht übersetzt. In den Begründungen weisen sie dabei gedanklich jedoch weit über den engen Rahmen positivrechtlicher Reglungen hinaus. Die Forderung nach offenen Grenzen interpretieren sie anders als die benannten restriktiven Auslegungen als Aufforderung, die Logik der geltenden Aufenthaltsrechts vom Kopf auf die Füße zu stellen. Bisher geht das Aufenthaltsrecht wie skizziert von einem „Recht auf Ausschluss” mit an Nützlichkeitserwägungen orientierten Ausnahmetatbeständen aus. Der Entwurf der Arbeitsgruppe dreht diese Logik um. Die Ausschlüsse, nicht das Begehr der Einreise, ist legitimierungs- und begründungspflichtig. Die Verweigerung der Einreise wird im Entwurf auf wenige, einleuchtende Ausschlusstatbestände beschränkt. So kann die Einreise verweigert werden, wenn ihr Zweck Spionage oder die Begehung von Straftaten ist. Gleiches gilt, wenn Einreisewillige Waffen oder Sprengstoff bei sich führen oder für Kriegsverbrechen verantwortlich sind.
Darüber hinaus führt der Entwurf die Wiederherstellung des Grundrechts auf Asyl aus und expliziert den Zugang zu sozialen Rechten für dauerhaft im Land Lebende.
Konservative Revolutionär*innen?
Erfreulich ist, dass alle bisherigen Reaktionen die flügelübergreifende Einigkeit illustrieren, dass das Grundrecht auf Asyl wiederhergestellt werden muss. In anderer Hinsicht überraschen jedoch einige der Reaktionen auf den Diskussionsaufschlag. Sowohl in den Diskussionsbeiträgen von Jules El-Khatib (Marx21) und dem von Ianka Pigors (SAV bzw. Antikapitalistische Linke) wird z.T. mit Scheinplausibilitäten ein in der Konsequenz deutlich restriktiverer Vorschlag für die migrationspolitische Positionierung von DIE LINKE befürwortet.
Pigors Behauptung, das Konzept lege „den Schluss nahe, selbst DIE LINKE hätte erkannt, dass Zuwanderungsbegrenzung eine zentrale Aufgabe der heutigen Politik sei”, wirft zunächst vor allem die Frage auf, welchen Text sie eigentlich gelesen hat. Den Vorwurf scheint sie zum Glück selbst nicht besonders ernst zu nehmen. Im Widerspruch zum behaupteten „Einfallstor für rot-rot-grünen Regierungsträume“ kategorisiert sie den Text als „fantastische, utopische Literatur […] in der wenig populären Form eines juristischen Textes“.
Plausibler scheint Pigors Einschätzung, dass „die gesellschaftliche Stimmung […] zurzeit keineswegs so [sei], dass der Gesetzentwurf sofort breite Zustimmung erhalten würde”. Nur: Welche Positionen können linke MandatsträgerInnen in Mittelsachsen, Südwest-Mecklenburg oder im pietistischen Bible Belt Schwabens dann überhaupt derzeit noch vertreten? Dass „die Kräfteverhältnisse im Bundestag” ausschließen, „dass ein dem Entwurf entsprechendes Gesetz dort eine Mehrheit finden könnte”, trifft schließlich für viele linke Forderungen zu. Nur ist das vor allem ein Argument dafür, mit guten Konzepten und gemeinsam mit sozialen Bewegungen für neue linke Mehrheiten in der Gesellschaft und in den Parlamenten zu ringen. Noch vor einer inhaltlichen Positionsbestimmung auf mögliche parlamentarische Mehrheiten zu schielen, ist dabei eher hinderlich.
Vorwärts im Rückwärtsgang?
Was Pigors und El-Khatib als Gegenvorschlag zum Konzept anbringen, ist trotz des scheinradikalen Gestus‘ eher restriktiv. So ergäbe sich laut El-Khatib „ein ziemlich konkretes Bild, wie ‚Bewegungsfreiheit, soziale Sicherheit, Gleichstellung und Teilhabe‘ erreicht werden können” aus bisherigen Forderungen. „DIE LINKE hat als einzige Partei gegen die Asylrechtsverschärfung gestimmt und fordert die Wiederherstellung des Asylrechts. Sie fordert, alle benachteiligenden Regelungen und Gesetze aufzuheben, wie das Asylbewerberleistungsgesetz, die Residenzpflicht und Arbeitsverbote für Geflüchtete.”
Auch Pigors fokussiert sich auf asylrechtliche Forderungen. Nun ist dies alles vollkommen richtig. So richtig, dass es in jedem einzelnen Punkt in der „Konzeption einer linken Flüchtlings- und Einwanderungsgesetzgebung” festgehalten ist. Da beide, Pigors wie El-Khatib aber keinen darüber hinausgehenden Vorschlag machen, den vorliegenden aber rundweg ablehnen, kann man schließen, dass sie DIE LINKE auf eine rein defensive Politik festlegen wollen, die sich ausschließlich gegen die vielfältigen seit 1993 erlassenen repressiven Gesetze in der Asyl- und Flüchtlingspolitik wendet. Nun war die bundesrepublikanische Migrationspolitik auch vor der faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl nicht auf transnationale Bewegungsfreiheit ausgerichtet. Die politischen Eliten der Bundesrepublik behaupteten im Gegenteil bis Anfang dieses Jahrhunderts kontrafaktisch Deutschland sei kein Einwanderungsland. All jene, die migrierten ohne Verfolgung geltend machen zu können oder bis zum Anwerbestopp 1973 als ausländische VertragsarbeitnehmerInnen einreisten, waren auch damals gezwungen, in der Illegalisierung zu leben, falsche Fluchtgründe vorzugeben oder Zweckehen zu schließen. All dies geschah immer unter dem Damoklesschwert von Entdeckung und Ausweisung. Die Forderung nach Wiederherstellung des Asylrechts ist also richtig. Sie bleibt aber eine konservative Forderung, die nicht über einen sehr unbefriedigenden Status quo ante hinausweist. Selbst Konservative und Liberale haben mittlerweile eingesehen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Die progressive Linke hat lange dafür gestritten, dass dies endlich allgemein anerkannt wird. DIE LINKE sollte dahinter nicht zurückfallen und weiterhin engagiert für gleiche Rechte von Einwandernden genauso wie für das Recht auf legale Einwanderung streiten.
Schattenboxen gegen Strohpuppen
El-Khatib und Pigors arbeiten in Ihrer Ablehnung des Konzepts auch mit irreführenden Argumenten. So behauptet ersterer, dass „im gutgemeinten Versuch, Rechte auszuformulieren, […] gesetzliche Restriktionen entwickelt” würden. Er meint fälschlich, dass sich die eingangs genannten Tatbestände, welche gegen eine legale Einreise sprechen z.B. in der Türkei verfolgte kurdische Aktivisten anwenden ließen. Einziger Schönheitsfehler, das von ihm gewählte Beispiel beweist genau das nicht.[1]
Pigors wiederum bemängelt, dass in dem Konzept nicht alle Finanzierungsfragen detailliert besprochen würden. Dies sei aber nötig, weil „mehr Zuwanderung” bedeute, „dass die bestehenden Ressourcen innerhalb der Arbeiterklasse auf mehr Menschen verteilt werden.” Damit bemüht sie ein Propagandabild der Rechten, das den Sozialstaat als Kuchen versteht, bei dem jede weitere Person das Kuchenstück der Bedürftigen verkleinert. Die Feststellung der Arbeitsgruppe, dass die Beiträge an Steuern und Sozialabgaben von MigrantInnen saldiert höher sind, als die Inanspruchnahme von Sozialleistungen, ignoriert Pigors. Sie knüpft dabei direkt an Debatten an, die Migration faktenwidrig als „Einwanderung in die Sozialsysteme“ und Migrant*innen als volkswirtschaftliche Kostenfaktoren behandelt.
Die Frage nach dem Recht auf Bewegungsfreiheit mit einem falschen Kosten-Argument abzuwürgen, wirkt dabei (vermutlich ungewollt) wie ein Heranrutschen an den rechten Alltagsverstand. Dieser lässt sich aber auch durch eine Erwähnung der linken Forderung nach progressiver Besteuerung von Kapitaleinkommen nicht besänftigen, so richtig diese auch ist. Wer in politischen Debatten den Sozialstaat als Kuchen versteht, will in der Regel nicht über die Bereitstellung der Zutaten diskutieren, sondern darüber, wer gefälligst nichts abbekommen soll.
Mehr Mut zur Solidarität statt German Angst!
Statt wie gebannt auf diese bewusst gestreuten „Ängste und Sorgen“ zu schauen, wäre es sinnvoll ein Angebot an all jenen zu unterbreiten, die noch unentschieden sind. Die rassistischen Kampagnen der Rechten von NPD bis CSU werden schließlich mit einem Dauerfeuer von Metaphern der Regellosigkeit und der Katastrophenhaftigkeit von Migration geführt.
Dem Konzepte entgegenzustellen, welche eine Verrechtlichung und Legalisierung von weitgehender Freizügigkeit plausibilisieren und an einen eben auch vorhandenen progressiven Alltagsverstand anknüpfen, ist Aufgabe einer progressiven Linken. So ist mittlerweile die prinzipielle Bewegungsfreiheit innerhalb Europas weitgehend akzeptiert. Die uneingelöste Forderung nach sozialen und arbeitsrechtlichen europäischen Standards wird ebenfalls gesellschaftlich breit geteilt. Dies als Ausgangspunkt in anstehenden Debatten nicht für darüber hinaus weisende Vorschläge zu verwenden, ist fahrlässig.
Eine defensive Position, welche die Rücknahme der migrationspolitischen Grausamkeiten der letzten Jahrzehnte fordert, ist absolut notwendig. Aber sie genügt nicht. Ein Zurückfallen hinter die Erkenntnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland war und ist, stellt sogar die bestehenden Errungenschaften der Kämpfe um Migration in Frage. Rechte lassen sich nicht im Rückwärtsgang verteidigen und Erfolge nur im Vorwärtsgang errungen. Oder anders: Die beste Verteidigung ist ein guter Angriff.
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Fußnoten:
[1] Im Konzept heißt es dazu ganz klar: Die legale Einreise ist mit Ausnahme von Einreisen zur Asylantragstellung ausgeschlossen bei Tatsachen, die die Annahme rechtfertigen, dass die Einreise dem Zweck der Spionage oder der Begehung einer Straftat dienen soll. Der Entwurf benennt also die Suche nach Schutz vor politischer Verfolgung explizit als Ausnahme. Zudem ist die Forderung der Aufhebung des PKK-Verbots eine über alle Flügel hinweg geteilte Position in DIE LINKE.