So nicht!
Demokratie als Praxis
Es begann mit der allerersten Amtshandlung: Als der neue griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras direkt nach seiner Vereidigung einen Kranz am Mahnmal für die Widerstandskämpfer gegen den Faschismus niederlegte, da werteten deutsche Medien das als Affront gegen Deutschland, denn schließlich war dieser Widerstand gegen die hitlerdeutschen Besatzer gerichtet. Tsipras' Leute erklärten die Geste anders: Als Zeichen gegen die Nazis der Goldenen Morgenröte, die ins griechische Parlament eingezogen waren. Diese Erklärung muss nicht stimmen, oder es kann an beiden etwas dran sein, das wird wohl nie wirklich geklärt werden können. In Deutschland muss es das aber auch gar nicht: Hier war ohnehin nur eine Erklärung zu lesen. Die Interpretation wird hier gleich zur Tatsache.
Das griechische diplomatische Corps, das der SYRIZA-Regierung sicher nicht nahe steht, rauft sich seit Wochen die Haare, weil plötzlich selbst einfachste Fragen nicht mehr gestellt werden, oder die Antworten nicht durchdringen. So habe Tsipras als erste Gäste die Botschafter Russlands und Chinas empfangen. Das wurde als ein deutliches Zeichen an die EU interpretiert. Gleichzeitig erklärten Mitarbeiter des Protokollstabs auch ehemaliger griechischer Ministerpräsidenten, das sei schon oft so gewesen, denn anders als zum Beispiel die EU-Partner untereinander gratulieren Russland und China eben per überbrachtem Schriftsatz. Der erste ausländische Anrufer, der durchgestellt wurde, sei im übrigen Präsident Obama gewesen. Aber anstatt sich mit möglicherweise versöhnlichen Erklärungen aufzuhalten, war man in deutschen Redaktionen schon dabei, die nächste Konfrontation entlang der eingeschlagenen Linie zu konstruieren: Der neue griechische Außenminister Koitzas verwahrte sich dagegen, dass EU-Positionen zu Russland-Sanktionen als einstimmig beschlossen verkündet werden, bevor er zugestimmt habe. So direkt nach der Amtsübernahme mag er überempfindlich reagiert haben, aber das war nicht das Thema in den Medien: Dort war man längst damit beschäftigt, Griechenlands Drohung mit einem „Nein“ zu den Russland-Sanktionen zu verurteilen — eine Drohung, die es auch unausgesprochen nie gegeben hat.
Für mich, der ich mit 40 Jahren genau so alt bin wie die junge Hellenische Republik, verbindet sich wie für viele Griechen meiner Generation die Hoffnung auf echte Veränderung hin zu einem modernen Griechenland, das transparent und frei von Klientelismus ist, das Korruption bekämpft, Steuergerechtigkeit herstellt und dessen Wirtschaft stark genug ist, damit Menschen ihre Arbeitskraft einbringen können und das Land seine internationalen Verpflichtungen erfüllen kann. Ich bin einigermaßen stolz, dass das Land einen demokratischen Weg gefunden hat nach den Jahren des technokratisch durchregierten Ausnahmezustands, in dem es schon ausweglos schien, dass Wählen in Europa noch einmal etwas verändern würden. Was mich aber vor allem anderen beeindruckt ist der Mut der Regierung Tsipras, die Wahrheit zu sagen, auch wenn das bedeutet, den schwierigeren Weg zu gehen.
Leider bedeutet es auch, dass noch nie in meiner Erinnerung eine Regierung so oft falsch zitiert oder dargestellt wurde wie diese. Manchmal offensichtlich in böser Absicht, wie bei dem Kommentar des Historikers Thomas Weber für die WELT, der geradezu groteske Verdrehungen von Fakten präsentiert, um vor allem dem griechischen Finanzminister Varoufakis Judenhass zu unterstellen (ein Argument: Varoufakis verehrt den österreichischen Sozialdemokraten Bruno Kreisky. Der war zwar selbst Jude, aber kein Zionist. Und überhaupt, Varoufakis: Ein Interview-Schnipsel machte die Runde, in dem er Deutschland zu erpressen schien: „Was immer Deutschland sagt, am Ende zahlen sie immer.“ Hundertfach ging der durch deutsche Medien und fand natürlich Eingang in die politische Diskussion. Dabei sagt Varoufakis im Interview das Gegenteil. Frei übersetzt: „Deutschland hört leider nicht auf, statt nach einer bessere Lösung zu suchen, Geld in ein schwarzes Loch zu werfen.“ Aber selbst nach einer Klarstellung von Varoufakis verbreitete sich das falsche Zitat weiter. Für jeden, der sich mehr als zwei Minuten mit den Thesen Varoufakis' aus den letzten Wochen oder Jahren beschäftigt, muss völlig klar sein, dass dieses Zitat so wie es genutzt wurde, nicht in sein Denken passt. Insofern kann man vielleicht nicht jedem Journalisten, der es verbreitete, gleich böse Absicht unterstellen. Man muss aber festhalten, dass Journalisten bereit sind, Menschen hauptberuflich über Aspekte der Weltlage aufzuklären, mit denen sie sich selbst sich nicht länger als zwei Minuten beschäftigt haben. Viel besser als böser Wille ist das am Ende auch nicht, wenn im Ergebnis das Gleiche rauskommt: das fahrlässige Töten von Informationen statt dem vorsätzlichen Mord.
Es gab also Gründe, sich verzweifelt die Haare zu raufen ob der Berichterstattung auch in so genannten deutschen Qualitätsmedien. In anderen Zusammenhängen wäre es lustig, wie oft Varoufakis falsch zitiert wurde, um dann hinterher — nachdem er es richtig stellte — mit der Behauptung konfrontiert zu sein, er „rudere zurück“. Tatsächlich lustig sind die Nachrichten-Videos einer Antonia Schäfer auf focus.de, in denen sie zum Beispiel weltexklusiv verkünden konnte, Griechenlands Finanzminister wolle den Austritt seines Landes aus dem Euro. Der Satz wurde später herausgeschnitten. Es sagt wahrscheinlich alles über den Journalismus bei Focus, dass der Rest des Textes zwar einiger Bezüge beraubt ist, aber im Rahmen der dort stattfindenden gesellschaftlichen Aufklärung immer noch funktioniert. Euro-Austritt ja oder nein, das macht dann jetzt auch nichts mehr aus. Die Meinung über „die Griechen“ steht so oder so. Und ich brauche die BILD-Zeitung nicht einmal zu erwähnen.
Michalis Pantelouris ist gelernter Journalist und lebt in Hamburg. Hauptberuflich beschäftigt er sich zwar derzeit mit ganz anderem, nämlich mit Olivenöl. Nebenbei betreibt er einen ganz zauberhaften Blog.
Zum Nachlesen:
http://misik.at/2015/02/wie-die-springer-presse-yanis-varoufakis-zum-judenfeind-macht
http://www.bildblog.de/62651/im-zweifel-gegen-den-griechen
http://www.focus.de/finanzen/videos/streit-um-schuldenschnitt-dirty-grexit-warum-euro-schreck-tsipras-seinen-kurs-bereuen-wird_id_4448300.html
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Von wegen „schönste Nebensache“ der Welt. Sex ist diesmal der Schwerpunkt unseres Heftes. Während uns die Starsoziologin Eva Illouz über den Zusammenhang von Kapitalismus und Partnerwahl aufklärt, analysiert Kathy Meßmer Intimchirurgie als widersprüchliche Praxis. Außerdem im Schwerpunkt: ...
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Dissidenz und ziviler Ungehorsam sind die Hefe linker Politik. Kann Sie auch Schmiermittel des Kapitalismus sein? Wo schlägt Subversion in unpolitischen Abweichungsfetisch um? Unsere Autor_innen schauen nach, diskutieren und polemisieren.
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Mitte Oktober 2008 kam die zweite Ausgabe von prager frühling, dem neuem Magazin für Freiheit und Sozialismus. Das nächste Heft widmet sich schwerpunktmäßig dem Verhältnis von Politik und Kultur. Ziel der Redaktion ist es, politisches Engagement und Kultur einander näher zu bringen. Dabei geht es nicht um eine Kolonisierung des einen Bereichs durch den anderen ...
Der Schwerpunkt der ersten Ausgabe des Magazins prager frühling heißt "Refound: NeuBegründung". Unsere Autorinnen erklären was der "Bruch nach vorn" ist. Mit dabei Frigga Haug, Thomas Seibert, Hans Jürgen Urban, Daniela Dahn und Michel Friedmann.