Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)

wer repräsentiert wen in der szene?

prager frühling im Gespräch mit LesMigraS


prager frühling: Die Lesbenberatung hat den hegemonialen Integrationsdiskurs vom Kopf auf die Füße gestellt. Nicht: Wie können sich unterschiedliche Menschen an Institutionen anpassen? Sondern: Wie müssen sich Institutionen ändern, um rassistische Ausschlüsse zu vermeiden? Anti-Diskriminierungs- und Anti-Gewaltarbeit wird mittlerweile von einer unabhängigen migrantischen Struktur in der Lesbenberatung getragen. Wie kam es dazu?

Saideh Saadat-Lendle: Wir haben uns vor 14 Jahren gefragt: Wieso sind lesbische Migrantinnen und schwarze Lesben als Kolleginnen und Nutzerinnen so unsichtbar? Gibt es keinen Bedarf? Holen sie sich woanders Unterstützung oder gibt es bei uns strukturelle Diskriminierungen, die dazu führen, dass uns ein Teil unserer Zielgruppe nicht aufsucht. Wir haben angefangen, uns mit Strukturen auseinander zu setzen, die mehrfachzugehörige, lesbische und bisexuelle Frauen und Mädchen ausschließen: z.B. unsere Personalpolitik, unsere Angebote, unsere Ressourcenverteilung und unsere Privilegien. Uns wurde gleich nach den ersten Veranstaltungen klar, dass die Mehrheit von Mehrfachdiskriminierungen betroffen ist. Das sind Rassismen in der Szene und in der Gesamtgesellschaft; Homophobie in Gesamtgesellschaft und Herkunftscommunities. Uns wurde klar, dass wir ohne Antirassismusarbeit keine Antigewaltarbeit leisten können, weil viele Lesben und Bisexuelle alltäglich mit Rassismus konfrontiert sind und weil gerade auch von weißen schwulen Verbänden immer wieder Migrant_innen-Communities sowie Lesben und Schwule gegeneinander ausgespielt werden, indem die Schuld für Gewalterfahrungen der so genannten Migrant_innen-Comunity zugesprochen wird. Wir hielten es für notwendig, Antirassismusarbeit in alle Bereiche unserer Arbeit zu integrieren.

pf: Sie haben in ihrem Grußwort zum zehnten Geburtstag von LesMigraS gesagt, dass es am Anfang dieses Diskussionsprozesses auch Befürchtungen gab. Welche?

Saadat-Lendle: Eine Frage von mir war: Gibt es die Offenheit, dass meine Kolleg_innen einen Teil ihrer Privilegien ablegen? Es gab begrenzte Finanzmittel. Bei Veranstaltungen gab es immer die Auseinandersetzung, was finanziert werden kann. Bei den wenigen finanzierten Veranstaltungen, haben wir darauf bestanden: Zwei Veranstaltungen müssen für die Zielgruppe schwarze Lesben und lesbische Migrantinnen sein. Ein anderer Konflikt waren Stellenbesetzungen. Es gab Ressourcen, die wir aufteilen mussten und es war unklar, ob wir den Prozess aushalten. LesMigraS brauchte anfangs eine gewisse Selbstbestimmung, also hat sich auch die Struktur verändert. Da waren Befürchtungen und auch reale Konflikte.

pf: Was hat geholfen, diese Konflikte auszuhalten?

Saadat-Lendle: Was uns sehr unterstützt, ist, dass der Anspruch besteht: Wir wollen gemeinsam Antidiskriminierungs- und Antigewaltarbeit machen. Wir versuchen mit Konflikten möglichst offen umzugehen und haben jedes Jahr interne Fortbildungen. Darunter auch ein Antirassismus-Training, bei dem wir uns damit auseinander setzen: Was sind unsere Positionierungen, Privilegien und wie gehen wir damit um.

pf: Wie sehen rassistische Strukturen in der Szene aus?

Alice Stein: Es gibt die selben Strukturen wie überall in der Gesellschaft: Von Türpolitiken über Kommentare und Blicke, die Queers of Color auf Partys erleben. Oder Beratungsangebote: Es passieren ja rassistische Angriffe auch in Beratungsstellen. Repräsentation ist ein großes Stichwort: Wer repräsentiert wen in der Szene? Wer wird vereinnahmt, wessen Themen werden vereinnahmt? Wer wird subsumiert? Aktuell beschäftigen wir uns viel mit der Forschung zu „Akzeptanz sexueller Vielfalt“. Wie wird geforscht? Wie ein spezieller Täterkreis konstruiert? Wie werden Mehrfachzugehörige nicht gesehen oder in Forschungen vereinnahmt?

Saadat-Lendle: Diese Auseinandersetzung ist so alt wie LesMigraS. Das erste Konzept zum Thema Gewalterfahrungen von lesbischen und schwulen Migrant_innen kam vom Lesben- und Schwulen-Verband Berlin Brandenburg (LSVD). Der Inhalt: Migrant_innen-Communities haben eine patriarchale und homophobe Kultur. Lesben und Schwule mit Migrationshintergrund leiden darunter. Der LSVD hat dann ein Projekt vorgeschlagen, bei dem wir ihnen beibringen sollten, wie man die Community verändern kann. Dann wollten sie die Leute ausbilden und die Migrant_innen-Community verändern. Diese Form von Rassismus gibt es nach wie vor: diese Vorstellung einer „Migrant_innen-Community“. Dabei besteht sie selbst aus so vielen verschiedenen Communities — mit unterschiedlichen Ressourcen und ganz verschiedenen Auseinandersetzungen. Wenn ich mir die iranische Community in Berlin anschaue: Da gibt es tausende Frauen aus ganz unterschiedlichen Gruppierungen, mit sehr unterschiedlichen Zugängen zu Homo- und Transphobie. Ich käme nie auf die Idee, die als EINE Community zu betrachten.

pf: Sind Konzepte heute noch so stereotyp?

Saadat-Lendle: Wenn überhaupt Differenzierungen stattfinden, dann: „DIE Araber“ oder „DIE Muslime“. Also wieder die Vorstellung einer einheitlichen Gruppe. Das zweite Problem sind Markierungen. Bei Homophobie, wird nur eine Gruppe markiert. Einmal im Jahr, beim Papstbesuch, beziehen sich Leute auf Homophobie von weißen, christlichen Leuten. Bei arabischen Menschen wird diese Markierung ständig vorgenommen. LesBiSchwule Migrant_innen werden immer nur als Opfer homophober und transphober Gewalt ihrer Communities markiert. Die vielfältigen Erfahrungen werden nicht repräsentiert, sondern nur die Teile, die diese Stereotypisierung und Marginalisierung bestätigen. Bei Kooperationen gibt es ein ähnliches Problem. Es findet keine Kooperation und kein Austausch mit Lesbian, Gay, Bisexual und Trans of Color statt. Es wird über sie gesprochen, nicht mit ihnen. Bis vor ein paar Jahren war die Vorstellung immer: WIR bringen DENEN was bei.

pf: Saideh Saadat-Lendle, Sie haben mal gesagt: „Bis vor zehn Jahren wurde über Diskriminierungsmechanismen in Migranten-Communities nicht gesprochen, weil Migranten nicht wichtig waren.“ Nun gibt es Forschungen wie die Simon-Studie. Sind sie Teil des Problems oder Nachholen des Versäumten?

Stein: Teil des Problems, weil immer wieder diese Gruppe der homophoben Migrant_innen konstruiert wird. Es werden Einstellungsfragen und nicht Fragen nach konkreten Erfahrungen gestellt. Es werden suggestiv Tätergruppen parallel abgefragt. Dabei beziehen sich Fragen auf Sichtbarkeiten, die nicht explizit gemacht werden, z.B.: „Wenn Sie an einer Bushaltestelle stehen, fühlen Sie sich von evangelischen Christen oder muslimischen Jugendlichen bedroht?“

Saadat-Lendle: Der Arbeitskreis „Jour Fixe Homosexualität Frankfurt“ macht eine Umfrage mit dem selben Mechanismus. In dieser Umfrage wird nach: „Vermuteter ethnischer Hintergrund der Täter/Täterinnen?“ gefragt. Antwortmöglichkeiten sind: „deutsche Herkunft“ und „mit Migrationshintergrund“. Dieser Fragebogen ist für bestimmte Leute gemacht. Das sieht man auch in der Präsentation. Die Simon-Studie 2009 zeigt, dass 47 Prozent der deutschen männlichen Jugendlichen es abstoßend finden, wenn zwei schwule Männer sich auf der Straße küssen. Diese Aussagen finden aber in Szene und Öffentlichkeit keine Thematisierung. Ich bin dafür, dass man Homophobie in verschiedenen Communities thematisiert — aber nicht in dieser Gegenüberstellung und nicht einseitig. Diese Art von Forschung scheint gerade in vielen europäischen Ländern, etwa in Frankreich, den Niederlanden und Belgien, ein Phänomen zu sein.

Stein: Das sind auch die Folgen eines „Homo-Nationalism“, also der Vorstellung: Wir verteidigen unser freies, modernes, westliches Europa gegen das konservative böse Andere. Vor dem Hintergrund, dass schon vor zwei Jahren die Studie von Herrn Simon kritisiert wurde, ist fraglich, warum er wieder mit einer neuen Studie beauftragt wurde. Die Frage ist: Wie werden Selbstorganisierungen einbezogen oder auch ihre Kritik ernst genommen?

Saideh Saadat-Lendle istPsychologin undLeiterin von LesMigraS, dem Antidiskriminierungs- und Antigewaltbereich der Lesbenberatung Berlin e. V. Die 52jährige lebt mit ihrer Lebensgefährtin und ihrem Sohn in Berlin.

Alice Stein ist Sozial- und Theaterpädagogin. Sie arbeitet seit 2010 in der LesMigraS Kampagne zu Gewalt und Mehrfachdiskriminierungserfahrungen LSBT*.


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Artikel aus der Ausgabe Juni 2011
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