Reinheitsverbot
Parallel sind immer die Anderen!
Im französischen Seine Saint-Denis sieht es immer noch so aus wie im Hoyerswerda der DDR-Zeit. Während in der DDR-Vorzeigearbeiterstadt mittlerweile der einstige Stolz der sozialistischen Architektur abgerissen wird, platzt die Pariser Banlieue aus allen Nähten. Sie ist eine der letzten kommunistischen Hochburgen in Frankreich: Durch die stur-grauen Fassaden der Plattenbauten gähnen heute die Langeweile und Wut, wo früher Aufbruch und Hoffnung war. Von letzterem erzählen noch der Lenin-Boulevard, die Rousseau-Avenue und Louis Aragon-Straße. Und eine Ausstellung im „Archiv Departemental“, das die gesammelten Dokumente der Kommunistischen Partei liebevoll entstaubt. Kräftige Arbeiter werden gezeigt, die die ersten Sozialwohnungen bauen und ihre ersten bezahlten Urlaube machen, mit dem Fahrrad im Grünen, die lachenden Kinder auf dem Gepäckträger. Ein Hauch von DDR weht einem dort entgegen. Das sehnsuchtsvolle Gedenken an die ideologische Aufbruchsstimmung hat derzeit Konjunktur in Frankreich – aber eben auch nur das Gedenken. Auch im Pariser Rathaus schwelgt man derzeit in historischem Ambiente und erinnert an 140 Jahre Pariser Kommune. Die Bilder zeigen Arbeiter voller Mut, Entschlossenheit und Solidarität. Für eine soziale Idee in den Tod gehen – was waren das noch für Zeiten! Vielleicht wird derzeit auch soviel erinnert, weil sich 21 Jahre nach dem erklärten Tod der kommunistischen Idee, trotz Sarkozy und Finanzkrise immer noch keine Renaissance jener links-revolutionären Geschlossenheit abzeichnet.
Umso bezeichnender, dass gerade zwei Männer in Frankreich aus dieser Lethargie ausbrechen, die zwar nicht mehr die Kommune erlebt aber ein gutes Dreiviertel 20. Jahrhundert auf ihren Schultern tragen: Der Autor von „Empört euch“ Stephan Hessel und sein Freund und eingefleischter Linksintellektureller Edgar Morin. Beide haben mit Medienauftritten und aufrüttelnden Büchern mehr Aufsehen erregt, als die französische Linke in den letzten vier Jahren unter Sarkozy. Die greisen „Aufrührer“ haben schon in der Résistance gekämpft und sich seit dem Zweiten Weltkrieg – Hessel als Diplomat und Morin als Soziologe und Philosoph – für ein humanistisches, friedliches und soziales Europa engagiert. Nun, mit 93 und 89 Jahren, müssen sie sich jedoch eingestehen, dass genau diese Werte in höchster Gefahr sind. Hessels Mission ist die Wiederbelebung der „Werte der Résistance“: In seinem 15-Seiten Bestseller zieht er gegen Despotismus und politische Unterdrückung zu Felde und feiert den Moment der Auflehnung im Namen demokratischer Grundwerte.
Morins Buch „La Voie: pour l`avenir de l' humanité“ („Der Weg: für eine Zukunft der Humanität“) ist hingegen eine Analyse der Welt nach Ende des Kalten Krieges und der „totalitären Krake“, die nun von der Gier der Finanzmärkte und religiösen Fundamentalismen abgelöst werde. Morin kommt zu demselben Schluss wie Hessel: Die Menschheit stehe vor einer Zeitenwende, in der es leicht „zu einer Kettenreaktion von Katastrophen“ kommen könnte. Die jetzige Zeit sei eine Chance für eine grundsätzliche demokratische Erneuerung. Die richtigen Ideen und Konzepte dies zu verhindern, seien schon da – es brauche allein eine politische Kraft, diese umzusetzen. Anfang des Jahres verfolgten tausende Leute im Netz und im ausverkauften Saal des „Théâtre national de la Colline“, wie Hessel und Morin die arabischen Revolutionen bejubelten und mit ägyptischen und tunesischen Widerstandskämpfern in flammenden Reden mehr Engagement einforderten. Diese ungeteilte Aufmerksamkeit hat derzeit wohl kaum jemand der traditionellen Linken in Frankreich.
Doch wo ist sie, die große französische Linke? Ähnlich wie in allen konservativ regierten Ländern könnte die Ausgangslage für eine „Renaissance der Linken“ in Frankreich kaum besser sein. Doch wie in vielen anderen Staaten ist auch die französische Linke in Grabenkämpfen und einem fundamentalen Selbstfindungsprozess gefangen. Jeder Versuch, eine Wiederbelebung oder gar Einheitlichkeit der Linken herzustellen, ist in den letzten Jahren kaum vorangekommen. Bezeichnend dafür ist die „neue alte“ Uneinigkeit im sozialistisch-antikapitalistischen Lager: Links von der Sozialistischen Partei (Parti Socialiste), gibt es eine Reihe von kleinen Splitterparteien, unter denen sich wiederum einige zur „Front de Gauche“ (Linksfront) zusammengeschlossen haben. Diese Linksfront ist ein Griff in die Mottenkiste der Geschichte und erinnert an den langen Kampf, eine zweite „Front Populaire“ (gemeinsames Programm von Sozialisten und Kommunisten) wie in den dreißiger Jahren auf die Beine zu stellen. Auch in den 1960er Jahren versuchten alternative Kräfte, oppositionelle Sozialisten und abtrünnige Kommunisten jenseits der etablierten Parteien eine neue linke Kraft zu formieren – allerdings scheiterte auch dieser Versuch an ideologischer Zerfaserung. Nun wird diese Tradition wiederbelebt: Nach der geglückten Kampagne gegen den EU-Verfassungsvertrag 2005, fanden sich Globalisierungskritiker_innen, ehemalige Sozialist_innen und die mittlerweile marginalisierten Kommunist_innen zusammen, um für die Europawahlen 2009 ein gemeinsames Wahlbündnis zu gründen – die Front de Gauche. Allerdings konnte unter diesem Dach nur die „Parti de Gauche“, die Kommunisten (PCF) und kleine Akteure versammelt werden. Wichtige neue Akteure wie die NPA (neue antikapitalistische Partei) verweigerten ihre Teilnahme. Nach den letzten relativ erfolgreichen Kantonalwahlen, soll nun der Präsidentschaftskandidat – mit aller Wahrscheinlichkeit der ehemalige Sozialist (PS) und Vorsitzender der „Parti de Gauche“ (Linkspatei) Jean-Luc Mélenchon – gekürt werden. Aber auch das geschieht nicht ohne Federlesen bei den Kommunist_innen.
Auffällig ist, dass die Dinosaurier des Humanismus, Hessel und Morin, keinerlei Ambitionen zeigen, die derzeitige Linke jenseits der Sozialisten zu unterstützen. Hessel gilt als enger Vertrauter der Parteivorsitzenden der Parti Socialiste, Martine Aubry. Diese betrachtet den Aufruf Hessels als willkommene Wahlkampfunterstützung – sicherlich zu recht, lässt sich Hessel doch des Öfteren bei Parteiveranstaltungen blicken. Morin hingegen hat sich seit seinem Engagement für eine „dritte linke Kraft“ jenseits von Stalinist_innen und Sozialist_innen in den 1960er Jahren nicht mehr an eine Partei gebunden. Aber auch andere kritische Akteure wie der Gründer des investigativen Medienportals „Mediapart“, Edwy Plenel, arbeiten jenseits der Parteienlandschaft auf ihre Weise am Sturz der „Ära Sarkozy“ und für eine demokratische VI. Republik. Die französische Linke ist also keineswegs verschwunden, sondern zur Unkenntlichkeit fragmentiert. Und auch das ist sicherlich eine ihrer großen „Traditionen“.
Susanne Götze berichtete für prager frühling u.a. schon über die Frauenbewegung in der Türkei und die Klimabewegung in den USA. Gegenwärtig lebt sie als Journalistin in Paris und schreibt an ihrer Promotion in Neuerer Geschichte zur französischen „Nouvelle Gauche“ zwischen 1960 und 1968.Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Dann abonnieren Sie unseren Newsletter.
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Emanzipatorische Alternative jenseits von Markt und Staat oder nur Lückenbüßer für vormals staatlich organisierte Aufgaben? Unsere Autor*innen haben sich auf die Suche nach heutigen Commons gemacht. Im ersten Teil der Ausgabe haben sie die Kontaktzonen zum Markt, Staat und Care-Ökonomien besichtigt und theoretisch vermessen. Im zweiten Teil der Ausgabe haben sie Gemeinschaftsgärten durchstreift sowie an „Energietischen“ gesessen, um Kämpfe um Commons zu dokumentieren.
Die heilige Dreifaltigkeit der Linken ist die Trinität aus Protestieren, Opponieren, Mitregieren. Bei der Frage, in welcher Beziehung die drei stehen, gerät die Gemeinde oft ins Stammeln und die politischen Theologen antworten mit dürren Dogmen. Unsere AutorInnen haben zunächst gefragt, wo er ist, der ominöse Ort der Macht und sind ihm dann mit steilen Thesen auf den Leib gerückt.
Unsere AutorInnen fragen sich, ob die Schwarmintelligenz den Cybersexismus überwinden kann und wo genau die Grenzen des digitalen Medienbaukastens verlaufen. Kai van Eikels analysiert die Ideologie des „Nerds“ und Mathias Schindler erklärt, wie es mit Wikipedia weitergeht. In den Feminismen gibt Dr. Lady Bitch Ray dem Feminismus der ersten Welle einen fetten Zungenkuss, während Stefan Gerbing in der ersten Hurenzeitung der Weimarer Republik geblättert hat.
Nein, ihr habt’s wieder falsch verstanden! Entschleunigung heißt nicht Breitbandrossel, liebe Telekom. Und Du, Frankfurter Polizei: Die Entdeckung der Langsamkeit meint nicht, zehn Stunden Zwangsentschleunigung im Kessel. In der Stress-Ausgabe prager frühling geht’s, darum wie man es richtig macht.
Der Realsozialismus ist auch auf der Speisekarte gescheitert: Als Diktatur des schlechten Geschmacks. Die Verhältnisse an kapitalistischen Tafel sind nicht weniger ungenießbar. Tausch von ökonomischem und sozialem Kapital geht vor. Wenn Renate Künast eine Flasche fairen Bio-Orangensaft kauft, geht locker das Tagesbudget eines Hartz-IV beziehenden Kindes über die Theke ...
Die neue Ausgabe des prager frühling erscheint am 26.10.2012 und kann hier bestellt werden.Im Schwerpunkt geht es diesmal um die „Neue soziale Idee“ und damit die Frage nach emanzipatorischen Potentialen, aber auch den Grenzen einer linken Sozialpolitik.
Und in Berlin singen die Ultras von der FDP gemeinsam mit den Polithools vom rechten Rand: „Protektorat statt Europarat!“ Wird in Griechenland bald mehr als nur Deutsch gesprochen? Unsere AutorInnen stellen sich dem Einmarsch entgegen. Lucas Oberndorfer analysiert den autoritären Wettbewerbsetatismus als Krisenbearbeitungsstrategie ...
Von wegen „schönste Nebensache“ der Welt. Sex ist diesmal der Schwerpunkt unseres Heftes. Während uns die Starsoziologin Eva Illouz über den Zusammenhang von Kapitalismus und Partnerwahl aufklärt, analysiert Kathy Meßmer Intimchirurgie als widersprüchliche Praxis. Außerdem im Schwerpunkt: ...
Ach diese Linken! Sie wissen genau, wie es Frieden zwischen Ramallah und Tel Aviv geben kann und sie brüllen es heraus – in Düsseldorf und Frankfurt. Während die Einen schreien: „Straßenschlacht in Ramallah, die Panzer sind die Antifa“, brüllen die Anderen: „Intifada bis zum Sieg ...
prager frühling stößt an: ein Prosit den Parallelgesellschaften! Schon klar, Integration fordert immer die Anderen. Deshalben sagen wir: "Erst wenn Efes sich ins deutsche Biersortiment eingegliedert hat und ein Hefeweizen anbietet, werdet ihr merken, dass man so etwas nicht trinken kann." Wie aber geht sozialistischer Antirassismus? Etienne Balibar, Nichi Vendola und viele andere versuchen sich in Antworten ...
Dissidenz und ziviler Ungehorsam sind die Hefe linker Politik. Kann Sie auch Schmiermittel des Kapitalismus sein? Wo schlägt Subversion in unpolitischen Abweichungsfetisch um? Unsere Autor_innen schauen nach, diskutieren und polemisieren.
Ist geistiges Eigentum Diebstahl? Stellen Raubkopien das Ergebnis von Aneignung oder eine besonders perfide Ausbeutung des Kreativproletariats dar? Darüber diskutieren in unserem Heft u.a. Michael Hardt, Cornelia Koppetsch, Sabine Nuss und Stefan Meretz. Digital Natives diskutieren die Implikationen der Digitalisierung von Demokratie ...
„Crossover“ ist der Versuch, eine Diskussion über politische Kooperation von sozialistischen, grünen und sozialdemokratischen Positionen in Gang zu setzen, deren Ergebnis hegemoniefähige progressive Reformprojekte werden sollen. So nahe liegend dies angesichts des Niedergangs der neoliberalen Ära ist, so blockiert ist diese Perspektive dennoch ...
Den politischen Gemütszustand unserer Welt beschreibt nichts besser als der alte Kalauer: „Öko? Logisch.“ Niemand schmunzelt mehr drüber, aber alle nehmen den Schenkelklopfer für sich in Anspruch. Dass alles irgendwie auch „öko“ sein müsse, also die Sache mit der Umwelt halt ein Problem sei, ist – logisch – Allgemeinplatz geworden ...
Die Linke und die Nation ist der Schwerpunkt der fünften Ausgabe des prager frühlings. Außerdem beschäftigen wir uns unter dem Motto "balkan beats" mit der Linken in Post-Jugoslawien. Mit dabei sind Thomas Seibert, Julia Bonk, Klaus Höpcke, Michel Albert, Christin Löchner, Lothar Bisky, Ringo Bischoff, Katja Kipping, Andreas Fischer-Lescano und die Band Ego-Tronic ...
Original sanktionsfrei: Weg mit Hartz IV! Her mit dem schönen Leben! Neben vielen investigativen und weniger investigativen Beiträgen zum Hartz IV-Regime, wollen wir Euch in dieser Ausgabe auch unseren Vorschlag vorstellen, dem Hartz IV-Regime die Forderung nach einem Infrastruktursozialismus entgegen zu setzen ...
Februar 2009 erschien die dritte Ausgabe des prager frühling. Das Schwerpunktthema ist "Demokratie und Herrschaft" mit Beiträgen und Artikeln von Chantal Mouffe (University of Westminster, London), Jürgen Peters (IG Metall), Colin Crouch, Franziska Drohsel (Juso-Vorsitzende), die Gruppe Soziale Kämpfe, Sonja Buckel (Universität Frankfurt) und viele andere mehr ...
Mitte Oktober 2008 kam die zweite Ausgabe von prager frühling, dem neuem Magazin für Freiheit und Sozialismus. Das nächste Heft widmet sich schwerpunktmäßig dem Verhältnis von Politik und Kultur. Ziel der Redaktion ist es, politisches Engagement und Kultur einander näher zu bringen. Dabei geht es nicht um eine Kolonisierung des einen Bereichs durch den anderen ...
Der Schwerpunkt der ersten Ausgabe des Magazins prager frühling heißt "Refound: NeuBegründung". Unsere Autorinnen erklären was der "Bruch nach vorn" ist. Mit dabei Frigga Haug, Thomas Seibert, Hans Jürgen Urban, Daniela Dahn und Michel Friedmann.