Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog

Hinter verschlossenen Türen

geschrieben am 28.05.2013

Schlagworte:

abschottung, flüchtlinge, frontex

Alexander Betts sagt "O" ...

Der Name der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex taucht in Presseberichten zumeist im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen Europas auf. Informelle, gewaltsame Abschiebungen, Duldung unmenschlicher und erniedrigender Behandlung von Flüchtlingen sowie unterlassene Hilfeleistung gegenüber Flüchtlingen in Seenot werden der Agentur seit Jahren vorgeworfen. Vergangene Woche veranstaltete Frontex wie jedes Jahr den European Day for Border Guards (ED4BG). Presse war auch dieses Jahr nicht erwünscht. Einen eingeschränkten und dennoch interessanten Eindruck konnte man durch einen Livestream im Netz gewinnen.

Die Rhetorik des „Migrationsmanagements“

Der Fiktion, Migration kontrollieren zu können, haben radikale postmigrantische Intellektuelle aus dem Umfeld von Kanak Attak einst das programmatische Konzept der „Autonomie der Migration“ entgegengehalten. Die fordistische Idee, man könne je nach Bedarf der Industrien im globalen Norden Arbeitskräfte als Gastarbeiter zuführen, haben sie einen Eigensinn von Migration entgegengestellt. Diese Infragestellung nationalstaatlicher Kontrollansprüche wurde auf dem ED4BG rhetorisch aufgegriffen und transformiert. In seinem Eingangsreferat beanspruchte Alexander Betts, Professor am Refugee Studies Centre an der Universität Oxford, Mythen über Migration zu wiederlegen. Als solche bezeichnete er die Vorstellungen, dass es möglich sei, gleichzeitig gewünschte Migration zu ermöglichen und unerwünschte Migration zu verhindern; dass Migrationspolitik einen Einfluss auf tatsächlich stattfinde Migration habe sowie die Idee, dass Migrationsbewegungen prognostizier- und zu steuerbar sei. Sein Fazit bestand aber nicht in der Aufgabe des Kontrollanspruches und der Regulierung der Bewegungsfreiheit durch Nationalstaaten und Staatenbünde.

Laura Tihonova will lieber ein "R" für "Racial Profiling".

Stattdessen lieferte er in seinen Schlussfolgerungen einen Legitimiationsansatz für Grenzüberwachung, den TeilnehmerInnen der folgenden Panels dankbar aufgegriffen. Die Aufrüstung der Außengrenzen Europas wurde von den Diskutanten immer wieder mit dem Argument verteidigt, es gehe bei den verschiedenen EU-Programmen zur effektiveren Grenzüberwachung nicht etwa um die Vorbereitung und möglichst reibungslose Durchführung von Abschiebungen, sondern darum, besonders schutzbedürftigen Flüchtlinge zu identifizieren. Dieses Migrationsmanagement, „nütze allen.“ Faktisch nützte diese rhetorische Strategie jedoch vor allem Frontex und den Grenzpolizeien der europäischen Staaten. Sie werden damit der Verantwortung für die dem Aufgreifen folgenden Prozeduren, wie Internierung und Abschiebung von schutzbedürftigen Personen enthoben. Die Argumentation auf dem ED4BG: „Wir registrieren nur, um ein geordnetes Verfahren zu ermöglichen. Für die folgenden Prozeduren sind wir nicht mehr verantwortlich.“ Frontex-Chef Ilkka Laitinen meinte gar, dass es für Flüchtlinge vorteilhaft wäre, wenn sie den Grenzbeamten mehr vertrauten: „Vieles würde besser laufen, wenn Border Guards besser wahrgenommen würden.“

Schönes neues Grenzregime …

Henry Bolton hat schicke Schuhe ...

Die technische Seite des schönen neuen Migrationsmanagements, wurde in den folgenden Diskussionsrunden besprochen. Der grundsätzliche Trend – mehr Informationen von immer mehr Akteuren. Stellvertretend hierfür steht das European Border Surveillance System (Eurosur), das in dieser Woche beschlossen und Ende des Jahres aktionsfähig sein. EUROSUR soll möglichst viele Informationen von Drohnen, Satelliten mit bereits bei anderen Stellen wie den Fischereibehörden und der Seenotrettung verknüpfen. Dank des gezielten Lobbying von Deutschland, Belgien und den Niederlanden größer ausgefallen ist, als geplant. Der bisherige Fokus auf die Grenzen im Südosten Europas wurde auf Grund von Interventionen der genannten auf alle Staaten mit EU-Außengrenzen erweitert. Statt zunächst 24 Staaten, beteiligen sich nun demnächst 31 Staaten an dem Netzwerk. Dies werde sich trotz der Wirtschaftskrise auch in einer stärkeren finanziellen und personellen Ausstattung von Frontex niederschlagen, prognostizierte der Oliver Seiffarth, der bei der Europäischen Kommission für EUROSUR zuständig ist, in einem der Panels.

Der geplante Infokrieg gegen Migrantinnen, spiegelte sich auch an den Ständen der Industrieaussteller, die bei jedem ED4BG zu finden sind. Zwar waren auch in diesem Jahr einige Hersteller vertreten, die konventionelle Hardware zur Menschenjagd, also Hubschrauber und gepanzerte Fahrzeuge produzieren. Der Schwerpunkt lag jedoch bei den Fabrikanten von Sensoren und Überwachungssystem zur automatisierten Grenzüberwachung.[i]

… und die Realität in der Offline-Welt

... andere eine Uniform.

Neben der hochfliegenden Technikträume gab es jedoch Zwischentöne, die sicher unbeabsichtigt ein realistischeres Bild von der Realität an Europas Außengrenzen zeichneten. Die litauische Grenzinspektorin Laura Tihonova bekannte auf dem Panel Border Control Priorities: freedom or security?“unverblümt, dass in der Alltagspraxis der Grenzbeamten eine gewisse Willkür. „Auf dem Papier hört sich immer alles sehr gut an. Aber wenn es um die Entscheidung geht, wer eine gute oder schlechte Person (sic) ist, dann kommt es auf Erfahrung an“, so Tihonovas Umschreibung von Racial Profiling.

Neben dem zunehmend formalisierten und automatisierten Datenaustausch, werden informelle Netzwerke, die nicht zuletzt auf Veranstaltungen wie dem ED4BG hinter geschlossen Türen gepflegt werden, auch weiterhin eine zentrale Rolle spielen. Im Panelgespräch „Grenzkontrollen in Zeiten der Krise“ plauderte Henry Bolton, der unter anderem die die jüngste gestartete EU Grenzunterstützungsmission in Libyen (EUBAM) geplant hatte, über seine Diskussionen mit Nato-Planern und deren Perspektiven auf die arabische Rebellion. Ein Blick auf seine Biographie ist exemplarisch für einen bestimmten Schlag des Border-Managers. Der frühere Soldat und zeitweilige Polizist hat die vergangene Jahre für verschiedene Regierungsinstitutionen und staatsnahen NGO sowie für OSZE und Europäischer Kommission gearbeitet und war dabei unter anderem in Afghanistan, Mazedonien, Georgien, Albanien und im Kosovo. Sicher nicht die schlechtesten Voraussetzungen beim Versuch die enge Zusammenarbeit von EU und Gaddafi-Regime bei der Flüchtlingsbekämpfung in die Zeit des Nach-Gaddafi-Libyen zu retten.

Die Rolle von NGOs

Sichtbar wurde beim diesjährigen ED4BG auch eine neue Rolle von NGOs. Frontex arbeitet bereits seit langem mit Pseudo-NGO’s wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) zusammen. Nicht zuletzt als Reaktion auf die Kritik von unabhängigen Menschenrechtsgruppen bemüht sich Frontex um die strategische Einbeziehung von weiteren NGO. Mit Ioanna Kotsioni von Medicins Sans Frontieres in Griechenland war sogar eine NGO-Vertreterin erstmals direkt auf einem der Panels beim ED4BG vertreten. Amnesty International, Caritas und der Jesuitenflüchtlingsdienst waren ebenfalls mit Ständen vertreten. All diese Organisationen sind Teil des im vergangenen neu gegründeten Frontex Consultative Forums. Einem Beirat ohne konkrete Befugnisse, der nicht zuletzt als Reaktion auf die regelmäßigen Vorwürfe schwerer Menschenrechtsverletzungen gegründet wurde. Das Forum soll Frontex bei der Einhaltung menschenrechtlicher Standards beraten und kann einmal im Jahr einen Bericht veröffentlichen. Ob die genannten Institutionen dabei mehr als ein Feigenblatt sein können, bleibt abzuwarten. Im schlimmsten Fall wird ihr Know-How zur weiteren Effektivierung des Grenzregimes genutzt.

Dennoch dominierten weiße Männer in schwarzen Anzügen.


Endnote:

[i] Vertreten waren u.a. Polus (www.radiobarrier.eu); Optasense (www.optasense.com) oder 3M (www.cogentsystems.com).

Kommentar

Beitrag von Jutta Ditfurth, geschrieben am 27.05.2013

Die ersten 50 Jahre waren interessant. Da war die SPD politischer Ausdruck der Arbeiterbewegung. Der tapfere August Bebel lobte 1871 im Reichstag die Pariser Commune. Übers Erfurter Programm konnte man noch streiten. 1914, mit den Kriegskrediten, war die SPD als fortschrittliche Kraft am Ende. Es gab viele mutige Antifaschisten aber dominant blieben Hardliner wie Noske und obrigkeitsstaaatliche Kleinbürger wie Ebert – bis heute. Immer noch stellt sich die SPD ihrer Mitverantwortung an der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg hieß ihr Verhältnis zur Arbeiterbewegung Befriedung und "Sozialpartnerschaft". In Godesberg 1959 entschied sich die SPD endgültig für Kapitalismus und Nato und warf bald den SDS aus der Partei. Gratuliere, so hatte die außerparlamentarische Opposition eine unabhängige Organisation. Dann kam der Radikalenerlass und die 1970er Jahre, in denen wir AKW-Gegner von der SPD-Führung als »Terroristen« beschimpft wurden. Seit 1998 wird die SPD für Kriege und Sozialstaatszerstörung gebraucht. Im Herbst 2013 droht auch dafür eine Große Koalition.

Aufrichtig gratulieren kann ich für Willy Brandts Kniefall in Warschau.

Jutta Ditfurth, Autorin u.a. von »Zeit des Zorns. Warum wir uns vom Kapitalismus befreien müssen« (Westend 2012), www.jutta.ditfurth.de

Billige Gebrauchte

geschrieben am 27.05.2013

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SPD

Vergangene Woche hat sich die SPD unter anderem mit einem Festakt im Leipziger Gewandhaus gefeiert. Jutta Ditfurth hat das Nichteignis für uns kommentiert.

And the winner is ...

geschrieben am 23.05.2013

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abschottung, flüchtlinge, frontex

Unter dem Titel „Menschenjäger auf Fotosafari“ hatte prager frühling jüngst auf den Fotowettbewerb der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen (Frontex) hingewiesen und zugleich einen Gegenwettbewerb ausgerufen.

Während heute um 11.15 Uhr Frontex-Generaldirektor Ilkka Laitinen beim European Day for Borderguards (ED4BG) den ersten Preis überreichte, ging parallel die Webseite des EUROPEAN DAY FOR OPEN BORDERS (ED4OB) online.

Hier sind die eingesandten Fotos zu bestaunen. Wir bedanken uns bei allen Teilennehmerinnen und Teilnehmern.

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Widerständige queere Praxen?

Beitrag von Anna Rinne, geschrieben am 06.05.2013

Queer ist mittlerweile ein Begriff, auf den sich seit den 1990er Jahren immer mehr Publikationen beziehen. Er dient politischen Aktivist_innen als Bezeichnung für alle, die sich als schwul, lesbisch, bisexuell, trans* oder intergeschlechtlich, BDSMler_innen, oder aber auch in alternativen Beziehungsformen zu monogamen Zweierbeziehungen lebend definieren. Er steht jedoch demgegenüber auch für ein analytisches Konzept mit dem Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit in ihren Verwobenheiten mit anderen Herrschaftsverhältnissen und Mehrfachdiskriminierungen kritisiert werden können. Die Vieldeutigkeit des Begriffs verlangt jedoch nach einer Reflexion, welche Konzepte integriert und welche ausgeschlossen werden oder ob das produktive Potenzial gerade in der Verundeutigung und Vieldeutigkeit des Begriffes liegt.

Das Ziel des Bandes ist das subversive Potential queerer Praxen und auch die Aneckungspunkte mit queeren Konzepten, intersektionalen Denkweisen oder Heteronormativität stabilisierenden Handlungsweisen auszuloten. Schwule und lesbische Identitäten werden im Vorwort als ggf. einengende Norm definiert, die queere Praxen zu überschreiten wissen. Uta Schirmer beschreibt in ihrem Beitrag die Praxen von Drag Kings als Erweiterung der Identitätsräume, die über lesbisch oder schwul hinausgehen können, aber auch nach den Verunsicherungen oder auch Ausschlüssen, die Drag Kings auch in schwulen oder lesbischen Räumen entgegengebracht werden. Auch Robin Bauer lädt den Begriff queer mit Geschlechterkonzepten auf, die lesbisch oder schwul transformieren und diskutiert queere BDSM-Praktiken als Möglichkeit des Transzendierens von Heteronormativität und gängigen Geschlechterklischees. Manuela Kay fragt in ihrem Beitrag hingegen kritisch nach der ideologischen, historischen und politischen Transformation der Begriffe schwul und lesbisch und lotet aus, inwiefern dieser Prozess hin zum Queer-Begriff subversive Potentiale mit sich bringt oder Homophobie lediglich stabilisiert, wozu sie selbst tendiert. Sie kommt also zu einer scheinbar entgegengesetzten Einschätzung als zu der im Vorwort, die dazu tendiert schwul und lesbisch als einengendes, normierendes Korsett zu sehen.Aber auch nach queeren Praktiken auf gesellschaftlicher Ebene und deren subversivem, eingreifendem Potential wird gefragt.

Lüder Tietz beschäftigt sich beispielsweise in seinem Beitrag mit den Potentialen bezüglich Heteronormativitätshinterfragung und -reproduktion von CSD-Paraden.

Bodo Niendel setzt sich in seinem Beitrag kritisch mit Judith Butlers Argumentation im Kontext der Ablehnung eines für sie angedachten Preises zum Berliner CSD 2010 auseinander. Dementsprechend auch mit dem in die Argumentation einfließenden Theoriegebäude. Er argumentiert, dass Butlers Moralphilosophie alleinig auf subjektive und nicht objektive Maßstäbe zurück gehe und mit Chantal Mouffe und Ernesto Laclau gelungener nach strategischen (politischen und queeren) Bündnissen gefragt werden könne als mit Butlers Argumentation. Der Band nimmt mit dem Beitrag von Uta Schirmer, Robin Bauer und auch Andreas Kraß zudem den queer-Begriff als analytisches Konzept für Heteronormativitätskritik auf. Der Anspruch queere Praxen zu thematisieren ist im Großen sehr umfangreich geglückt, wenn auch die spezifischen Lebenssituationen von polyamourös lebenden Menschen, femininen Geschlechteridentitäten wie Dragqueens, Trans*frauen oder Femmes noch stärker zum Tragen hätten kommen können. Die Ausschlüsse und Einschlüsse von Weiblichkeitsnormen innerhalb von zumindest lesbischen Kontexten wurden jedoch bei Uta Schirmer randlich auch angesprochen. Fazit: Sehr lesenswert.

Menschenjäger auf Fotosafari

geschrieben am 04.04.2013

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abschottung, flüchtlinge, frontex

"Grenzen die verbinden" - der Widerstand gegen das Übertretungsverbot der Landkreisgrenzen (Residenzpflicht) verbindet Geflüchtete - im Widerstand dagegen.

Die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen kurz „Frontex“ ist nicht nur ein Wortungetüm. Wenn es selten genug in der Presse auftaucht, dann meist wegen Übergriffen auf MigrantInnen. Human Rights Watch nennt die Agentur nicht umsonst „die schmutzige Hand der EU“. (Vgl. The EU’s Dirty Hands) Etwas Reinwaschung kann also nicht schaden, wenn das Alltagsgeschäft aus Abschiebung, Flüchtlingsbooteversenken und Internierung besteht.

Deswegen hat Frontex einen Fotowettbewerb unter dem treffsicheren Motto Ties that Bind: Bridging borders in modern Europe ausgerufen. Den zynischen Auftrag formuliert Frontex so:

„Oft werden Grenzen als Hindernisse zwischen Bevölkerungen wahrgenommen. Selten werden sie hingegen als wichtige Wegscheide gesellschaftlicher Integration gesehen. […] Die Beiträge sollen die Bedeutung und den Einfluss von Grenzen als Verbindungen in physischer, psychischer, sozialer, kultureller, ökonomischer und ethnischer Hinsicht zeigen.“

(Quelle Frontex)

„Ties that bind“ … kann man mit „Schwellen, die verbinden“ übersetzen. Muss man aber nicht. Im Englischen bezeichnet man auch Kabelbinder als „tie“ und „bind“ heißt eben auch „fesseln.“ Wir wollen das Motto einer subversiven Lesart zu unterziehen und rufen auf sich mit kritischen Beiträgen, die etwas anderes zeigen als „die inspirierende Schönheit europäischer Landschaften“ (Zitat aus dem Aufruf von Frontex) am Wettbewerb zu beteiligen.

Da diese Beiträge keine Preis gewinnen werden, veröffentlichen wir Sie zusammen mit Euren Bildbeschreibungen. Also schickt uns Fotos und Schnappschüsse, die den Widerstand von denen zeigen, die Grenzen überschreiten …

Einsendeschluss bzw. Deadline bei Frontex ist der 30. April. Die Einreichungsunterlagen findet ihr hier. Mehr Informationen über den Wettbewerb von Frontex findet sich hier. Wir veröffentlichen auch Beiträge die später eingehen … und zwar bis zum 15. Mai — auch solche, die nicht bei Frontex eingereicht wurden. Bei Bildern, die bei Frontex eingereicht werden achtet darauf, dass Frontex diese weiter verwenden kann. Es sollten also keine Bilder sein, die sich aus dem Kontext reißen lassen und auf denen z.B. AktivistInnen abgebildet sind, die nicht in Publikationen der Menschenjäger erscheinen wollen.

Beiträge bitte an redaktion@prager-fruehling-magazin.de.

Im Übrigen - wer wider erwarten beim Frontex-Wettbewerb gewinnt, kann gerne die 500 Euro Preisgeld an eine antirassistische Initiative oder den Fluchthelfer seines Vertrauens spenden.

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Als Anregung eine Arbeit unseres Redakteur und Hausfotografen Mark Wagner (s. oben):

Der Text zum Bild: Europa wird von vielen kleinen Grenzen durchzogen. Für manche Menschen fast unsichtbar, sind sie für andere unüberwindbar hoch. Eine solche halbdurchlässige Grenze ist die zwischen Landkreisen in Deutschland.

Flüchtlinge und Geduldete dürfen sie nicht überschreiten. Tun sie es doch, droht Ihnen im schlimmsten Fall ein Strafverfahren und bis zum einem Jahr Haft.

Doch diese Grenzen verbindet auch, genauer gesagt die kollektive Grenzüberschreitung. Seit fast einem Jahr wehren sich Flüchtlinge in Berlin gegen die Residenzpflicht. Sie haben die Grenzen der Landkreise überschritten und protestieren in Berlin. Unter anderem mit einem Protestcamp. Das Bild zeigt eine Teilnehmerin am Hungerstreik vor dem Brandenburger Tor im Kreis von MitstreiterInnen. Es zeigt, dass Grenzen auch verbinden können.

Woodstock, Revolution und Routine

Beitrag von Susanne Götze, geschrieben am 01.04.2013

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weltsozialforum

Das Gelände der Uni Tunis ist nicht gerade einladend. Zwischen Müllhaufen und Imbissbuden schallt aus Lautsprechern „Comandante Che-Guevara“ und spanische Reggaemusik. In endlosen Zeltstraßen reihen sich hunderte Stände sozialer Organisationen, Stiftungen, Pfadfindergruppen aneinander. Ein Marktplatz des Sozialen, Guten, Gerechten.

Die Stimmung dieses 11. Weltsozialforums ist drei Tage lang von den tunesischen Teilnehmern angeheizt worden: Überall wurde getanzt, skandiert, gefeiert und unter Gejohle Fahnen und Symbole zur Schau gestellt. Doch trotzdem regierte auf den Abschlussveranstaltungen eine Art Ratlosigkeit: Wie geht es weiter? Wie kann man global zusammenarbeiten? Wie kann man mobilisieren? Wie das Bewusstsein „der Massen“ wecken? Gegenüber der Macht von Regierungen und multinationalen Konzernen wirkten die verzweifelten Warnungen, erschreckenden Berichte und eindringlichen Aufrufe in den runtergewirtschafteten Seminarräumen der Uni Tunis hilflos. Jeder hatte hier eine Stimme, doch statt wirklichen Diskussionen folgten Wortbeiträge auf Wortbeiträge ohne Zusammenhang und dann war die Zeit auch schon vorbei. Zu vertiefenden oder strategischen Diskussionen kam es selten, nach zweieinhalb Stunden Workshop waren die meisten Zuhörer von den vielen Infos und Erlebnissen derart deprimiert und ausgelaugt, dass der Aufruf zu gemeinsamen Aktionen und Strategiedebatten kaum gelingen konnte, zumal auch dafür kaum die zehn übrigen Minuten auseichten. Wie man dem kapitalistischen Feind da draußen das Handwerk legen kann, war kaum ein Thema, nur dass man es tun muss, ist allen klar.

„Wir haben keine Zeit zu diskutieren und können alles immer nur anreißen“, beschwert sich ein Teilnehmer aus Mali. Tatsächlich hatte man drei Tage lang das Gefühl, dass viele Sprecher vor allem die Leidensgeschichte aus ihrer Heimat loswerden wollen. Die Teilnehmer redeten miteinander als müssten sie sich gegenseitig von der Wichtigkeit ihrer Sache überzeugen. Doch wer zum Sozialforum reist, ist in der Regel schon von ‚der guten Sache‘ überzeugt. Jeder hat eine Geschichte, die noch drastischer zeigt, wie dringend wir eine Revolution brauchen. Manche Teilnehmer - vor allem aus den südlichen Ländern - waren derart verzweifelt und wütend, dass ihre Ansprachen beim Zuhörer vor allem das Gefühl von Ohnmacht hinterließen. Wie soll man diesen ganzen Wahnsinn aufhalten, der überall auf der Welt Familien zerstört, Frauen diskriminiert, Bauern vertreibt, die Umwelt verseucht? Aus den Seminaren des WSF konnte man nur frustriert herauskommen, denn um konkrete Aktionen ging es kaum.

Vielleicht liegt das auch daran, dass die Szene auf einem WSF unter sich ist. Zwischen gleichgesinnten, bunten, linken Freunden diskutiert und scherzt es sich doch viel brüderlicher und man ist sich sicher: Wir sind die Guten! Und da zu einem Forum ohnehin vor allem Funktionäre anreisen können, deren Beruf es ist, die Revolution zu planen, gerät die Veranstaltung leicht zu einem folkloristischen Elfenbeinturm der „Gerechten“.

Doch wozu sind die Aktivisten angereist, wenn diese teuflische Frage erlaubt ist: Um Visitenkarten auszutauschen und sich in den Seminaren gegenseitig zu motivieren? Das ist sicherlich wichtig, doch angesichts der dramatischen Probleme vieler Anwesender viel zu wenig. Lohnt denn der ganze Aufwand, die tausenden Flugmeilen, Millionen Plastikteller und -gabeln für gegenseitige Information und gemeinsames Fahnenschwenken?

Nein, meinen kritische Stimmen auf dem WSF: „Das WSF muss sichtbarer werden und braucht mehr politische Aussagen und Aktionen!“, so fasste ein Sprecher des tschechischen Sozialforums in Worte, was vielen Teilnehmer durch den Kopf ging. Von „Debattierklub“ und „Woodstock“ ist die Rede. Die Kritik wurde aber oftmals schnell wieder mit großen Lobreden auf die vielen Teilnehmerzahlen und dem „Wunder, dass die Wurzeln der neuen Welt zusammenfinden“ abgebügelt. Andere wiederrum finden den jährlichen WSF-Marathon produktiv: „Die Effekte des Forums sind kaum messbar und der Prozess ist ein stetig langsamer“, verteidigt Genevieve Azam von Attac Frankreich das WSF. Die Wirkung von Vernetzung, Mobilisierung und Ideenaustausch sei nicht sofort auszumachen. Zudem solle man sich mal eine Welt ohne Sozialforum vorstellen, meinte die Attac-Vertreterin. Für viele, die hier waren, noch undenkbar.

Während für Europäer und andere demokratieerfahrene Teilnehmer das Forum nach 12 Jahren eher zur Routine als zur Revolution gehört, war es für die Tunesier ein Highlight, die kritische Welt bei sich zu Gast zu haben. „Für uns ist dieses Forum eine große Hilfe. Wir wissen nun, dass wir mit unseren Anliegen nicht allein sind“, erklärte eine junge tunesische Aktivistin, „Unsere Zivilgesellschaft ist noch jung — wir brauchen euch!“. Gerade einmal zwei Jahre ist die neue, demokratische Zivilgesellschaft in Tunesien alt — und das zarte Pflänzchen hat mit einer feindlichen Umgebung zu kämpfen. Während sich die Teilnehmer des WSF schnell an den Anblick von Kopftuch tragenden Aktivistinnen gewöhnten, stutzen viele bei einem Fototermin von in Burkas gekleideten Frauen. Das seien salafistische Studierende, die nichts mit dem Forum zu tun hätten, klärten arabischkundige WSFler auf. Islamistische Gruppen sollen während der drei Tage auch versucht haben, eine Gegendemo auf dem Gelände zu organisieren, das wurde aber von der WSF-Organisation verhindert. Die Graffitis der WSFler auf den frischgestrichenen Mauern der Universität nahmen die Angereisten kaum wahr, in Tunis sind sie hingegen die pure Provokation: „Liebe ist illegal und das Gesetz kriminell“ oder „Freie Liebe!“ Arabische Frauen ließen sich lachend vor einem doppelten Venussymbol fotografieren. Das lässt kurz spüren, mit welchen immensen Problemen die linken Aktivisten in Nordafrika noch zu kämpfen haben und wie wichtig es für sie war, Teil einer kritischen Gemeinschaft zu sein. Daher auch der „Clash of Cultures“ bei der Abschlusskundgebung am Freitagabend: Die Versammlung der sozialen Bewegung, der zentralen Veranstaltung des Forums, war ein einziger Revolutionsrausch. Statt Diskussionen und langwierigen Wortbeiträgen, heizten arabische Aktivisten die Menge des randvollen Amphitheaters an. Es wurde gesungen und Slogans brüllend repetiert „Anti, Antikapitalista!“ und das Fahnen schwenkende Aktivistenmeer schien bereit, sofort auf die Barrikaden zu steigen, für eine neue, „richtige“ Revolution. Viele Europäer verließen dagegen kopfschüttend den Raum. Das war ihnen eindeutig zu viel und zu laut. Und überhaupt: Immer diese Revolutionsrhetorik!

Italienische Verhältnisse

geschrieben am 07.03.2013

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wahlen

Mit 25,4 Prozent wird Beppe Grillos Bewegung 5 Sterne (M5S) die stärkste Kraft in der Abgeordnetenkammer und somit die Überraschung dieser Wahl. Zeit sich ein paar Gedanken über die Konsequenzen für eine politische Linke zu machen. Paola Giaculli hat dies für uns getan. Zum Artikel bitte hier entlang.

Das linke Millieu muss sich Gedanken machen ...

Beitrag von Paola Giaculli, geschrieben am 07.03.2013
Beppe Grillo: Blickt nach links, ist politisch aber nur schwer klassifizierbar.

Mit 25,4 Prozent wird Beppe Grillos Bewegung 5 Sterne (M5S) die stärkste Kraft in der Abgeordnetenkammer und somit die Überraschung dieser Wahl. Im Senat erobert sie mit 23,8 Prozent den zweiten Platz nach der Demokratischen Partei (PD). Verlierer sind die PD, die in der Abgeordnetenkammer im Vergleich zu 2008 8 Prozent, das heißt, ca. 3,5 Millionen Stimmen weniger erhalten hat, dazu die mit ihr verbündete Partei Linke, Ökologie, Freiheit (SEL), die auf 3,2 Prozent kommt, und der ehemalige Regierungschef Mario Monti, der Favorit der EU- und der Wirtschaftseliten, der in Umfragen bei 12 bis 15 Prozent lag. Er muss sich mit 9,1 Prozent im Senat und 10,5 Prozent in der Abgeordnetenkammer zufriedengeben. Eine bittere Niederlage hat die neue linke Formation Rivoluzione civile, ein Sammelbecken von Parteien wie Rifondazione comunista, Italien der Werte (IdV) des ehemaligen Staatsanwalts Antonio Di Pietro sowie verschiedenen Verbänden erlitten: mit 2,2 Prozent für die Abgeordnetenkammer und 1,8 Prozent für den Senat scheiterte sie an der 4-Prozent-Hürde. Trotz heftiger Verluste beeindruckt die Leistung Silvio Berlusconis, der seinem Mitte-Rechts-Bündnis dank eines fulminanten Wahlkampfes immerhin 30,7 Prozent schenkte, während er bis vor ein paar Wochen als „erledigt“ gegolten hatte.

Entgegen den Prognosen der Umfragen hat das Mitte-Links-Bündnis, das insgesamt 31,6 Prozent der Stimmen erhielt, die Wahl nicht gewonnen. Der erstaunlich geringe Vorsprung von nur 0,9 Prozent gegenüber dem Bündnis der Rechten von Berlusconis Partei Volk der Freiheit (PdL) mit 22,3 Prozent, der Lega Nord mit 4 Prozent und anderen kleineren Formationen reicht aufgrund des komplizierten Wahlrechts trotz der numerischen Mehrheit nicht aus, um eine Mehrheit im Senat zu bilden. Berlusconis Bündnis hat in den großen Regionen des Nordens und Südens gewonnen, denen viele Sitze zustehen. Einen noch geringeren Vorsprung von 0,35 Prozent, bzw. 125 000 Stimmen hat das Mitte-Links-Bündnis im Abgeordnetenhaus, wo es insgesamt 29,44 Prozent erhielt. Aber hier reichte das im Unterschied zum Senat aus, um auf die absolute Mehrheit (340 von 620 Sitzen) zu kommen. Dank des absurden und ungerechten Wahlrechts, das Berlusconi 2005 einführte, hat er sein Ziel erreicht, Störfaktor zu spielen. Im Senat verfügt kein Bündnis über die nötige Mehrheit, um eine Regierung zu bilden.

Porcellum – die „Schweinerei“ - Das italienische Wahlsystem

In Italien hat das Parlament zwei Kammern: die Abgeordnetenkammer (620 Sitze) und den Senat (315 Sitze). Beide haben politisch das gleiche Gewicht. Für beide gilt ein Verhältniswahlrecht mit Mehrheitsbonus, das aber unterschiedlich gehandhabt wird. Wer in der Abgeordnetenkammer die relative Mehrheit der Stimmen gewinnt, erlangt durch den Mehrheitsbonus automatisch die absolute Mehrheit der Sitze (340 von insgesamt 620). Hier gelten folgende Sperrklauseln: für Parteien 4 Prozent, für die einzelne Partei in einem Bündnis 2 Prozent. Das ist eine Lebensversicherung für kleine Parteien, die nur geringe Chancen haben, über die 4-Prozent-Hürde zu kommen. Die Sperrklausel für ganze Wahlbündnisse beträgt 10 Prozent. Im Senat gibt es ebenfalls einen Mehrheitsbonus. Dort erhält jede Region Italiens eine bestimmte Anzahl von Sitzen, die nach der Bevölkerungszahl festgelegt wird. Die Partei, die in einer Region gewinnt, erhält automatisch 55 Prozent der dieser Region zustehenden Sitze. Im Senat beträgt die Sperrklausel für Parteien 8 Prozent, für die einzelne Partei in einem Bündnis 3 Prozent und für ganze Wahlbündnisse 20 Prozent.[1]

„Wir und Montis Partei stehen gemeinsam für Europa“ — Die PD auf der Seite des unsozialen Europas

Angesichts der desolaten Ausgangslage des Bündnisses der Rechten hat Berlusconi trotz der schweren Verluste geradezu ein Wunder bewirkt.[2] Als er im Dezember 2012 das Ruder der Partei wieder in die Hand nahm, hätte niemand auf einen solchen Aufschwung gewettet. Das spricht für seine kämpferischen Fähigkeiten, aber auch für die Unfähigkeit des Mitte-Links-Bündnisses, eine Alternative anzubieten. Erneut konnte Berlusconi mit Lockangeboten, zum Beispiel der Rückzahlung der Immobiliensteuer und einer Steueramnestie, punkten. Da störte es nicht, dass er die Regierung Monti zusammen mit der PD unterstützt und daher selbst zur Einführung der unpopulären Immobiliensteuer beigetragen hatte (ca. 80 Prozent der Italienerinnen leben in Eigentumswohnungen). Mit seinen Wahlversprechen, u.a. diese Steuer abzuschaffen, konnte er wieder aufsteigen.

Der Spitzenkandidat des Mitte-Links-Bündnisses und PD-Chef Pier Luigi Bersani reagierte darauf mit der Erklärung: „Wir machen keine Versprechungen, die wir nicht halten können“. Da half es ihm und seinem Bündnis auch nicht, Berlusconi Populismus vorzuwerfen, denn er war nicht in der Lage, für die dramatische soziale Lage mit einer Arbeitslosigkeit von 12 Prozent — unter Jugendlichen sogar 36 Prozent — eine konkrete Lösung anzubieten. Stattdessen versprach er die Einhaltung des Reformkurses und der europäischen Verträge inklusive des Fiskalpakts, die die Lage im Lande weiter drastisch verschärft haben. Die Einhaltung des Fiskalpakts würde Italien zwanzig Jahre lang einen jährlich um ca. 47 Milliarden Euro gekürzten Haushalt auferlegen. In mehreren Interviews mit internationalen Medien suchte Bersani die Finanzmärkte und die Troika von der „Zuverlässigkeit“ einer zukünftigen Mitte-Links-Regierung zu überzeugen. Diese werde die Spardiktatspolitik der EU fortsetzen.[3] Er halte den Sparkurs für richtig, ebenso die Arbeitsmarktreform (Abschaffung des Kündigungsschutzes und weitere Flexibilisierung) sowie die Rentenreform (Anhebung des Rentenalters), denen er bereits im Parlament zugestimmt hatte. Trotz der zum Teil abweisenden Haltung Montis im Wahlkampf würdigte Bersani den Ministerpräsidenten weiter für seine „Leistung“ in der Krise. Außerdem erklärte er sich bereit, mit Monti zu koalieren, selbst wenn der Wahlausgang für eine Mitte-Links-Regierung ausreichen sollte. Anfang Februar traf er sich mit Finanzminister Schäuble in Berlin, um den Schulterschluss zu demonstrieren. Stefano Fassina, der als Sprecher des linken Flügels der PD gilt, erklärte gegenüber ZEIT online: „Unser Parteivorsitzender Pierluigi Bersani und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble sind einer Meinung darüber, dass die Eurozone einen Super-Sparkommissar braucht, der darauf achtet, dass sich die Mitgliedstaaten an die geplanten Sparmaßnahmen halten. Wir verstehen die Bedenken der deutschen Steuerzahler gegenüber der fehlenden Haushaltdisziplin mancher europäischen Länder und sind deshalb überzeugt, dass eine zentrale Aufsichtsbehörde dringend nötig ist“.

Die Unfähigkeit und der Unwille, die echten Probleme der Menschen anzugehen, wurden schwer bestraft. Vielen Menschen wird kaum aufgefallen sein, dass Monti sie oder Italien „gerettet“ habe, wie das Mantra in der europäischen Öffentlichkeit und italienischen Medien lautet. Für Arbeitnehmerinnen, Jugendliche, Arbeitslose und Rentnerinnen hat sich die Krise noch verschärft. Im Bildungs- und Gesundheitswesen wurde wie unter Berlusconi weiter gekürzt: Stellen für Hilfslehrerinnen, die sich um behinderte Kinder kümmern und Gelder für verschiedene Patientengruppen wurden gestrichen. Im „reformierten“ Rentensystem wurden ca. 400 000 Arbeitnehmerinnen, die nach Absprache mit ihrem Betrieb und den Gewerkschaften in die Frührente hätten gehen sollten, im Stich gelassen. Sie haben wegen der Anhebung des Rentenalters weder einen Job noch eine Rente. Hingegen wurde der Einkauf von F-35-Bombenflugzeugen für 17 Milliarden geplant, große Vermögen und Steuerhinterzieher wurden geschont.

Kein Wunder, dass Monti, der zum ersten Mal mit einer eigenen Parteienliste angetreten ist, nicht sonderlich erfolgreich war. Zwar wurde er von EU-Institutionen und vielen europäischen Regierungen bejubelt, aber seine Regierung ist verantwortlich für die weitere Verarmung der Bevölkerung, inklusive der Mittelschichten. „Es gab keine Alternative zur Austeritätspolitik“, erklärte Monti ungeachtet der Quittung der Wähler für diese Politik. Wie realitätsfern man sein kann, hatte bereits die PD gezeigt: „Wir und Monti stehen gemeinsam auf der Seite Europas“, sagte Fassina im ZEIT-online-Interview. Der ehemalige Goldman-Sachs Berater Prof. Monti konnte im Übrigen seine unsoziale Politik nur dank der Zustimmung einer parlamentarischen großen Koalition mit PdL und PD durchsetzen. „Wir sind stark davon überzeugt“, erklärte Fassina in seinem Interview weiter, „dass wir über die nötige Mehrheit verfügen werden, um eine Regierung zu stellen. Außerdem glaube ich nicht, dass Berlusconi bei dieser Wahl eine Gefahr für die politische Stabilität Italiens darstellt. Die eigentliche Gefahr geht eher von Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung aus. In dem er die soziale Unruhe, die von der Krise ausgelöst wurde, für seine politischen Zwecke nutzt, schafft Grillo nur mehr Unruhe“. Wollte sich die PD überhaupt um diese soziale Unruhe kümmern bzw. die Gründe dafür angehen? Die PD hat ein Drittel ihrer Stimmen verloren und damit ihr schlechtestes Ergebnis erzielt. Für die oben genannte Frage hatten die Wählerinnen offensichtlich eine klare Antwort: Nein.

In Brüssel, Berlin oder Paris muss man sich jetzt fragen: Wie lange wird es noch möglich sein, den Menschen eine Austeritätspolitik aufzuzwingen, die sie in Italien, aber auch in Spanien, Griechenland und Portugal in immer größerer Zahl ablehnen? Wie lange wird das möglich sein, ohne diesen eklatanten demokratischen Bruch zu vertiefen? Wie lange wird dieser Widerspruch noch halten, ohne in nächster Zukunft die EU zu bedrohen? Diese Fragen können die europäischen Gremien nicht mehr ignorieren.[4]

„Wir schicken alle nach Hause“ – Grillo und die M5S: Alles nur Populismus?

Grillo hat eine lange Theaterkarriere hinter sich. Er war in den 70er und 80er Jahren ein beliebter Fernsehkomiker, bevor er aus dem öffentlich-rechtlichen Sender RAI verbannt wurde, weil er Bettino Craxi und seine korrupten Sozialisten, die damals Italien regierten, „beleidigt“ hatte. Er hat schon immer politisches Theater gemacht: Gegen Atomkraft, für den Schutz der Verbraucherinnen. Seit Langem wirft er Großunternehmen vor, nicht mehr an der Produktion, sondern nur noch am Profit interessiert zu sein. Verbraucher- und Bodenschutz, Umwelt und Wasser sind seine Hauptthemen, dazu das Wettern gegen die „Politikerkaste“. Vor sechs Jahren hat mit seinem „V-Day“, Aufsehen erregt, dem „Leck-mich-am-A****-Tag“ für ein sauberes Parlament mit gleichzeitigen Live-Aktionen auf vielen Plätzen Italiens. Dadurch wollte er eine Petition für eine Wahlrechtsreform, eine drastische Reduzierung der Abgeordnetendiäten und den Ausschluss von Vorbestraften aus dem Parlament erreichen. Seitdem ist er für seinen aggressiven, vulgären Ton gegen das politische Establishment — „Die sind doch alle gleich (korrupt)! Wir schicken sie alle nach Hause!“ – bekannt.

Seit 2005 betreibt er seinen eigenen Blog, auf dem er die Finanz- und Wirtschaftwelt beobachtet. Zusammen mit seinen Aktivisten setzt er sich für partizipative Demokratie (Bürgerhaushalt), öffentliche Daseinsvorsorge, erneuerbare Energien, gegen Aufrüstung und prekäre Arbeitsverhältnisse, für soziale Gerechtigkeit, gerechte Renten und die Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen ein. Das sind linke Forderungen, die die sozialen Bewegungen und auch Rifondazione comunista thematisieren. Grillo hat die „NO-TAV-Bewegung“ im Susa-Tal von Piemont unterstützt, wo Gemeinden und Bauern seit Jahrzehnten gegen das umweltschädliche EU-Großprojekt zum Bau der Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke Turin-Lyon kämpfen. Vor drei Jahren war er gemeinsam mit den Linken und vielen anderen Verbänden Initiator des Volksbegehrens für das erfolgsreiche Referendum gegen Atomkraft, für öffentliches Wasser und Daseinsvorsorge.

Im Jahre 2009 gründete Grillo die Bewegung Movimento 5 Stelle (M5S). Sie hat eine vertikale Struktur; er ist der Chef und besitzt daher ihr Logo. Probleme mangelnder innerer Demokratie sind bereits aufgetaucht. 2008, 2010 und 2011 nahm M5S an Kommunal- und Regionalwahlen teil und stellte erste Stadträte. Der Durchbruch kam 2012, als in Parma, in der früheren roten Emilia Romagna, ein „Grillino“, ein M5S-Aktivist, zum Bürgermeister gewählt wurde. In Sizilien wurde M5S mit 14,9 Prozent stärkste Kraft. Die PD erhielt nur 13,4 Prozent. Grillo hat die Verarmung durch die Sparpolitik angeprangert und damit den Nerv der Menschen getroffen, während die PD und SEL ihn als „Populisten“ und Faschisten beschimpften, ohne das soziale Unbehagen wirklich anzugehen. Das zeigte sich auch bei der Abschlusskundgebung seines Wahlkampfes am traditionellen Ort linker Demos, der riesigen Piazza San Giovanni in Rom, an der 700 000 Menschen teilnahmen.

In Italien haben Linke und Rechte die Wut gegen die korrupten Partei- und Wirtschaftseliten gemeinsam. Korruption gab es schon immer, aber ausgerechnet in einer Zeit der tiefen Rezession, da die Sparpolitik den Menschen immer größere Opfer abverlangt, ist sie System geworden. Die jüngsten Skandale betreffen das große Staatsunternehmen Finmeccanica und die älteste Bank der Welt, die Monte dei Paschi di Siena, in deren Vorstand und Aufsichtsrat PD-Vertreter saßen. Rechte wie linke Abgeordnete haben über die Partei- und Fraktionsfinanzierung Steuergelder veruntreut, Hochzeitsfeiern und Restaurantessen für Tausende Euros finanziert, Autos oder auch nur Bücher und Bonbons gekauft. In der Lombardei und in Latium kam es deswegen am 24./25. Februar zu Neuwahlen.

Die M5S-Abgeordneten des Regionalparlaments von Sizilien haben ihre Diäten auf 2500 Euro reduziert, die Parlamentsabgeordneten dieser Partei von 18000 auf 5000 Euro. Der Rest wird für Fonds gespendet – in Sizilien für Kleinunternehmen, die von der Mafia geplagt werden. Bei der Parlamentswahl erzielte die M5S hier 33 Prozent und wurde damit in Sizilien wie auch in Piemont, Sardinien, Ligurien, Marken und den Abruzzen stärkste Partei. Staatliche Parteienfinanzierung wird von ihr abgelehnt, die Bewegung finanziert sich durch Spenden.

Was Grillo sagt, stimmt allerdings nicht immer: Er übertreibt und provoziert gern, „er hat eine groteske Art“, verteidigt ihn Literaturnobelpreisträger Dario Fo, der ihn offen unterstützt hat. Wenn er auch in Richtung der extrem rechten Bewegung „Casa Pound“ Avancen macht, kann er trotzdem nicht als Faschist bezeichnet werden, wie PD-Chef Bersani es getan hat. Im Unterschied zu ihm und anderen Politikern, die sich im Wahlkampf in teilweise halbleeren Theatern verkrochen, ist er bei Wind, Wetter und Kälte mit dem Wohnmobil durch das Land getourt und hat immer auf der „Piazza“, im Freien, auf improvisierten Bühnen gesprochen. Auf seinen Kundgebungen hat er auch gegen die Gewerkschaften gewettert und gefordert: „Weg damit!“ Sie seien so alt wie die Parteien. Betriebe sollen den Arbeitnehmerinnen gehören. Die 163 neu gewählten „Grillini“ (Grillo selbst ist nicht angetreten) sind durchschnittlich 33 Jahre alt, DiplomwissenschaftlerInnen in prekären Arbeitsverhältnissen, Kleinunternehmer, Krankenschwestern, NO-TAV-Aktivisten, Arbeitslose, also ganz „normale“ Bürgerinnen und keine professionellen Politikerinnen. „Wir sind weder links noch rechts“ – „Wir haben keine Ideologien“, behauptet Grillo.

Laut Fausto Bertinotti, ehemaliger Parlamentspräsident und Parteivorsitzender von Rifondazione comunista ist die M5S „eine rabiate Protestformation, die eine völlig neue politische Sprache sowie neue Kommunikationsformen benutzt. … Sie stellt nicht nur der etablierten Politik die Quittung aus, sondern auch der Linken und den Gewerkschaften. Zum ersten Mal in der Nachkriegszeit wird der Massenprotest nicht mehr von der Linken repräsentiert, sondern von einer neuen Bewegung, der Begriffe wie ‚Klassen‘ oder ‚Klassenauseinandersetzungen‘ fremd sind“. Es gibt kein definiertes Programm insbesondere nicht im Finanz- und Wirtschaftsbereich. „Eure Forderungen werden online gestellt“, meint Grillo. Auch die Kandidaten wurden online (auch mit nur ein paar Dutzend Stimmen) gewählt, mit allen Widersprüchen, die so etwas mit sich bringt. Mindestrente, Grundeinkommen von 1000 Euro, eine Mandatszeit von höchstens zwei Legislaturperioden: Viele einzelne Forderungen überschneiden sich mit dem Programm des linken Bündnisses Rivoluzione civile. Grillo hat ein Referendum über den Euro vorgeschlagen, aber das soll wohl ein Witz sein, denn dafür müsste die Verfassung geändert werden. Zum Fiskalpakt hört man von ihm kein Wort. In seinem Blog-Post vom 12. Januar „Das Europa von Goldman-Sachs“ greift er das „parasitäre“ Bankensystem und die Politik der EZB an. Am 2. März erklärt Grillo im Magazin Focus, dass die Schulden neu verhandelt werden sollen, und ruft in einem Interview mit einem griechischen Sender die PIIGS-Länder (Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien) auf, sich solidarisch gegen die Banken zusammenzuschließen.

16 Millionen Stimmen: Eine präzedenzlose Wählerwanderung in Zeiten des Aufruhrs

Von dieser Wahl geht laut und deutlich ein Signal in Richtung Brüssel und Berlin aus. Die italienischen Wählerinnen haben nicht „ohne Verstand“ und nicht „nach Spaß und Laune“ gewählt, wie es die Speerspitze deutscher Arroganz und Besserwisserei, die BILD, behauptet.[5] Sie haben bestimmt nicht „ihre eigene Ehre“ oder gar „die Zukunft eines ganzen Kontinents“ verspielt. Im Gegenteil: Sie haben bewusst ihr „Basta für Weiter so!“ gerufen und an der Urne ihrer Revolte gegen die jetzige EU-Politik Ausdruck verliehen. Damit haben sie kräftig an der undemokratischen und unsozialen Verfasstheit des gegenwärtigen Europas gerüttelt, um seine Zukunft zu retten. Auch die Mediendarstellung der italienischen Politik als ein pro-europäisches/seriöses Lager (Bersani und Monti) einerseits, und ein antieuropäisches/populistisches Lager (Grillo und Berlusconi) andererseits ist angesichts dieser Botschaft irreführend.

Die Wahlbeteiligung ist von 80,5 Prozent auf 75,2 Prozent gesunken, die niedrigste in der Geschichte der italienischen Republik. Von ca. 50 Millionen Wahlberechtigten sind nur etwas über 35 Millionen an die Urnen gegangen. Grillo hat von allen Seiten Stimmen gewonnen: Die meisten der fast 8,7 Millionen 5-Sterne-Wählerinnen waren aber früher Nichtwählerinnen (ca. 3 Millionen d.h. 37 Prozent), Mitte-Links- oder Linkswählerinnen (33 Prozent). Die rechte PdL hat 18 Prozent an die M5S verloren, das gesamte Mitte-Rechts-Bündnis 27,3 Prozent. Laut Roberto Weber, Vorsitzender des SWG-Instituts, seien zwei Haupttendenzen in der 5 Sterne-Wählerschaft festzustellen: Einerseits fordert sie Selbstbestimmung und Demokratie vor Ort; andererseits will sie nicht länger dulden, wie das Parteiensystem und der Staat verwaltet werden.

Besonders schwerwiegend ist die Verschiebung des Kräfteverhältnisses in den „roten“ Regionen Italiens, den traditionellen Hochburgen der KPI, später der Linksdemokraten und letztlich der PD. In den Marken gewann die M5S mit 32,1 Prozent. Die PD, die 2008 41,4 Prozent erhalten hatte, erreichte diesmal nur 27,7 Prozent. Die Region ist wie andere traditionell linke Regionen (Toskana, Emilia-Romagna, wo die PD ebenfalls abgestraft wurde), ein hochindustrialisiertes Gebiet, in dem die Krise heftig zugeschlagen hat, besonders bei den kleinen und mittleren Unternehmen. Da öffentliche Aufträge nicht bezahlt wurden, mussten viele Betriebe bei leeren Kassen ihre Angestellten entlassen und trotzdem Steuern zahlen. Wo die PD traditionell stark war, ist sie zusammengebrochen. Im roten Bologna verlor die Partei auch an Grillo: Die Hälfte seiner Wählerinnen hatten 2008 PD gewählt. 18 Prozent gewann die M5S von der Linken. Im nördlichen Turin, einer industriellen und postindustriellen Stadt mit linker Tradition, wo die 5-Sterne-Bewegung mit 29,1 Prozent den ersten Platz errungen hat, haben ca. 47 Prozent der ehemaligen linken Wählerinnen die M5S unterstützt, bei der IdV waren es 63 Prozent. 20 Prozent der früheren PD-Wählerinnen sind zur 5-Sterne-Bewegung übergelaufen. Die PD hat flächendeckend im Norden wie im Süden um die 33 Prozent der Stimmen verloren. Besonders düster sieht es in den südlichen Regionen Basilicata, Kalabrien und ausgerechnet Apulien aus, das von dem Linken Nichi Vendola (SEL) regiert wird. Auch das Ergebnis von dessen Formation ist ziemlich ernüchternd. Sie erhielt 6,5 Prozent. Bei den Regionalwahlen von 2010 waren es noch 9,7 Prozent. Die PD schrumpfte hier von 31 Prozent auf 18,5 Prozent. Sieger wurde Berlusconis Bündnis. In Siziliens Hauptstadt Palermo ist Grillos Wählerschaft parteiübergreifend: Alle Parteien verloren ziemlich gleichmäßig je 23 bis 30 Prozent ihrer Zustimmung an die M5S.

Laut Valentino Parlato, Mitbegründer der kommunistischen Tageszeitung Il Manifesto gewann Grillo aus zwei Gründen: Erstens, weil er er eine einfache Sprache spreche, sage was Sache ist, was das linke Lager nicht mehr tue. Zweitens, weil er Monti nicht unterstütze, was der Grund sei, warum die PD verloren habe. Er selbst habe SEL gewählt, viele Freunde dagegen die M5S.[6]

Trotz heftiger Verluste siegte das Mitte-Rechts-Bündnis in der Lombardei, paradoxerweise mit Maroni als Spitzenkandidat für die Regierungsführung (42,8 Prozent), dessen populistische Lega Nord sich halbiert hat. Hier hat das Mitte-Links-Bündnis mit Umberto Ambrosoli einen aus linker Sicht nicht allzu überzeugenden Kandidaten aufgestellt. Die Unternehmer, wahrscheinlich besorgt über die Wirtschaftslage angesichts der Exportstärke Deutschlands, haben sich eher für eine „unabhängige Makroregion des Nordens“ entschieden, für die Maroni plädiert hatte. Die PdL von Berlusconi hat trotzdem auch in ganz Italien verloren (insgesamt 46 Prozent der Stimmen). insgesamt gingen 1,6 Millionen Wählerinnen zu Grillo, genauso viele wurden Nichtwählerinnen, 700 000 Stimmen an Monti, genauso viele an andere kleine rechte Parteien, und 300 000 an die PD. Auch die Lega Nord ist eine große Verliererin dieser Wahl. (von 8,3 auf 4 Prozent – von ca. 3 Millionen auf 1,39 Millionen Stimmen). Sie sank besonders drastisch in ihren traditionellen Hochburgen im Norden (Venetien, Lombardei, Piemont), z.B. von 35 Prozent in Venetien bei den Regionalwahlen von 2010 auf jetzt 10-11 Prozent. Hier wanderten 24 Prozent ihrer Wählerinnen in Richtung Grillo ab und 20 Prozent blieben zu Hause. Berlusconi gewann 300 000 Stimmen von der Lega Nord und weitere 200 000 von der Zentrumspartei UDC Casinis, dem das Bündnis mit Monti kein Glück brachte (sein Anteil sank von 2 Millionen auf 610 000 Stimmen). Der Ex-Faschist Fini, der 2010 mit Berlusconi brach, wird nicht mehr im Parlament sitzen. Auch der ehemalige Staatsanwalt Antonio Di Pietro konnte kein Mandat erringen. Die Rivoluzione civile, der seine Partei IdV anschloss, verpasste den Sprung ins Parlament. Außer in der Lombardei wurden die Regionalparlamente auch in Latium (der Region um Rom) und im südlichen Molise neu gewählt. Hier haben die Mitte-Links-Kandidaten gewonnen.

Und die Linke?

In den letzten vier Jahren stellten die SEL, die sich 2009 von Rifondazione abspaltete, und das Linksbündnis (Rifondazione mit weiteren kleinen Formationen) in Italien das parteipolitische linke Lager dar. Beide lagen in den letzen Jahren bei 3-4 Prozent, und konnten daher kein veritables Gegengewicht zur PD darstellen. Eine Zeit lang schien Nichi Vendola der Hoffnungsträger zu sein, insbesondere nach seinem zweiten Erfolg 2010 in Apulien, wo er als Ministerpräsident wiedergewählt wurde. Sein Ziel bestand darin, eine demokratische Urabstimmung des ganzen Mitte-Links-Lagers (PD+Linke) über den Kandidaten für den Regierungschef zustande zu bringen. Sein Name stand für den Wandel. Wenn es 2010-2011 zu einer Urwahl gekommen wäre, hätte er gute Chancen gehabt zu gewinnen, denn seine Popularität war damals sehr groß. Aber die PD wollte zu dieser Zeit keine Urabstimmung, und obwohl ständig von Neuwahlen die Rede war, wurde daraus nichts. Nicht einmal im November 2011, als Staatspräsident Napolitano unbedingt Mario Monti als Premier wollte, statt nach dem aufgezwungenen Rücktritt Berlusconis das Parlament aufzulösen. Vendola gab zu, dass er der Regierung Monti das Vertrauen gegeben hätte, wenn er im Parlament gesessen hätte. Er hätte sie unterstützt, wenn diese eine Vermögenssteuer eingeführt hätte. Vielen Linken war aber von Anfang an klar, dass Monti den Anweisungen der Troika Folge leisten würde. Vendola ging dann in ein Bündnis mit der PD, weil er „auch gewinnen und regieren wollte“. Zum Schluss beteiligte er sich im November 2012 an der Urabstimmung des Mitte-Links-Lagers, wo er nach Bersani und MatteoRenzi, dem Bürgermeister von Florenz und PD-Erneuerer von rechts, an dritter Stelle landete. Voraussetzung für die Urwahlkandidaten war die Unterzeichnung einer Absichtserklärung. Darin verpflichtete sich auch Vendola u.a. zur Einhaltung der europäischen Verträge und dazu, „bei allen wirtschaftlichen und institutionellen Maßnahmen, die in den nächsten Jahren nötig sein werden, um die Währungsunion zu verteidigen, in Richtung einer föderalistischen, politisch-wirtschaftlichen Regierung der Eurozone zu gehen“. Im Fall von Meinungsverschiedenheiten sollte „eine qualifizierte Mehrheit“ entscheiden. Als demokratische Praxis ließ die Kandidatenurwahl viel zu wünschen übrig. Dies sowie Vendolas politische und strategische Positionierung enttäuschten sehr viele SEL-Anhängerinnen, die nicht daran glaubten, dass ein Mitte-Links-Bündnis einen Kurswechsel herbeiführen könnte, weil die PD für den Sparkurs stand.

Andererseits kritisierte Rifondazione comunista das neu verfasste Europa des Spardiktats, während andere Teile des Linksbündnisses erklärten, sich bei der PD-Urwahl beteiligen und eine Mitte-Links-Regierung unterstützen zu wollen. So z. B. der Vorsitzende der Comunisti italiani, Oliviero Diliberto.

Im Herbst 2012 lancierten einige parteilose Intellektuelle und Wissenschaftler einen Appell für den Kurswechsel: Cambiare si può, hieß er, etwa: We can change. Sie plädieren für die Revidierung der europäischen Verträge, insbesondere die Abschaffung des Fiskalpakts und der Sparpolitik, für öffentliche Daseinsvorsorge, Grundeinkommen, für Abrüstung, für öffentliche Investitionen zugunsten der Beschäftigung. Als zu Neuwahlen aufgerufen wurde, versuchten diese Aktivisten Versammlungen und demokratische Teilhabe für eine eigene Listenaufstellung einzuführen. In Italien gibt es kein Parteiengesetz: Das jetzige Wahlrecht ermöglicht Parteigremien eine völlig willkürliche Kandidatenaufstellung. Die Unterstützerinnen des Appells hatten nichts gegen Parteien, aber sie wünschten von deren Seite Zurückhaltung, denn auch im linken Lager ist das Misstrauen gegenüber der etablierten Politik sehr stark, insbesondere nach der Leistung der letzten Jahre (Regierungsbeteiligung 2006-2008, Scheitern der Regenbogen-Linken 2008 und nachfolgende Zersplitterung).

Parallel schlug Luigi de Magistris, der im linken Lager beliebte Bürgermeister von Neapel, Anti-Mafia-Staatsanwalt Antonio Ingroia als Spitzenkandidat einer linken Liste vor. Dieser beteiligte sich an den Treffen der Verbände, organisierte aber seinerseits Anfang Dezember eine Versammlung, zu der er auch die Verbände einlud. Viele hatten keine Einwände gegen ihn als Spitzenkandidat; die Art und Weise aber, wie er offiziell auf einer Pressekonferenz mit Unterstützung des Linksbündnisses und der IdV von Di Pietro mit eigenem Logo (Rivoluzione Civile) kandidierte, verärgerte viele parteilose Aktivisten. Die meisten, die in einer Petition online mitmachten, entschieden sich trotzdem, ihn zu unterstützen. Ingroias Schwerpunkt war eher der Kampf gegen die Mafia und die Korruption, aber dann übernahm er auch die programmatischen Punkte der Unterstützerinnen des Appells für einen Kurswechsel in Europa. Ingroia ist kein fulminanter Redner, außerdem wurde er von den Medien boykottiert und vom Mitte-Links-Bündnis als Konkurrenz verachtet. Dieses versuchte die Wählerinnen zu überzeugen, dass Stimmen für Rivoluzione civile verschenkt seien. Wie schon 2008 bleibt die Linke mit ca. 765 000 Stimmen weit unter der 4-Prozent-Sperrklausel. Die SEL liegt in der Kammer bei 3,2 Prozent (ca. 1 Millionen Stimmen) und im Senat bei 2,97 Prozent. Die Regenbogenlinke (Sinistra Arcobaleno) lag 2008 bei 3 Prozent (ca. 1,25 Millionen Stimmen). Genaue Zahlen gibt es nicht, aber laut Renato Mannheimer soll die PD auch an die SEL verloren haben.

„Der Erfolg der M5S zeigt, dass die Linke in Italien verschwunden ist – nicht die „radikale Linke, die schon 2008 hinweggefegt wurde“. Diesmal wurde an der Stammwählerschaft der früheren KPI, jetzt PD heftig gerüttelt (Allegri/Ceccarelli).

Aus dem politisch-parlamentarischen System ist die Linke endgültig verschwunden. Das spricht für eine Krise des Systems der repräsentativen Demokratie. Die Linke „in der Gesellschaft, in den Bewegungen gibt es schon“, meint Bertinotti. Früher war nur Rifondazione als Partei in der Lage, sich mit den Bewegungen auseinanderzusetzen. Viele Forderungen von beiden sind von den 5-Sterne-Aktivisten auf eine unstrukturierte und nicht ideologische Art übernommen worden: Die M5S hat auch aus diesem Grund gewonnen. Wie sie sich trotz aller Widersprüche weiter entwickeln wird, wird sich mit der Zeit erweisen. Das linke Milieu muss sich jetzt darüber Gedanken machen – und die Debatte hat gerade erst angefangen.

Quellen:

Wählerwanderung:

La Repubblica, Un terzo dalla sinistra, 18 Prozent dal PdL così Grillo ha fatto il pieno di voti, 27. Febbraio 2013-03-01 (Analysen: Swg und Istituo Cattaneo, Bologna)

Corriere della Sera, Si sono spostati 16 milioni di elettori, 27.2.2013 (Analyse von R. Mannheimer)

Corriere della Sera, L’Exploit grillino a Bologna: “rubati” a Bersani il 50 Prozent di consensi, 27.2.2013 (Analyse von Istituto Cattaneo)

Sole24ore, Grillo prende voti da tutti i partiti, 27.2.2013 (Analyse von Roberto D’ALimonte und Lorenzo De Sio)


Hintergrundinformation:

Paola Giaculli, Die Verschärfung der sozialen Lage, 3. September 2012


Fußnoten:

[1] Die aktuelle Sitzverteilung: Abgeordnetenkammer: Mitte-Links-Bündnis: PD 292 SEL 37 Andere 11 = 340, Mitte-Rechts-Bündnis: PdL 97 Lega Nord 18 Andere 9 = 124, M5S: 108, Monti Andere 45; Senat: Mitte-Links-Bündnis: PD 105 SEL 7 Andere 1 = 113, Mitte-Rechts-Bündnis: PdL 98 Lega Nord 17 Andere 1 = 116, M5S: 54, Monti: 18.

[2] Berlusconis Anteil in der Kammer sank von 47 Prozent (ca. 17 Millionen Stimmen) auf 29,17 Prozent (ca. 9,9 Millionen Stimmen).

[3] Vgl. Wall Street Journal vom 9.12.2012, Financial Times vom 26.12.2012.

[4] Basta così, in Le Monde, 27.2.2013.

[5] Vgl. Schlechte Wahl, Italien! in BILD vom 27.2.2013.

[6] Vgl. Interview in La Stampa, 26.2.2013.


Zwischen Stühlen

Beitrag von Bernd Hüttner, geschrieben am 15.02.2013
Schritt für Schritt ...

Der Anarchismus, speziell der Anarcho-Syndikalismus, gehört zur historischen Arbeiterbewegung und insofern zum Kanon linker Geschichte. Während die traditionelle Arbeiterbewegung Gerechtigkeit und Solidarität betont, macht der Bezug auf Freiheit den Wert des Anarchismus aus. Heutzutage okkupiert der Neoliberalismus den Begriff der Freiheit, während die Linke mehr den der Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellt. Die Herausgeber des vorliegenden Bandes, der Publizist Karsten Krampitz und der Berliner Landesvorsitzende der LINKEN, Klaus Lederer, eint die Ansicht, dass sich Freiheit und Gerechtigkeit bedingen und die Linke sich eine höhere Wertschätzung für individuelle Freiheiten zu eigen machen müsse.

Die beiden haben Texte einer bunten AutorInnenschar versammelt: Vom Journalisten Robert Misik, demVerleger Jörn Schütrumpf, polar-Mitherausgeber Robin Celikates, über den bekannten Berliner Altanarchisten Jochen Koblauch, der Anarchistin Emma Goldman bis zum Linken-Bundestagsabgeordneten und Kriminalpolizisten Frank Tempel.

Knoblauchs Beitrag enttäuscht. Er behauptet zum Beispiel: „je größer eine politische Einheit, desto willkürlicher werden die Normen“. Dann müsste die Schweiz ein Hort der Liberalität sein. Misik beschreibt in seinem Text, der auf seinem Buch „Halbierte Freiheit“ beruht, wie die politische Rechte der Linken den Freiheitsbegriff entwendete. Misik und auch Lederer zeigen, dass Linke ihre Schwierigkeiten mit der Autonomie des Individuums haben, eine nur kollektiv denkbare Gerechtigkeit sei ihnen dann doch wichtiger.

Konstanze Kriese lässt die Erinnerung an Emma Goldman (1869-1940) aufleben und kritisiert unter Berufung auf den heute weitgehend vergessenen Arbeiterhistoriker Erhard Lucas die männerbündlerischen Seiten der historischen Arbeiterbewegung — den Anarchismus eingeschlossen. Kriese weist im Rückgriff auf Goldman darauf hin, dass sich politische Ideen nur als Kultur- und Wertedebatten weiterentwickeln lassen. Sie schreibt, dass sich für die Linke der kulturelle Wert und die Substanz von Solidarität „nicht mit Quittungsblöcken herbeidiskutieren lässt“.

Schütrumpf schlägt in eine ähnliche Kerbe: Schon Rosa Luxemburg habe in gewohnter Schärfe, Bildung als Hilfe zur Selbsthilfe angesehen und darauf hingewiesen, dass Emanzipation nicht mit antiemanzipatorischen Mitteln von statten gehen könne. Die Linke müsse an der Selbstemanzipation ihrer Mitglieder und Sympathisant_innen interessiert sein.

Der sonst eher antiimperialistisch denkende Peter Schäfer, Büroleiter der Rosa Luxemburg Stiftung in Ramallah und demnächst in Kairo, plädiert unwillentlich postmodern gegen einen universalistischen Emanzipationsbegriff. Am Beispiel der Muslimbruderschaft zeigt er die Folgen auf, die es hat, wenn die Linke den Alltag der Menschen ignoriere. Dieses Vakuum füllen dann andere. Der westlichen Linken fehle es an Einfühlungsvermögen in, wenn nicht gar Verständnis für die arabischen Gesellschaften.

Wolfgang Seidel Mitbegründer der Ton, Steine Scherben schreibt über Rock und Pop im Kapitalismus. Sein Beitrag ruft ins Bewusstsein, dass es vor allem ArbeiterInnen waren, die den Rock´n Roll in den 1950ern goutierten — zehn Jahre vor dem akademisch geprägten „1968“. Besonders absurd sei es, wenn im historischen Ostblock die Jugend das Versprechen auf ein besseres Leben und die Befreiung von Zwängen nicht mit der kommunistischen Partei, sondern mit der westlichen Popkultur identifizierte. Heute habe Popmusik, die längst Mainstream sei, die Funktion, die früher die Wehrpflicht hatte, sie sei nun die Schule der Nation.

Markus Liske kritisiert den habituellen und politischen Konservativismus der Berliner Anarcho-Szenen. Diese seien von Vereinsmeierei geprägt und produzierten Kitsch statt Gegenkultur. Weitere Beiträge behandeln Pierre-Joseph Proudhon, die sexuelle Selbstbestimmung von behinderten Menschen und Barrierefreiheit in Bordellen, Drogenpolitik und die Geschichte des DDR-Oppositionellen Rudolf Mucke, der 1995 Suizid verübte.

An dem Buch, das insgesamt 29 Artikel enthält, werden viele Kritik üben. Den ParteianhängerInnen dürfte es zu anarchistisch, zu kritisch und frech, zu un-Partei-isch sein. Den AnarchistInnen werden zu viele Parteifunktionäre dabei sein. Viele werden es gar nicht einordnen können und sich womöglich fragen, wie es sein kann, dass Klaus Lederer als langjähriger Vorsitzender einer ehemaligen Regierungspartei solch ein Buch mit herausgibt? Ein Buch das sehr viele lesenswerte Beiträge enthält, auch zu Themen, die sonst nicht im Fokus der Linken stehen. Áber so ist es nun mal: Nur wer zwischen den Stühlen sitzt, ist wirklich frei.

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