Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog

Wedel lechts noch rinks funktionielt nicht lecht

Beitrag von Bernd Hüttner, geschrieben am 19.11.2012
Piraten ... oft sehr männlich und auf zumindest farblich neutraler Plattform.

Die Debatte über die Piratenpartei fand und findet vor allem im Netz und in den Tageszeitungen statt. Die Literaturlage, was Bücher über die Piraten angeht, ist erstaunlicherweise immer noch sehr überschaubar. Neben dem dünnen Schnellschuss Meuterei auf der Deutschland: Ziele und Chancen der Piratenpartei von Alexander Hensel/Stephan Klecha/Franz Walter (Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 95 Seiten), ist nur noch „Unter Piraten. Erkundungen in einer neuen politischen Arena“ herausgegeben von den Wissenschaftlern Christoph Bieber und Claus Leggewie (transcript verlag, Bielefeld 2012) zu nennen. Stefan Appelius, der nach Tätigkeiten als Hochschullehrer mit dem Schwerpunkt Zeitgeschichte an den Universitäten Oldenburg und Potsdam derzeit Pressesprecher der Piratenfraktion im Schleswig-Holsteinischen Landtag ist, hat mit „Das Betriebssystem erneuern“ ein Buch aus einer gewissen Insiderperspektive vorgelegt.

Alle diese Titel lagen beim Schreiben dieser Buchkritik nicht vor, so dass ein Vergleich mit dem nun vorzustellenden Buch entfallen muss. Eine kurze Kritik der letzten beiden genannten Bücher hat der NDR hier publiziert.

Oskar Niedermayers Buch, das im Frühsommer 2012 abgeschlossen wurde, versammelt zu einem für einen Wissenschaftsverlag ungewöhnlich niedrigen Preis 13 Artikel von insgesamt 12 Autor_innen. Über diese fehlen leider, außer der, dass Niedermayer Professor an der FU Berlin ist, im Buch weitere Angaben.

Niedermayer will, so schreibt er zu Beginn „eine Analyse“ der Piratenpartei liefern und ihre Erfolgsbedingungen beleuchten. Der Erfolg einer (neuen) Partei im Parteiensystem wird nach Niedermayer in sechs Stufen gemessen. Sie lauten: Wahlteilnahme, Wettbewerbsbeeinflussung (die anderen müssen reagieren), Einzug in ein Parlament (sprich: Landtag), viertens die koalitionsstrategische Inklusion (Einbeziehung in Regierungsüberlegungen) und schließlich fünftens Regierungsbeteiligung und sechstens Regierungsübernahme (man ist stärkste Partei). Die Piraten erreichen mit dem Wahlerfolg in Berlin 2011 nur fünf Jahre nach ihrer Gründung am 10. September 2006 schon die vierte der sechs Stufen.

Nach einem Beitrag von Henning Bartels, dessen Buch über die deutschen Piraten hier als PDF frei zugänglich ist, zur schwedischen Piratenpartei zeichnet der Herausgeber die Ereignisgeschichte rund um die Piraten und ihre ersten Erfolge nach. Ein erster Schritt ist die Europawahl 2009, und zum Zeitpunkt der Bundestagswahl im Herbst desselben Jahres haben die Piraten – beflügelt durch die Zensursula- und andere Kampagnen - schon 7400 Mitglieder. In den Wahlkämpfen im Saarland und in Berlin 2011 schließlich habe die Piratenpartei ein Vollprogramm angestrebt, das über ihren Markenkern der „Internetpartei“ weit hinausreichte. Das vorherrschende Motiv aus dem heraus für die Piraten gestimmt wird, ist aber weniger ihre Programmatik als vielmehr ihr Versprechen der Transparenz und die Unzufriedenheit mit allen etablierten Parteien. Zum Schluss skizziert Niedermayer die Gefahren und Herausforderungen, vor denen die Piraten seiner Meinung nach stehen.

Der nächste Artikel beschreibt die Wähler_innen der Piraten. Diese sind, wie bekannt, vor allem jung, männlich und ehemalige Nicht-Wähler. Die Selbstzuschreibung der Piraten, sie seien „weder links noch rechts“ funktioniert nicht ganz, denn die Piraten werden sowohl von der Öffentlichkeit wie auch von ihren Wähler_innen deutlich links der Mitte eingeordnet. Nachdem Niedermayer die Organisation und die finanzielle Situation der Piraten referiert hat, untersucht Christoph Bieber die interne und externe Kommunikation der Piraten. Dann berichtet Felix Neumann, dessen Buch über die Piratenpartei hier kostenlos als PDF zugänglich ist, über die Ergebnisse einer auf 2700 Antworten beruhenden Umfrage unter Mitgliedern der Piraten. Zwar bezeichnen sich 60 Prozent derer, die geantwortet haben, als passive Mitglieder, andererseits waren 30 Prozent vor den Piraten schon anderswo aktiv. Zwei Drittel treten für ein Vollprogramm ein, derselbe Anteil ist mit der Kommunikation und seinen eigenen Mitbestimmungsmöglichkeiten zufrieden. Von den Antwortenden waren 91 Prozent „männlich“, zwei Drittel „voll berufstätig“ und 62 Prozent waren „zwischen 20 und 34 Jahre alt“. Zusammengefasst schreibt Neumann, dass nicht ihre parlamentarische Arbeit die Piraten interessant mache, sondern ihr Alleinstellungsmerkmal des „Anders-seins“ und ihre Abkehr „vom Stil der etablierten Parteien“.

Manuela S. Kulick untersucht dann, wie sich die Piraten mit der Existenz des Patriarchat und von Heteronormativität auseinandersetzen: Die Piraten sind neben der FDP die einzige Partei, die keine Quote hat, es wird nicht einmal die Geschlechtszugehörigkeit erhoben, so dass der Frauenanteil auf 5 bis 15 Prozent geschätzt (!) wird. Bei den rot-grünen Parteien liegt er zwischen 31 und 37 Prozent. Kulick interpretiert diese Zahlen dahingehend, dass sie sagt, dass es keiner Partei so gut gelinge, trotz niedrigem Frauenanteil in der Mitgliedschaft so viele Frauen als Wählerinnen (immer hin circa 33 Prozent) zu erreichen, zweitens seien sie die einzige Partei, in der der durchschnittliche Anteil der weiblichen Führungskräfte dem der weiblichen Parteimitglieder entspreche. Letzteres illustriert Kulick mit einer Tabelle, die zeigt dass die Piraten eine zutiefst „männliche“ Partei sind, und auf Bundes- und Landesebene von 100 Vorstandsplätzen exakt 13 mit Frauen besetzt sind. Nichtsdestotrotz sieht sich laut Umfragen die Mehrheit der Piraten als „post-gender“. Die meisten lehnen mit dieser Meinung aber die Analyse von Geschlecht als Strukturkategorie nicht grundlegend ab, halten sie nur nicht für ausreichend oder allerklärend. Abschließend referiert Kulick ausführlich die Ergebnisse der Umfrage zur Genderproblematik des Kegelklub einer kleinen Gruppe, die inner- und außerhalb der Piraten zur Geschlechterproblematik in der Piratenpartei arbeitet.

In einem weiteren Artikel erörtert Felix Neumann die programmatische Entwicklung der Piratenpartei. Zentral sei dort die postulierte sog. Plattformneutralität, die, so jetzt meine Interpretation, davon ausgeht, Technik sei neutral, es also nur darauf ankomme, wie sie eingesetzt wird. Dies wurde in den 1970er und 1980er Jahren unter undogmatischen Marxist_innen und Eurokommunist_innen und in den End-1980er-Jahren bei den linken Grünen so diskutiert, dass der Staat eben doch kein Fahrrad sein, auf das sich einfach gesetzt und dann „umgesteuert“ werden könne. Carsten Koschmieder, wissenschaftlicher Mitarbeiter von Niedermayer, untersucht die Arbeit der Piratenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus in deren ersten sechs Monaten.

Niedermayer bietet abschließend einen Überblick über die Reaktionen der anderen Parteien im Feld der Netzpolitik seit der Bundestagswahl 2009 und dokumentiert, soweit vorhanden und mit Stand Anfang 2012, die Positionen der Parteien zu 15 verschiedenen im weitesten Sinnen netzpolitischen Themenkomplexen, von Urheberrecht über Breitbandversorgung bis zu open data.

Zusammengefasst handelt es sich hier um ein solides politikwissenschaftliches Fachbuch, das eine Unmenge an Statistiken und Fakten über Wähler_innen, die Partei selbst und ihre Wahrnehmung in der Gesellschaft bietet. In etlichen Artikeln wird deutlich, wie es die Politolog_inen in Zweifel stürzt, dass eine Partei, die kein „strategisches Führungszentrum“ hat, und die sich damit der Personalisierung von Politik verweigert, solch einen Erfolg erzielen kann. Was bei der Lektüre - nicht nur dieses Buches - auffällt: Seit den Erfolgen der Piraten wird die DIE LINKE als etablierte Partei wahrgenommen. Deren Nimbus des neuen und anderen ist endgültig verflogen.

Weitere Hinweise auf Materialien zur Debatte um die Piraten

Ein falscher Begriff des Rechts

Beitrag von Helge Meves und Olaf Miemiec, geschrieben am 16.11.2012
Recht auf Freizeit? Die Sozialisten Bebel, Motteler und Vahlteich auf einer Postkarte zum Gewerkschaftsfest im Brauereigarten Leipzig Stötteritz. Prost!

In der Oktoberausgabe des prager frühling hat Stephan Lessenich einen Beitrag zu Emanzipation und Sozialstaat veröffentlich. Mit einer Erwiderung von Helge Meves und Olaf Miemiec eröffnen wir eine Diskussion, die in Kürze auf diesem Blog fortgesetzt wird.

Stefan Lessenich hat im „Prager Frühling“ einen Aufsatz zum Sozialstaat veröffentlicht, der Anregungen zum Widerspruch bietet. Sicher teilen wir seine Überzeugung, dass einem Begriff wie „Sozialstaat“ mehr Fortschritt hinsichtlich sozialer Emanzipation zugeschrieben wird als tatsächlich mit ihm verbunden sein muss; und wir teilen seine Überzeugung, dass die Emanzipationsbedürfnisse auch in sozialstaatlich verfassten Gesellschaften alles andere als gestillt sind. Aber leider gibt darüber hinaus eine Reihe von Divergenzen systematischer und historischer Natur, die wir nicht nur nicht verschweigen wollen, sondern die auch diskutiert werden müssen.

Hat der Begriff „Sozialstaat“ eine klare Bedeutung?

Die öffentliche Debatte um den Sozialstaat ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass viele Termini im Gebrauch sind, die ähnliche Funktionen ausfüllen wie der Ausdruck „Sozialstaat“. Im Grundgesetz steht etwas von einem „sozialen Rechtsstaat“, die Konservativen und rechten Sozialdemokraten haben guten Grund, nur von einer „sozialen Marktwirtschaft“ zu sprechen, wobei sie die Rolle des Staates, insbesondere des Rechts, geflissentlich unterbelichten, dann wurde der „aktivierende Sozialstaat“ erfunden, lediglich im Linkssozialismus und bei einigen Sozialdemokraten gibt es noch das sporenhafte Vorkommen des Begriffs der „Sozialen Demokratie“. Der Begriff „Sozialstaat“ schillert daher, er hat eine schwer zu klärende Semantik.

Vieles in dem Beitrag von Lessenich scheint daher auch einem Klärungsbedürfnis zu folgen. In einigen Punkten sehen wir auch Nähe: „Einerseits steht in der Tat die Gewährleistung menschenwürdiger Existenzbedingungen, in vielen Fällen darüber hinaus auch die Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe für möglichst breite Bevölkerungsschichten im Zentrum des sozialstaatlichen Zielkatalogs – und damit auch die Wahrung sozialer Integration. Andererseits aber ist der moderne Sozialstaat sowohl funktional wie normativ mit einer marktförmig-besitzindividualistischen Gesellschaftsordnung verbunden, deren Funktionsfähigkeit und Akzeptanz er stützt. Und schließlich zielt er, angesichts eines wachsenden Apparats öffentlicher Einrichtungen und Verwaltungen, nicht zuletzt auch auf die Stabilisierung und institutionelle Reproduktion seiner selbst.“

Allerdings ist aus unserer Sicht der Ausdruck „normativ“ falsch platziert. Die historische Entwicklung des Sozialstaats in den Debatten zwischen Liberalen und Konservativen vor dem Hintergrund - aber unter Ausschluss - der verschiedenen Positionen in der Arbeiterbewegung zeitigte andere Begründungen. Lassalle wie Marx waren sich einig darin, dass die Emanzipation der Arbeiter das Werk der Arbeiter selbst sein müsse. Marx setzte organisationspolitisch auf Partei und Gewerkschaften. Lassalle hingegen stand gewerkschaftlichen Organisationen skeptisch gegenüber und setzte auf Partei und Staat: mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts würden sich die Interessen der Mehrheit durchsetzen und staatlich realisiert werden. In dieser Funktion des Staats traf sich Lassalle mit Bismarck, der mit dem Zuckerbrot der Sozialgesetzgebung und der Peitsche des Sozialistengesetzes freilich andere Mehrheitsverhältnisse absichern wollte. Konsequenterweise wollte Bismarck die Sozialversicherung darum ursprünglich komplett aus der Staatskasse finanzieren. Seine Idee scheiterte allerdings. Aus der stattdessen eingeführten paritätische Finanzierung entwickelte sich das Recht der Einzahlenden auf Mitsprache und Selbstverwaltung in den geschaffenen Körperschaften des Öffentlichen Rechts. Für die Konservativen war dieses Ergebnis mit Lorenz von Stein ein „Sozialstaat“, für die Liberalen gar „Staatssozialismus“. Diese polemischen Wortschöpfungen waren unbeschadet ihres populären Gebrauchs bis heute mehr eine Reminiszenz an Bismarcks ursprüngliche Idee oder Lassalle. Und unterschlagen in einem das emanzipatorisches Potential mittels Mitsprache und Selbstbestimmung und so auch das normatives Potenzial in der konkreten Institutionalisierung des sozialen Ausgleichs.

Auch widersprechen wir der Annahme, dass der Sozialstaat die Akzeptanz der „marktförmig-besitzindividualistischen Gesellschaftsordnung“ unterstütze. Die Akzeptanz der politischen Herrschaft schon eher. Denn in modernen Gesellschaften wird Akzeptanz von Subsystemen wie etwa der kapitalistischen Wirtschaft gerade nicht normativ generiert, sondern durch Funktionalität gewährleistet. Das ist der latente Zynismus des Kapitalismus: Solange noch ausreichend viele Menschen etwas zu verlieren haben, ist die Neigung der subalternen Klassen, insbesondere der Arbeiterklasse, den Schritt in die politische, soziale und ökonomische Selbstbestimmung, ins Marx’sche „Reich der Freiheit“ zu riskieren, äußerst gering ausgeprägt. Daher ist Protestbereitschaft in Deutschland auch entschieden geringer ausgeprägt als in Griechenland oder Spanien. Das, was Lessenich den „Zielkatalog“ des Sozialstaats nennt, hat wohl am ehesten mit Normativität zu tun. Politische Herrschaft kann unter demokratischen Bedingungen nicht mehr auf Ideen sozialer Gerechtigkeit als Legitimationsressource verzichten.

Und wichtig erscheint uns auch Lessenichs Hinweis auf die Reproduktionsimperative bürokratischer Herrschaft, die den Staat, und damit auch den Sozialstaat, begleiten. Dass die Sozialstaatsbürokratie auch die emanzipativen Momente sozialstaatlicher Institutionen blockieren kann, darf nicht übersehen werden. Wenn die neoliberalen Ideologen der Entstaatlichung ein Ass im Ärmel hatten, dann wohl dies: Jede und jeder hat seine persönlichen abstoßenden Erfahrungen gerade mit Bürokratien, also „dem Staat“, gemacht.

Was jedoch bei aller Betonung von „Normativität“ von Lessenich übersehen wird, ist die Tatsache, dass sich neben den Zielen der Sozialstaatspolitik immer noch eine zweite normative Komponente auffinden lässt: die des Rechts. Denn das Recht ist – zumindest in demokratisch verfassten Gesellschaften – immer auf den normativen Gehalt der Rechtssetzungsverfahren bezogen, die ihrerseits einen institutionellen Bezug zur politischen Öffentlichkeit aufweisen müssen. Wenn Rechtssetzungsverfahren sich von politischer Öffentlichkeit abkoppeln, schwindet mit der Demokratie der Rechtscharakter, übrig bleiben durch exekutive Macht durchsetzbare Regeln. Das kann man gerade beim ESM und Fiskalpakt beobachten, die auch die letzten Restbestände der Demokratie aus der EU-Governance entsorgen.

Demokratisches Recht und Sozialstaat

Das demokratische Recht strukturiert nicht nur den Staat selbst, also seine Gliederung und Arbeitsweise. Das demokratische Recht strukturiert eine Gesellschaft als Ganzes durch seinen Bezug auf die politische Öffentlichkeit. Erst in diesem Verständnis des Rechts kann auch der Grundwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft, also wie es klassisch-marxistisch heißt: der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der kapitalistischen Aneignungsweise, zum Gegenstand der Politik werden. Denn die ökonomische Struktur kapitalistischer Herrschaft und die aus ihr resultierende Machtungleichheit durchkreuzen die Gleichheitspostulate demokratischer Herrschaft. Wir verzichten an dieser Stelle darauf aufzuzählen, wo die Gleichheitspostulate faktisch außer Kraft gesetzt werden. Für uns stellt sich das Verhältnis zwischen demokratischem Staat (der Sozialstaat sein muss) und kapitalistischer „Ungleichheitsstruktur“ offenbar anders dar als bei Lessenich, der meint „so oder so aber prägen sie [die „Antworten“ des Sozialstaats] auf maßgebliche Weise die soziale Ungleichheitsstruktur einer Gesellschaft, die alltäglichen Lebensverhältnisse ihrer Mitglieder und deren individuellen Lebenschancen.“

Diese Formulierung legt nahe, dass der Sozialstaat die Ungleichheit modifizieren kann, aber weitergehende Emanzipationsansprüche nicht zwingend mit ihm verbunden werden müssen. Auch hier ist die Erinnerung an die historischen Fragen hilfreich, die mit dem Sozialstaat gelöst werden sollten. Vor den bismarckschen Reformen bestand die soziale Absicherung aus einem losen Netz aus familiärer Unterstützung, kommunaler Armenfürsorge, ständischen, kirchlichen, großbetrieblichen und genossenschaftlichen Fürsorgeträgern. Eine Sozialversicherung gab es nur für Staatsbeamte und Militärs sowie – als Ausnahme - Bergarbeiter. In der rasanten Industrialisierung entstand die Arbeiterklasse und lösten sich die tradierten Ständeordnungen auf. Deren Sicherungsformen verschwanden mit ihr, so dass die Arbeiter die vielfältigen Risiken für sich und ihre Familien selbst tragen mußten. Ein strukturelles Massenelend, sich summierend aus Wohnungs- und Hungernot, Krankheiten, Unfällen und Tod bei der Arbeit, war die Folge. Die Sozialreformen dagegen ermöglichten der Arbeiterklasse eine erste Emanzipation von den existentiellen Risiken städtischer Industriegesellschaften.

Es ist aber auch in den aktuellen Debatten nicht zwingend, dass der Sozialstaat weitergehende Emanzipationsansprüche ausschließen muss, wenn man die Perspektive wechselt. Und die Perspektive, die wir einnehmen, sieht im Recht des demokratischen Staats die Möglichkeit, die „soziale Ungleichheitsstruktur“ nicht nur zu „prägen“, sondern – in der Tendenz – auch aufzuheben. Das jedenfalls schwebte Wolfgang Abendroth vor, als er den Begriff sozialer Rechte in Richtung einer „Sozialen Demokratie“ interpretierte und dabei den von Marx registrierten Konflikt zwischen Demokratie und Kapitalismus aufgriff. In dieser Interpretation wird die Rede von „Transformation“, sobald sie unter sozialistischem Anspruch von statten gehen soll, auch erst verständlich.

Dabei helfen die von Lessenich einmal schnell erfundenen „Grundrechte“ (er spricht von „Recht auf Grundeinkommen, … Recht auf Grundbeschäftigung, … Recht auf Grundzeit“) keinen Millimeter weiter.

Erstens: Grundrechte sind nicht deshalb Grundrechte, weil es schön wäre, wenn es Grundrechte wären. Grundrechte – das unterscheidet sie prinzipiell von „Staatszielen“ – liegen dann vor, wenn es eine staatliche Gewährleistungsstruktur für sie gibt.

Zweitens, und das sieht man an der Formulierung: Grundrechte garantieren Minima. Wenn etwa das Bundesverfassungsgericht feststellt, dass die Grundsicherungssätze so ausgestaltet sein müssen, dass sie ein Grundrecht auf menschenwürdiges Leben garantieren können, dann wird damit wohl die Existenz einer Schranke formuliert: Unter ein bestimmtes Niveau dürfen Sozialleistungen nicht fallen, gleichgültig was die Kassenlage sagt. Das ist für sich ein Fortschritt, weil es weniger Willkür der Sozialstaatsbürokratien und ihrer politischen Spitzen erlaubt. Deswegen darf eine Linke das nicht geringschätzen. Aber darin etwas Transformatorisches sehen zu wollen, ist Jubel an der falschen Stelle. Genau das ist aber der Punkt bei allen Grundrechten, den sozialen eingeschlossen. Emanzipationsfortschritt ist aber auch die „Gier nach mehr“ und kein Minimalismus.

Drittens: Der ausschließliche Bezug auf Grundrechte als Boden der Selbstbestimmung verdunkelt gerade den Zusammenhang zwischen politischer Selbstbestimmung einer Gesellschaft und der Grundrechtegarantie. Grundrechte sind eben nicht die Bedingung für mehr Demokratie, wie es die Liberalen suggerieren, sondern umgekehrt: mehr Demokratie stärkt die Position von Grundrechten in einer Gesellschaft.

Der Versuch von Lessenich, den Begriff der sozialen Emanzipation auf die Basis (fragwürdiger) Grundrechte zu stellen, verstellt unserer Auffassung nach den Blick auf das Terrain der politischen und sozialen Emanzipationskämpfe von heute: es geht um die Zukunft der Sozialen Demokratie in Deutschland und in Europa, um die Form und den Gehalt der politischen Herrschaft.

Gähn.

Beitrag von Tim Tiger, geschrieben am 14.11.2012

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Es ist zum gähnen. Man hört es überall. Ob rechts, ob links. Ob FAZ oder Neues Deutschland: Die Grünen seien mit ihrer neuen Doppelspitze nun wirklich bürgerlich geworden. Das ist den Platz nicht wert, auf dem es geschrieben steht. Erstens waren die Grünen schon immer eine Partei, deren Wähler- und Mitgliedschaft aus „bürgerlichen“ Hintergründen stammt. Das ist wirklich nichts Neues. Und im Übrigen macht sie dieser Umstand als Partner für die Durchsetzung politischer Projekte sehr attraktiv. Das haben Teile der CDU viel hellsichtiger erkannt als manch Freund der Klassenanalyse vom Küchentisch her. Zweitens sagt das Etikett „bürgerlich“ noch nichts über die Inhalte aus: Wie halten es die Grünen nun mit einer sanktionsfreien Grundsicherung, mit der Abschaffung der Gymnasien oder mit der friedlichen Außenpolitik? Da gilt es nachzubohren. Das Bürgerlichkeits-Argument lenkt von den Angriffsflächen der Neu-Grünen-Allgemeinwohlprosa ab. Und drittens schließlich macht man es dem linken Flügel der Grünen mit dem Gejammer über die Bürgerlichkeit auch zu einfach. Die linken Grünen können darauf verweisen, dass das Image der Grünen vielleicht etwas in Richtung Mitte gerückt ist, im Gegenzug aber viele linke Beschlüsse gefällt worden sind.
Hic rhodus, hic salta! Das kommt uns doch bekannt vor. In der Vergangenheit waren es zumeist SPD-Linke, die ihren historischen Auftrag darin gesehen haben möglichst „linke“ Beschlusslagen auf Parteitagen herbeizuführen, um damit die Partei nach links zu verändern. Kein Gespräch mit linken Sozialdemokraten, das nicht voller Hoffnungen auf den nächsten Parteitag, auf die nächste Sitzung der Programmkommission xy, auf die Vorlage für die Fraktionssitzung am x.x. wäre, um DANN ENDLICH das zu machen, was eigentlich geboten wäre. Nebenbei bleiben Rechtspopulisten wie Sarrazin und Buschkowsky in der Partei und dürfen den rechten Rand des politischen Spektrums in der BRD bedienen. Und man muss die funktionalen Äquivalente zu Alfred Dregger und Manfred Kanther akzeptieren – alles andere würde ja die überaus wichtige Durchsetzung der inhaltlichen Sache, um der es bei Politik eigentlich geht, gefährden. Und natürlich das nächste Wahlergebnis, das so wichtig ist, um DANN ENDLICH loszulegen usw.
Wie die Entwicklung der SPD zeigt ist es genau jenes Herangehen, das komplett falsch liegt. Es geht bei der Parteipolitik im politischen System der BRD eben nicht um Parteitagsbeschlüsse, sondern um Personen, Aufmerksamkeitsmanagement und diskursive Ordnung. Wenn die linken Grünen meinen, man könnte durch Beschlusslagen alleine irgendwas verändern, ohne an der politischen Eintracht der abgehalfterten Führungsriege um Roth, Trittin und Co. zu rütteln, ist ihnen entschieden zu widersprechen. Ohne Konflikte um die Frage, was im grünen Milieu repräsentiert wird, was Anteil hat und was nicht, wird es nicht gehen. Parteitagsbeschlüsse können bedeutend sein, wenn sie einen Konflikt oder eines realen Dissenses zum Ausdruck bringen. In der Regel sind sie ziemlich unwichtig und binden das Handeln der Partei, zumal in Regierungsverantwortung, kaum. Ich sehe es schon vor mir, wie Katrin Göring-Eckhardt gemeinsam mit Peer-Steinbrück vor die Presse tritt und die Sanktionen bei Hartz-IV per Eilverordnung aussetzt. Eher ist doch das Gegenteil wahrscheinlich: Beide werden die Sanktionen verschärfen. Die SPD schimpft auf die Schmarotzer, die Grünen werden versuchen irgendwie die europäische Solidarität mit den armen Griechen dafür in Anschlag zu bringen. Und Claudia Roth wird dann – als Vertreterin des linken Parteiflügels vor die Presse treten – und erklären, dass das nicht der Beschlusslage der Grünen entspricht und das nochmal auf dem nächsten Parteitag in einer Resolution bekräftigt wird! Das kennen Sozis von ihren eigenen Linken und Merkel vom marginalisierten rechtskonservativen Häufchen in ihrem Laden. Sie werden richtig froh sein: Verändern tut das glücklicherweise nichts. In der Regierung wird schließlich Politik fürs ganze Volk und nicht für die Partikularinteressen des Parteitags gemacht.

Der Hahn auf dem Bahnsteig

Beitrag von Thomas Nord und Peter Frigger, geschrieben am 13.11.2012
Dieser Hahn steht am Gleis und ist nicht sehr rebellisch. Wohlmöglich ein deutscher Hahn?

Was sich seit April des vergangenen Jahres angedeutet hat, wird jetzt vollständig sichtbar. Die unterschiedlichen Ratings für Deutschland und Frankreich waren ein Frühindikator für aufkommende politische Differenzen im deutsch-französischen Motor. Mit der Wahl des Sozialisten François Hollande hat sich die politische Zusammenarbeit unmittelbar nach seiner Wahl zunächst verändert. Er setzte einige Wahlversprechen um und setzte sich auf dem EU-Gipfel im Sommer mit Spanien und Italien gegen den Kurs der Bundeskanzlerin durch. Dies stieß im Kanzlerinnenamt auf Unwillen. Im Vorfeld des Dezember-Gipfels, auf dem weitere Reformen der EU beschlossen werden sollen, werden tiefe Spannungen im deutsch-französischen Motor prognostiziert. Die Kanzlerin hat wiederholt ein Szenario in ihren Reden bemüht: Ohne Einigung wird sich die Euro-Krise verschärfen, ohne Einigung fallen der Euro und die EU.

Auf der anderen Seite ratifizierte François Hollande mit seiner Mehrheit auch den Fiskalpakt, den er im Wahlkampf abgelehnt und entschieden bekämpft hat. Ein Großteil seines Wahlsiegs resultiert aus dieser Position, die er nach der Wahl rasch aufgegeben hat. Dennoch bleiben Streitigkeiten zwischen Hollande und Merkel, zum Beispiel in der Frage europäischer Durchgriffsrechte auf die nationalen Haushalte, die der Franzose seinerseits hartnäckig ablehnt. Verständlich, Hollande müsste beständig das Einreisen der Troika und die Bevormundung durch einen europäischen Sparkommissar befürchten. In der Reaktion wirft er der Bundeskanzlerin weitergehend vor, sie strebe nach deutscher Vorherrschaft in Europa. Zugleich setzt er sich in ein Boot mit Wolfgang Schäuble, der seit den 1990er Jahren ein Europa der zwei Geschwindigkeiten favorisiert. Scheinbar widersprüchliche Aussagen, die darauf zielen, die Differenzen zwischen Merkel und Schäuble zu verstärken und einen Keil in die Bundesregierung zu treiben.

Macchiavellistische Politik ist auch auf der deutschen Seite zu beobachten. Gemeinsame Wirtschafts- und Währungsunion ja. Exportvorteil der deutschen Wirtschaft durch den Euro ja. Gemeinsame politische Verantwortung und Haftung nein. Beim Geld hört schließlich die Freundschaft auf. Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit, also Konkurrenz der Mitgliedsstaaten des Euro-Währungsgebiets untereinander, soll die Stabilität der gemeinsamen Währung wieder herstellen. So wird über die Ökonomie auf Frankreich politischer Druck ausgeübt. Das Domino der Ratingagenturen der Jahre 2010 und 2011 wird wieder aufgenommen. Neu ist lediglich, diesmal geht die Gefahr des Scheiterns der Euro-Zone nicht nur von Griechenland, Portugal, Irland, Spanien oder Italien aus, sondern auch von Frankreich, der zweitgrößten Volkswirtschaft in der Euro-Zone und der EU. Da Frankreich auch im Verbund mit Italien und Spanien gegen Deutschland weder Euro-Bonds noch den von ihm vorgeschlagenen Altschuldentilgungsfond durchsetzen kann, wird es auf den Pfad der Austerität gezwungen.

Der Internationale Währungsfonds mahnt zu raschem Handeln und sieht Frankreich ohne weitgehende Reformen den Anschluss an seine Nachbarn verlieren. Laut IWF lag der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung nach 18 Prozent im Jahr 2000 im Jahr 2011 nur noch bei 12,5 Prozent, hinter Deutschland und Italien. Wenn Frankreichs Präsident nicht in absehbarer Zeit umfangreiche Reformen zur Steigerung der französischen Wettbewerbsfähigkeit beschließen lässt und die Staatsfinanzen saniert, wird angedroht, Frankreich in den Fokus der Finanzmärkte zu ziehen. Die Zinsschraube wird nach oben gedreht, die finanziellen Belastungen des Staates erhöht. Resultat war bisher eine weitere Herabstufung durch die Rating-Agenturen. Die Zinsen steigen, der Ausblick wird auf „negativ“ gesetzt, die Abwärtsspirale ist in Gang gesetzt, die Troika beginnt ihre Koffer zu packen.

Angesichts dieser Drohung erscheint der Widerstand des neuen Präsidenten als Beruhigungstropfen für die eigene Klientel. Er unterstreicht die Machtgrenzen selbst großer europäischer Staaten in den Zeiten der Globalisierung. Faktisch bewegt sich Frankreich zurück in die politische Linie von Sarkozy, weil es keine ökonomischen Spielräume hat. Für den französischen Ministerpräsident ist Frankreich der „kranke Mann“ in Europa. Eine Wortwahl, die unmittelbar an die neoliberale Agenda 2010-Offensive der Schröder-Regierung erinnert. Damals wurde Deutschland als der „kranke Mann“ in Europa dargestellt. Die Lohnnebenkosten wurden als zu hoch ausgewiesen. Die Sozialbudgets als nicht mehr tragbar. Das Rentenalter als zu niedrig. Die Produktivität als zu gering. Der Rest ist bekannte Geschichte. Der VW-Mann Peter Hartz wurde beauftragt, Lösungsvorschläge zu erarbeiten, die er am 16. August 2002 präsentierte. Deren Umsetzung in den Hartz-Gesetzen führte zur Abwahl von Schröder im Jahr 2005. Zum 23% Ergebnis für die SPD im Jahre 2009. Zu den Bilanzungleichgewichten in der Euro-Zone durch immense Exportüberschüsse für die Bundesrepublik.

Am 3. November 2012 hat der frühere EADS- und Bahnchef Louis Gallois der Regierung 22 Maßnahmen für eine „Schocktherapie“ vorgelegt, um die Wirtschaft wieder auf Kurs zu bringen. Ein „Wettbewerbsschock“ sei nötig, um die Industriebasis wieder aufzubauen. Über einen Zeitraum von bis zu drei Jahren sollen Arbeitgeber um 20 Mrd. Euro entlastet werden. Das französische „Agenda-2020“ Programm soll über indirekt gesenkte Arbeitskosten Hunderttausende von neuen Jobs schaffen. In Deutschland hat die Agenda 2010 zur massiven Ausweitung des Niedriglohnsektors geführt, die Wirtschaft wird über Lohnaufstockerei subventioniert. Zur Finanzierung sollen im französischen Haushalt in den Jahren 2014 und 2015 insgesamt zehn Milliarden Euro zusätzlich eingespart werden. Die Mehrwertsteuer von 19,6 % auf 20 % erhöht werden. Der z.B. für die Gastronomie geltende Satz soll von 7 % auf 10 % steigen. Der Ministerpräsident appellierte wie einst Roman Herzog, durch Frankreich müsse ein RUCK gehen! Appellen an die Nation folgen in der Regel Zumutungen und Belastungen für die Bevölkerung, derweil sich andere die Taschen vollstopfen.

Mit dem „Agenda-Konzept“ werde eine „entscheidende Etappe“ im Kampf gegen den Niedergang der französischen Industrie eingeleitet, so der Ministerpräsident weiter. Auch dies zeigt, François Hollande leitet keinen Politikwechsel in Frankreich ein. Er ist die Fortsetzung der Sparpolitik mit einem anderen Namen. Das Aufmuskeln gegen Merkel ist Rhetorik an die eigene Wählerschaft. Das linke politische Lager, das François Hollande unterstützt und gewählt hat, gerät in eine starke innere Belastungsprobe. Wenn es zerbricht, stehen gesellschaftspolitische Folgen auf der Tagesordnung, wie in Deutschland nach der Verabschiedung der Hartz-Gesetze. Sie waren der austeritätspolitische Startschuss, aus dem DIE LINKE hervorgegangen ist und der ihr in der Bundestagswahl 2009 zu 11,9% verholfen hat. Jedoch darf ein Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich nicht vergessen werden. In Deutschland wird vor dem Protest eine Bahnsteigkarte gekauft, in Frankreich schmettert der gallische Hahn. Nicht die Regierungen, sondern die gesellschaftlichen Reaktionen auf ihre Politik sind der Testfall für die deutsch-französische Einigung. Hieraus resultiert eine besondere Verantwortung für die parlamentarische und außerparlamentarische Zusammenarbeit der französischen und der deutschen Linken.

Fünf vor Zwölf klopft der Halbelf

Beitrag von sg, geschrieben am 01.11.2012
Tanzende Elfen, Gemälde von August Malmström, 1866

Warum uns ein Text mit dem Titel „Elfenmanifest“ zu Halloween zugespielt wurde? Wir wissen es nicht. Ob Elfen wirklich so friedlich – Stichwort Dunkelelfen — und so geschlechtslos – wir verweisen auf Incubus und Succubus – sind, sei einmal dahingestellt. Aber sonst ist es ein sympathischer Text. Den wir gern veröffentlichen. Also viel Spaß beim Lesen des „Elfenmanifests“. Vielleicht könnt ihr das Rätsel entschlüsseln.


„Elfenmanifest“

Manifesto for a better open future — Für Gewaltlosigkeit, Freiheit und Glück
vom Komitee für Alternanz

Elfen, das sind Wesen, die in großer Verschiedenheit weitgehend gewaltlos leben. Sie lassen sich Raum für ihre Einzigartigkeit, meist sogar geschlechtslos. Längst nicht alle Menschen glauben, dass es sie gibt und dass das möglich ist. Aber einige schon und andere ahnen diese Möglichkeit in den sich multiplizierenden Freiheitspotentialen unserer Zeit. Sie werden aber nur zu entfalten und für alle zu leben sein, die das möchten, wenn wir uns zusammen tun. Darum verfassen wir dieses Schreiben. Wir wollen die freie Wahl unserer Lebensverhältnisse, ohne dabei die Wirklichkeit zu verkennen. Im Gegenteil, wir wollen sie in dieser Weise verändern.

Gewalt, das ist in beiden Richtungen Ausschluss und Einsperrung, sie ist der Zwang zu einer bestimmten Lebensform, einer Rolle, die wir nicht hinterfragen sollen ebenso sehr wie der Druck, dem wir durch den ewig oben hängenden Brotkorb ausgesetzt werden. Sie ist die Verächtlichmachung des anderen, Unbekannten, der Abweichung. Gewalt ist die implizite Forderung, konform zu sein. Sie ist der Ausschluss über die Abwertung, der Tätigkeit anderer, ihrer Bildung, Herkunft oder Lebensweise. Alle normierende Ein- und Zuordnung anhand von Biologischem lehnen wir ab, immer kommt Kultur und soziale Bewertung darüber. Die Biologie ist kein Argument, aus ihr wird immer nur eins gemacht. Neben diesen sozialen produktiven Fragen bestimmen die der bloßen Existenzsicherung zunehmend das Denken und die Sorgen vieler: die Prekarisierung wirft uns in Lebensverhältnisse zurück, die wir nach dem Stand der Produktivkraftentwicklung bei einer gerechten Verteilung nicht haben müssten. Gewalt ist der Ausschluss, der über Arbeit und Nichtarbeit zum Erwerb vollzogen wird. Gewalt ist, dass wir uns für Arbeitsverhältnisse zurichten sollen, die krank machen. Die Entfremdung in schlechter Arbeit zu niedrigem Lohn ist Gewalt. Gewalt ist, dass kaum Raum bleibt für anderes. Diese strukturelle Gewalt lehnen wir ab. In der Entwicklung braucht es immer Teilhabe und Freiraum. Was dagegen verstößt, und das ist viel in dieser Zeit, wollen wir überwinden.

Die Freiheit, die wir meinen, ist eine von Zwang und Überwachung und zu Gestaltung und Entfaltung. Wir wollen die Freiheit zur Abwehr von Schmach und Eingriff ebenso wie die zum Handeln, zum Aufbruch. Gesellschaftliche Einrichtungen und konkrete Institutionen können daher immer nur als auf Dauer gestellt gelten, nichts ist wahr und für immer. Was immer gilt, sind die Bedürfnisse der Menschen zur Grundlage der Gemeinschaft zu nehmen, wichtiger als jedes ewige Konzept. Wenn man das tut, ist wahrscheinlich schon viel gewonnen: Teilhabe, Grundsicherung, Freiraum.

Es ist kein Problem, dass die Zukunft offen ist. Aber es ist eines, dass wir in der Befürchtung leben müssen, sie könnte nicht besser werden als die Gegenwart ist. Es ist eins, dass die Strukturen so angelegt sind, dass wir so denken sollen - und wahrscheinlich trägt diese Wirtschaftsweise auch tatsächlich nicht mehr. Doch es muss sich nicht so anfühlen. Es ist alles da, um eine gute Zukunft für alle zu gestalten.

Wir wollen nicht nur das Recht, das Glück zu suchen. Wir wollen das Recht auf die Grundlagen zum Glück, um es sich zu bauen.

Veranstaltung zur Krisendeutung

geschrieben am 25.10.2012

prager frühling-Autor Andreas Hallbauer moderiert am 08. November eine interessante Veranstaltung mit dem WirtschaftswissenschaftlerProf. Dr. Thomas Kuczynski.

Periodisch produziert der Kapitalismus nicht nur zyklische, konjunkturelle Krisen, sondern auch sogenannte „Große Krisen“, wie etwa die 1929 ausbrechende Weltwirtschaftskrise. Ist die gegenwärtige kapitalistische Krise mit dieser vergleichbar? Können wir von der Weltwirtschaftskrise 1929 ff. etwas für das Verständnis der heutigen Krise lernen?

Es stellen sich Fragen nach Ursachen, Strukturen, Verlauf, sinnvollen linken Anti-Krisen-Programmen und möglichen Ergebnissen.

Die Veranstaltung beginnt um 19 Uhr und findet in der Hellen Panke, in der Kopenhagener Str. 9 in Berlin statt.

Battlen statt Betteln.

Beitrag von SG, geschrieben am 19.10.2012
Hut aufsetzen, statt Hand hinhalten. Die neue soziale Idee setzt auf Emanzipation!

Die neue Ausgabe des prager frühling erscheint am 26.10.2012 und kann hier bestellt werden.Im Schwerpunkt geht es diesmal um die „Neue soziale Idee“ und damit die Frage nach emanzipatorischen Potentialen, aber auch den Grenzen einer linken Sozialpolitik. Eine kleine Vorschau und ausgewählte Artikel finden sich hier.

Der Kinotipp: Sachamanta

geschrieben am 07.10.2012

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argentinien, kino, radio

"Das Radio: meistens ist es für uns ein ‘Plätschermedium’. Musik dudelt so dahin, unterbrochen von Werbung, dann von Nachrichten. Wir verwenden es als Musikteppich zum Abwaschen und Wäsche zusammenlegen, zum Ablenken im Stau. Dass Radio ein kämpferisches Medium sein kann, dass Radio hören subversives Potential hat, können sich viele nicht vorstellen. Trotzdem gibt es sie, die Radiostationen, die so wichtig sind, dass es ohne sie manche politischen und sozialen Kämpfe vielleicht nie gegegeben hätten. Die Geschichte 5 solcher Radiostationen erzählt der Film 'Sachamanta'.” (Radio Stimme, 3.10.2012)

Der Norden Argentiniens im Jahre 2000: Auf einem Kongress beschließen die im Movimiento Campesino Santiago del Estero (MoCaSe-Via Campesina) organisierten bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften etwas bis dahin Unerhörtes. Sie werden eigene Radiostationen aufbauen und betreiben. Sie wollen nicht länger hinnehmen, dass die Massenmedien ihre Lebenssituation entweder ignorieren oder verfälschen. Heute existieren bereits fünf Sender. Die Campesinos nutzen sie, um über die Weite des Landes hinweg unzensiert Botschaften auszutauschen. Die Radios schaffen ein Gemeinschaftsgefühl. Sie stärken den Kampf der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern gegen Landraub und Unterdrückung. Im Film zerschneiden die Bauern in subversiven Akten die Stacheldrahtzäune der Konzerne und gleichzeitig fallen in den Köpfen der Zuschauer die bisher sicher geglaubten Grenzen des Machbaren. Unmögliches erscheint greifbar nah. Die Gerechtigkeit ist kein Traum. Sie ist eine Aufgabe.
Oder, wie im Film die alte Eloisa mit einem Kopfschütteln sagt: "Mein Mann wollte schon aufgeben. Der Arme!"

Sachamanta läuft ab dem 22. Oktober 2012 in Berlin in der Brotfabrik, im Moviemento, im ACUD und im Lichtblickkino - teilweise mit anschließender Diskussion unter Anwesenheit der Regisseurin Viviana Uriona. Alle Termine (auch in anderen Städten der Republik) und mehr Infos zum Film und seinen Macherinnen gibt es hier: http://www.kameradisten.de.

Wir haben gelernt!

Beitrag von SG, geschrieben am 23.08.2012

Es wird vermutlich noch etwas dauern bis es einen Gedenktag für das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen gibt. Der Weg dahin wird gerade geebnet. Wie durch ein Wunder ist bei dem Pogrom 1992 niemand in Rostock-Lichtenhagen getötet worden. Obwohl angereister und einheimischer RassistInnenmob den Willen zum Morden ausdrücklich erklärte und obwohl die damalige Polizeiführung den Unwillen demonstrierte, Mord zu verhindern. Das ist ein Nachteil, denn ohne Mord, lassen sich keine Kränze niederlegen, ohne Kranzniederlegung braucht es andere Rituale, die sich als Pressefoto eignen. Ob ein solcher Gedenktag auch ohne Kranz funktioniert, wird am kommenden Sonntag generalerprobt. Zum zwanzigsten Jahrestag wird Bundespräsident Joachim Gauck am Ort des Verbrechens in Rostock-Lichtenhagen sprechen. Statt eines Kranzabwurfs wird ein Baum gepflanzt. Gerhard Schöne, dessen Lieder über Popel und diskriminierte Riesen wohl keinem in der DDR sozialisierten Kind je wieder aus Gedächtnis kommen, singt „Kinderlieder aus aller Welt.“

Anders als zum zehnjährigen Jahrestag ist das Progrom medial präsent. Im Fernsehen brüllt der Chor: „Deutschland-den-Deutschen-Ausländer-raus.“ In den Zeitungen kommen diejenigen ausführlich zu Wort, die sich nicht mit dem Mob gemein gemacht, sondern mit den Opfern solidarisiert hatten. Manch JournalistIn beschreibt den Unwillen vieler Lichtenhäger sich mit dem Pogrom zu beschäftigen. In einigen Beiträgen wird kritisch auf die bürgerlichen Brandstifter, die mit „Das-Boot-ist-voll“-Metaphern gegen AsylbewerberInnen hetzten.

Alles gut also? Deutschland hat verstanden? Zumindest der selbsterklärte „Extremismus“-Experte Klaus Schröder gibt im Deutschlandfunkt Entwarnung: „Heute würden viele in Rostock, Hoyerswerda, wo auch immer sich dazwischenstellen und sagen, so nicht.“ Die Reichweite solcher Sätze hat sich in Hoyerswerder gerade gezeigt. Die Fraktionen der Rostocker Bürgerschaft erklärt dennoch selbstkritisch: „Auch unmittelbar nach den Ereignissen erfuhren die betroffenen Migrantinnen und Migranten und Asylsuchenden nicht die notwendige Solidarität aus der Gesellschaft. Dafür entschuldigen wir uns und versichern: Wir haben gelernt!“

Allein, auch die wohlmeinenden werden das Gelernte vorerst nicht anwenden können. Das damals so widerwärtige Täter-Opfer-Umkehr, die den Angegriffenen damals die Schuld gab, Ursache der Gewalt gegen sie zu sein, ist zum Gesetz geronnen. Als Reaktion auf das Pogrom wurden die angegriffenen MigrantInnen, AslybewerberInnen und vietnamesische VertragsarbeiterInnen gleichermaßen aus der Stadt gebracht. Danach schaffte eine große Koalition aus SPD und CDU das Asylrecht faktisch ab. Sie erließen außerdem ein Sonderrecht, das Bundesverfassungsgericht vor einem Monat als von Anfang an verfassungswidrig und mit der Würde des Menschen als unvereinbar erklärte.

Deutschland zwanzig Jahre später: Berlin und Brandenburg eröffnen gerade einen neuen Flughafenknast, damit keine MigrantIn, die nicht zuvor als nützlich befunden wurde, den Fuß auf deutschen Boden bekommt. In Bayern laboriert man an Ausreisezentren, die Geflüchtete durch Verelendung aus dem Land treiben soll. In vielen Teilen Deutschlands leben die wenigen, die AsylbewerberInnen, die es irgendwie doch nach Deutschland geschafft haben in Heimen mitten im Wald. Die einzigen Anwohner, die dort ein Pogrom beklatschen könnten, sind Hase und Igel. So lange dieser institutionelle Rassismus nicht rückabgewickelt wird, lässt sich nicht feststellen, ob Deutschland zivilisiert geworden ist. Das aber wird nicht geschehen. Es findet sich noch nicht einmal jemand, der diese Rückabwicklung fordert.

Selbst wenn der kommende Sonntag ein Erfolg wird und ein Tag im August, von nun an im Zehnjahresrhythmus als Gedenktag begangen werden sollte, es bleibt ein weiterer schaler Termin im Kalender der bundesdeutschen Gedenktagsbewirtschaftung. Die vergangenen Verbrechen eignen zur Selbstvergewisserung, dass heute alles besser ist, als „in diesen dunklen Jahren.“ Sonst bleibt alles beim alten. Es ist zum Kotzen.

Veranstaltungen und Literatur:

Am kommenden Sonntag lädt das Bündnis „Rassismus tötet“ zu einer Demonstration nach Rostock. Auf der Seite finden sich verschiedene Filmbeiträge, über Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda. Eine Studie der Uni Rostock beschreibt einige der Leerstellen im aktuellen Gedenken. Bereits im vergangenen Jahr erschien der Band Kaltland, der sich ausdrücklich der Erinnerung an die Pogrome vor 20 Jahren erinnert. Trotz einiger Schwächen lesenswert, das vor zehn Jahren erschienene Buch „Politische Brandstiftung“ von Jochen Schmidt, der 1992 mit im angegriffenen „Sonnenblumenhaus“ war.

Dokumentarfilm "Sachamanta" im Preview in Berlin zu sehen

Beitrag von Mark Wagner, geschrieben am 08.08.2012

In der letzten Ausgabe des Prager Frühlings schrieb Viviana Uriona über die Situation freier Radios in der Bundesrepublik. Die Bilanz fiel düster aus. Heller ist sie anderswo. Urionas aktueller Dokumentarfilm "Sachamanta" erzählt von der wichtigen Rolle freier Radios in Argentinien für den Kampf der Indigenen gegen Landraub und Unterdrückung. "Sachamanta - Community Radios in Nordargentinien” wird am 24. August im Berliner Clash im Preview gezeigt. Der Eintritt ist frei und die Türen stehen allen Interessierten offen.

Über ihren Film schreibt Uriona:

"Region Santiago del Estero, April, eine Sommernacht im Jahre 2010: Ich sehe die tapferen Menschen tanzen. Sie tanzen zu der Musik, die sie aus ihren Radios kennen. Nackte Füße wirbeln durch Staub. Hände fassen sich. Lichter funkeln durch die Dunkelheit. Ich denke, dass Menschen einen Ort sehr verändern, an dem sie tanzen. Sie nehmen diesen Ort ein. Ein trockener Rasen kann ein Festsaal sein, neun Bretter eine Bühne. Ich denke, dass Menschen auch den Ort verändern, an dem sie arbeiten. Eine Brache kann Acker werden. Ein Sumpf wird satte Krume. Die Heimat wird aus Schweiß gemacht. Man lässt sie sich nicht fortnehmen. Heute wird getanzt, morgen schon wieder gekämpft.

Seit über 20 Jahren wehren sich die bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften der Region Santiago del Estero gegen Landraub und Entrechtung. Wenn einem von ihnen der Boden von großen Konzernen gestohlen wird, versammeln sie sich, um die neu errichteten Zäune niederzureißen. Sperrt man Einzelne in das Gefängnis, kommen sofort Viele und fordern deren Freilassung. Der Kampf der Campesinos zeigt Erfolge. Durch ihre Beharrlichkeit sind sie zu einer Macht im Land geworden. Sie sind eine Macht mit fünf kraftvollen Stimmen: Das sind die fünf bäuerlichen Radiostationen, die den unzensierten Austausch von Botschaften und Absprachen über die Weite des Landes ermöglichen. Die Radios schaffen ein Gemeinschaftsgefühl und natürlich senden sie auch die Musik, die die Campesinos lieben.

Ich sehe die tapferen Menschen tanzen, lachen und sich küssen und ich dachte, dass es überall auf der Welt um dieselben Fragen geht. Warum ist das Recht nicht auf der Seite der Tanzenden? Wieso gibt es den Tanzplatz jenen, die ihn gar nicht beleben? Warum gibt es den Acker jenen, die ihn nicht selbst bewirtschaften? Weshalb platzen die Banken des Westens vor Vermögen, das sie gar nicht erarbeitet haben?

Seit über zwanzig Jahren wissen die Bauern und Indigenen der Region Santiago del Estero nicht nur die Antwort auf diese Fragen: Sie leben diese Antwort jeden einzelnen Tag. Die Antwort lautet: Weil es nur die Gerechtigkeit gibt, die auch erkämpft wurde. Die Menschen dort haben nicht nur Orte verändert. Sie haben auch sich selbst verändert, als sie zu kämpfen begannen. Aus Verzagtheit wuchs Mut. Die Angst verwandelte sich in Hoffnung. Die Gerechtigkeit war nicht länger nur ein Traum: Sie wurde zu einer Aufgabe."

Sachamanta. (50 Min. Arg./De. Spanisch OV mit deutschen Untertiteln). / Preview: 24.08.2012 um 19 Uhr im Clash im Mehringhof, Gneisenaustr. 2a, Berlin (in Kooperation mit dem FDCL). Die Veranstaltung ist öffentlich. Der Eintritt ist frei. Journalistinnen und Journalisten sind herzlich willkommen. Einen Trailer des Filmes gibt es unter diesem Link zu sehen.

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