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Redaktionsblog

Der rote Faden des Plan B

Beitrag von SG, geschrieben am 06.08.2012
Ute, angenehm!

Die Grundthese des Projekts Plan B lautet: Der ökologische Umbau kann nur dann gelingen, wenn er durchgehend als soziales und demokratisches Erneuerungsprojekt angelegt ist. In der Lesbar erläutert Ulrich Schachtschneider die zentralen Ideen ...

Zum Artikel: Den roten Faden weiterspinnen ...

Den roten Faden weiterspinnen

Beitrag von Ulrich Schachtschneider, geschrieben am 06.08.2012

Schlagworte:

ökologie, Postwachstum

UTE hat einen Plan B ...

Ohne soziale Gerechtigkeit kein ökologischer Umbau und keine nachhaltige Lebensweise. Diese linke Binsenweisheit führte bisher nicht automatisch zu einer überzeugenden linken sozial-ökologischen Transformationsidee. Zum Beispiel dann nicht, wenn jeglicher ökologischer und regulatorischer Fortschritt im jetzigen System als bestenfalls gut gemeint, aber letztlich systemstabilisierend abgekanzelt wird. Aber auch dann nicht, wenn der Umbau zweistufig gedacht wird: Erst machen wir unsere Gesellschaft auch jenseits irgendeines „System-Hoppings“ (wohin auch?) gleicher und gerechter und dann in einer zweiten Phase können wir auch ökologischer werden. PLAN B dagegen hat einen integrativen Anspruch: Mit mehr Ökologie soll die Gesellschaft gerechter und mit mehr sozialer Gerechtigkeit soll sie ökologischer werden können. Der rote Faden für einen solchen Reformprozess wickelt sich aus vier Strängen:

1. „Gleichheit statt Klassenspaltung“

... der Zugang befindet sich hinter dieser roten Tür.

soll allen Menschen auch die ökonomische Chance zu ökologischem Verhalten eröffnen. Nur bei mehr Einkommensgleichheit kann die Idee der ökologischen Steuerreform, das Falsche zu verteuern und das Richtige zu belohnen, umgesetzt werden. Ansonsten wirkten solche ökonomischen Instrumente zur Steuerung eines umweltgerechteren Konsumverhaltens in Richtung einer Verschärfung sozialer Ungleichheit. Während beim Green New Deal die durch Verteuerung von Umweltverbrauch sich derart erneuernde „soziale Frage“ über neue Arbeitsplätze gelöst werden soll, fordert PLAN B eine Umverteilung der Einkommen. Dies ist eine entscheidende Differenz: Denn es ist erstens keineswegs garantiert, dass die neuen Öko-Jobs auch fair bezahlt werden – eher das Gegenteil ist gegenwärtig in Branchen wie der Windenergie etc. zu beklagen. Und zweitens ist ja die „soziale Frage“ auch in den alten Branchen keineswegs so gelöst, dass hier nicht mehr nachgebessert werden muss: Seit den 1980er Jahren sinkt bekanntlich der Anteil der Einkommen aus Erwerbsarbeit und Transfereinkommen.

Die wesentlichen Ansätze im PLAN B zu einer größeren Gleichverteilung der Einkommen sind höhere Löhne und eine Umkehr der Steuerpolitik. Dazu müssen jedoch weitere Elemente kommen. Elegant wäre meines Erachtens die Kopplung von ökologisch korrekter Verteuerung und Umverteilung nach unten durch das UTE-Prinzip: Ein „Umwelt-Transaktions-Einkommen“ durch die Rück-Ausschüttung der Einnahmen aus ökologischer Besteuerung an jeden Bürger. Aber eine Kombination aus Umverteilung und ökologischer Steuerung kann sicher auch durch andere Reformideen erreicht werden. Ergiebig wäre hierfür die Durchforstung der aktuellen ökologisch motivierten Förder- und Steuerpolitiken auf die Frage hin: Wer bezahlt? Wer hat den Nutzen? Sie alle könnten so umgebaut werden, dass Wohlhabende überproportional bezahlen und Ärmere überproportional profitieren. Im Moment verhält es sich – wen wundert es – bei sämtlichen ökonomischen Instrumenten der Klimapolitik (z. B. EEG, energetische Altbausanierung, Ökosteuer etc) genau andersherum.

2. „Teilhabe statt ständige Unsicherheit“

durch monetäre (sicheres Einkommen) und materielle (Zugang zu Gemeingütern) Sicherheit ermöglicht die für eine Akzeptanz der Umwälzung der Wirtschaft mit ihrem tiefgreifenden Wandel an Arbeitsplätzen, - strukturen und -qualifikationen nötige sozialpsychologische Situation, die „Angstfreiheit im Wandel“. Das ist entscheidend: Wie viele eigentlich als ökologisch schädlich oder als sozial zweifelhaft längst erkannte Produktionen werden heute nolens volens akzeptiert, wenn nicht sogar gefördert, weil daran in der arbeitsplatzfokussierten Regulation der kapitalistischen Ökonomie elementar die persönliche Existenz gekoppelt ist? Während im Green New Deal die Sorgen der Menschen mit der Aussicht auf neue Arbeitsplätze beruhigt werden sollen, besteht das Konzept hier in der Garantie sozialer Sicherheit. Ob die vorgeschlagenen Mittel (Zwei Jahre Transfergesellschaft, Recht auf Arbeit, max. 40 Std/Woche, Arbeitszeitverkürzung, Zugang zu bestimmten öffentlichen Gütern) ein ausreichendes Sicherheitsgefühl im Wandel ermöglichen oder doch noch zu eng an einen Arbeitsplatzbesitz gekoppelt sind, darüber kann sicher noch gestritten werden. Die Grundintention - mehr soziale Sicherheit als Basis für Veränderung - ist genau richtig.

3. „Politische Lenkung statt schrankenloser Markt“

fordert eine Planung der ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen für das Handeln von Unternehmen und Konsumenten auf dem Markt. Es grenzt die ökologischen und sozial schädlichen Folgen eines unregulierten Marktes ein, ohne Markt als ökonomische Struktur per se zu verdammen. Seine positiven Gehalte der Innovativität, der flexiblen Koordinierung, der selbstbestimmten ökonomischen Lebensplanung scheinen hier erfreulicherweise endlich auch in einem Politikentwurf der Linken gewürdigt worden zu sein. Die schlichte, aber falsche Antithese zum kapitalistischen Markt: „Wir planen alle unsere Produktion und Konsumtion – am besten in einem permanenten basisdemokratischen Diskurs“ ist einer Synthese von Planung und Marktfreiheit gewichen, die Markt genauso wie verschiedene Eigentumsformen emotionsloser hinsichtlich ihrer jeweiligen Vor- und Nachteile bewertet.

Die zentrale sozial-ökologische Umbauaufgabe, „Produktion und Konsumtion grundsätzlich anders (zu) strukturieren“, kann nicht durch Verbesserungen der Einzeleffizienzen erreicht werden – so die richtige Kritik bisheriger ökonomischer Steuerungsanreize: Ohne eine Änderung der soziokulturellen Struktur wirken zahlreiche Bumerangeffekte – die Wohnflächen wachsen trotz besserer Dämmung, mehr Kilometer werden gefahren trotz sparsamerer Motoren etc.

Die bessere Gesamt-Ökoeffizienz soll nach PLAN B zum einen durch mehr öffentliche Dienstleistungen (Verkehr, Soziales und Kulturelles), die den Wohlstand auf alternative, ressourcenleichte Weise steigern, erreicht werden. Es soll zudem verstärkt – systemrelevant! – in den sozial-ökologischen Umbau investiert werden, öffentliche Aufträge sowie Wirtschaftsförderung sollen sich daran orientieren.

Dies sind richtige und wichtige Maßnahmen im direkten Einflussbereich staatlicher Ausgaben. Es fehlt hingegen ein Konzept für die ökologische und soziale Rahmensetzung der Marktaktivitäten, die ja weiterhin einen Großteil der ökonomischen Aktivität ausmachen. Gerade der für die Gesamt-Ökobilanz verheerende Masseneffekt – mehr Konsum und mehr Produkte fressen Einzeleffizienzgewinne auf – bedarf einer wirksamen Grenzsetzung, die durch ordnungspolitische Ge- oder Verbote einzelner Substanzen, Verfahren etc nicht zu erreichen ist.

Unklar bleibt, wie der Umgang mit ökonomischen umweltpolitischen Instrumenten wie Ökosteuer, Mengenlizenzen etc. nun aussehen soll. Dabei läge hier eine entscheidende Aufgabe für die Linke: Wenn es gelänge, diesen ökologisch steuerungssicheren (z.B. verbindlich sinkende Ressourcenentnahmen und Emissionen durch Planung von Höchstmengen), eleganten (wenig Bürokratie) und freiheitsermöglichenden (dem Einzelnen wird kein Verbrauchsstil vorgeschrieben) Rahmungen ihren sozialen Schrecken (regressive Wirkung, d.h. überproportionale Belastung ärmerer Haushalte) zu nehmen, hätte die Linke eine neue Synthese zwischen Planung, Markt und Solidarität anzubieten. Die Pro-Kopf Rückverteilung der Einnahmen solcher Öko-Abgaben wie im UTE-Modell (Umwelt-Transaktions-Einkommen) hätte diese Qualität, da sie gleichzeitig mit der Verteuerung ökologisch schädlicher Produktion und Konsumtion umverteilt - von oben nach unten! Sicherlich wäre diese Idee noch zu konkretisieren, müssten Nebenwirkungen und die Machbarkeit der Kommunikation eines solchen Konzepts überdacht werden. Der Grundansatz hat aber das Potenzial, ein gravierendes Dilemma der Umweltpolitik aufzulösen: Ist die Besteuerung von Umweltgütern zu hoch, wird sie unsozial, ist sie zu niedrig, bewirkt sie nichts.

Es wäre ein signifikanter Unterschied zum Green New Deal, der ebenfalls Ökosteuern im Programm hat, den sozialen Ausgleich aber über das Wachstumsprojekt neue Arbeitsplätze verspricht. Ein Sozialausgleich nach dem UTE-Modell hingegen wäre wachstumsunabhängig!

4. „Mehr Demokratie“

in Wirtschaft und Gesellschaft stellt das vierte Rückgrat für den PLAN B dar. Politik muss gestalten können gegenüber den systemischen Imperativen der Märkte und der Machtzirkel. Dazu wird mehr Bürgerbeteiligung durch verschiedenste Verfahren (Beiräte, Planungszellen, Bürgerpanels, Bürgerentscheide etc) eingefordert. Ungeklärt bleibt aber zum einen auch im PLAN B – wie dort auch angemerkt – das Verhältnis von repräsentativer und direkter Demokratie. Zum anderen ist zu fragen, in welchem Maße diese Verfahren, die ja seit einigen Jahren sukzessive in die politische Regulierung eingeführt werden, Markt- und Machtdynamiken wirklich zurückdrängen können. Dies gilt auch für betriebliche Mitbestimmung, die stark ausgebaut werden soll. Ob Belegschaften wirklich ihren Betrieb ökologisch verantwortlicher führen würden als das Management, ist keineswegs sicher. Auch die Möglichkeit des Sozial- und Tarifdumping wird den Arbeitnehmern einfallen, wenn der Markt enger wird und bei Pleite ihr sozialer Absturz droht. Partizipation ist richtig, aber im Betrieb gilt genauso wie in der Kommune: Es gibt kein richtiges lokales Leben im falschen ökonomischen und politischen Rahmen.

Vom Green New Deal zur sozial-libertären ökologischen Transformation

Während die im PLAN B präsentierten Ideen der politischen Lenkung von Investitionsströmen und Märkten sowie die Idee der Bürgerbeteiligung in ähnlicher Weise auch in den hegemonialen Green New Deal - Konzeptionen und Nachhaltigkeitsstrategien zu finden sind, weisen die Prinzipien „Gleichheit statt Spaltung“ und „Sicherheit im Wandel“ auf einen „Sozialen Green New Deal“. Das Soziale meint hier nicht nur neue Arbeitsplätze und Chancen auf persönliche Qualifikationssprünge (wie im Green New Deal), sondern mehr ökonomische Gleichheit und mehr ökonomische Lebenssicherheit. Ohne Gleichheit keine Ökologie – das ist die eine notwendige Intervention der Linken - und hier bringt PLAN B einen guten Aufschlag.

Doch es reicht nicht aus, den Green New Deal sozialer zu machen. Ein sozial-ökologischer Umbau braucht nicht nur andere Produktions-, sondern auch eine andere Lebensweise. Die Visionen im PLAN B zeigen, wie alternativ konsumiert werden kann: Es wird fast ausschließlich öffentlicher Verkehr und erneuerbarer Strom aus dezentralen Quellen benutzt und es werden fair und ökoeffizient hergestellte Industrieprodukte gekauft.

Nach allem, was wir heute über die ökologische Krise wissen, muss jedoch nicht nur anders, sondern auch weniger konsumiert werden – andernfalls drohen vielfältige Rebound-Effekte (auch Dienstleistungen haben einen ökologischen Fußabdruck..). Soll dieses Weniger nicht nur für Randgruppen attraktiv sein, so muss die Gesellschaft insgesamt weniger herrschaftsförmig werden. Ein genügsamerer Lebensstil, eine „Eleganz der Einfachheit“ kann sich nur entwickeln auf der Basis eines freiheitlichen Lebensalltags. Wer unten ist oder sich in welcher Weise auch immer unterdrückt fühlt, wer seine Arbeit als entfremdet wahrnimmt, wird sich nicht zu neuer Bescheidenheit überzeugen lassen, sondern braucht zur Kompensation demonstrativen Status-Konsum, entschädigende Erlebniswelten, führt Aufholjagden etc.

Eine ökologische Lebensweise muss nicht nur als notwendige Änderung dastehen, sondern als Befreiung aus beengenden, stressigen, sozial isolierenden Verhältnissen ihre Attraktivität entfalten. Bestandteil einer solchen Vision wäre etwa Zeitwohlstand, wäre etwa ein Leben in mehr – frei gewählten – Gemeinschaften, wäre ein Leben mit mehr individuellen Freiräumen, aber weniger Konsum- und Erwerbsdruck.

Ein neuer Lebensstil kann natürlich nicht von einer Partei ausgearbeitet und dann der Bevölkerung vorgeschlagen werden. Genauso wenig dürfen Lebensstil-Fragen aber einfach weggelassen werden, geht es doch um Alternativen zur „imperialen Lebensweise“ in einem Industrieland, die nicht nur aus der Anwendung alternativer Techniken resultieren können.

Für ein Projekt zum sozial-ökologischen Umbau der LINKEN ergeben sich daraus mindestens zwei Ansprüche: Erstens sind die im PLAN B vorgeschlagenen Reformmaßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit freiheitlich-ökologischeren Lebensstilen - welcher konkreten Natur auch immer - hin zu überprüfen. Zu fragen wäre etwa:

  • Führen sie zu Freiräumen, in denen neue Lebensstile ausprobiert werden können?
  • Bewirken sie mehr Entscheidungsspielräume für den Einzelnen, auf dem Arbeitsmarkt und im sozialen Leben?
  • Befördern sie nicht-konsumtive Selbstverwirklichung?
  • Entschleunigen sie das alltägliche Leben?

Auf Basis dieser und anderer Fragestellungen sollte zweitens im PLAN B – deutlicher als bisher – dargestellt werden, in welcher Weise sich mit ihm die Gesellschaft so ändert, dass erfüllendere, freiheitlich-ökologischere Lebensstile für alle Bevölkerungsschichten befördert werden. Das wäre eine Vision für eine „sozial-libertäre ökologische Transformation“ (oder auch einen „sozial-libertären Green New Deal“) als eine neue soziale Idee: Die Verbindung von mehr Ökologie, mehr wirtschaftlicher Gleichheit und mehr Freiheit für alle.

Ulrich Schachtschneider ist Energieberater und freier Sozialwissenschaftler und Mitglied in der BAG Umwelt, Energie, Verkehr sowie im Gesprächskreis Nachhaltigkeit der rls Berlin

Welcher Liberalismus?

geschrieben am 03.08.2012

Der dpa-Korrespondent war nach der Veranstaltung „Update oder neues Betriebssystem?“ wohl auch orientierungslos. Bernd Schlömer hatte Katja Kippings Gesprächseinladung angenommen. Die beiden diskutierten, von Freitag-Chefredakteur Jacob Augstein moderiert, über politische Schnittmengen und Differenzen der beiden Parteien. Die Überschrift der dpa-Tickermeldung diktierte der Journalist noch im Flur: „Piratenchef Schlömer: nicht links, sondern liberal.“ Das hatte Schlömer am Abend mehrfach wiederholt. Das ersetzte aber nur ein Schlagwort, das Schlömer mit dem Verweis auf seine Abneigung gegen vereinfachende binäre Zuschreibungen abgelehnt hatte, durch ein anderes. Die spannende Frage, welches Liberalismusverständnis gemeint und was das für die politischen Projekte der Piraten bedeutet, wurde nur indirekt beantwortet.

Das war einer anfangs eigentlich sehr sympathischen Geste Schlömers geschuldet. Der verwies immer wieder darauf, dass er sich als Sprachrohr der Partei verstehe und Diskussionen nicht vorwegnehmen wolle. Frühere persönliche Positionierungen zum Beispiel zu Auslandseinsätzen im Kosovo und in Afghanistan relativierte er. Er habe nicht gesagt, er heiße die gut, sondern nur, sie seien demokratisch beschlossen worden. Was das für die parlamentarische Rolle der Piraten bedeutet, blieb offen. Es hätte ein Problem des Abends werden können, denn bei allen Konfrontationen mit Meinungsäußerungen relativierte Schlömer diese bis zum Allgemeinplatz. Wer sich also für konkrete Antworten auf die Frage erwartete, wie sich die Piraten in der parlamentarischen Praxis wohl zu Auslandseinsätzen, Umverteilung von Reichtum oder anderen zentralen politischen Fragen verhalten würde, erfuhr an diesem Abend nicht viel. Das war bei einer noch verhältnismäßig neuen Partei auch nicht zu erwarten. Dennoch kristallisierte sich schrittweise heraus, dass wo Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Kipping und Schlömer lagen und welche Schnittmengen es dennoch zwischen den Parteien geben könnte.

Während Schlömer Politik vermeintlich „unideologisch“ und „pragmatisch“ als „Streben nach besseren Lösungen“ definierte und die Teilhabe von Bürgern am politischen Diskurs als zentral stellte, markierte Kipping die fiktionale Seite dieser Gleichheitsvorstellung. Man müsse die Teilnahme am politischen Diskurs nicht nur formal ermöglichen. Dem Beispiel des sozial nicht gestaffelten Mitgliedsbeitrages oder der Tatsache, dass zum Piratenparteitag zwar jeder fahren dürfe, niemand aber Fahrtkosten erhalte, was zu einer sozialen Schieflage führe, widersprach Schlömer zwar u.a. mit Verweis auf eine Sozialklausel beim Mitgliedsbeitrag, das unterschiedliche Verständnis von Freiheit und Herrschaft blieb aber der bestimmende Kern der Debatte.

Während Schlömer individuelle Freiheit ausschließlich vom Staat bedroht sah, argumentierte Kipping, dass z. B. beim Datenschutz Google und Facebook mindestens ebenso mächtige Gegner seien. Netzneutralität müsste ebenfalls zum Teil eben auch gegen Unternehmen durchgesetzt werden. Die Macht der Finanzmärkte und der organisierten Interessen von Reichen seien möglicherweise weniger sichtbar, griffen aber eben auch in die Freiheit des Einzelnen ein. Die Möglichkeit zur politischen Teilhabe richte sich eben auch nach dem verfügbaren Einkommen. Statt der Forderung nach Flat Tax und Schuldenbremse so die LINKEN-Parteivorsitzende provozierend sollten die Piraten etwas mehr Mut zum Umverteilen haben. Für ein bedingungsloses Grundeinkommen, das Piraten und der Teil der LINKEN, dem sich Kipping zuordnet, fordern, ginge nicht ohne Umverteilung von Reichtum, zumindest wenn es gesellschaftliche Teilhabe sichern und über der Armutsgrenze liegen solle.

Bei der Frage der Moderation nach möglichen gemeinsamen politischen Projekten wurde Kipping mit kostenfreiem ÖPNV, freiem W-LAN und einem anderen Leistungsschutzrecht konkret. Schlömer blieb aber auch hier kühl und wollte nicht so recht über Schnittmengen mit der LINKEN reden. Auch hier der Verweis, dass er als Vorsitzender keine Positionen vorgeben wolle. Man könnte die Enttäuschung von einigen der linken PiratInnen im Raum teilen, die sich wohl gewünscht hätten, dass sich Schlömer deutlicher Position bezogen hätte, die über eine liberale Staatsskepsis und eine etwas naive Freiheits- und Gleichheitsvorstellung hinausgegangen wäre. Vielleicht sollte man aber auch auf die politische Sprengkraft des Liberalismus vertrauen. Denn sind die Fragen von Demokratischer Teilhabe, Freiheit und Gleichheit auf dem Tisch, weisen sie über den realexistierenden Liberalismus in der Bundesrepublik hinaus. Schlömer wählte zwar die Realsozialismuskeule, als aus dem Publikum die Frage nach seiner Position einer demokratischen Ökonomie kam. Nach Kippings Einwand, dass Wirtschaftsdemokratie die Mitbestimmung über die Ziel, Art und Weise der Produktion meine, konnte er dieser Idee doch etwas abgewinnen. Wohlmöglich entdecken die Piraten also noch, dass sie mit einem Teil der LINKEN mehr teilen, als Bernd Schlömer glaubt. Dann steigen die Chancen auf ein neues Betriebssystem wirklich.

"Update oder neues Betriebssystem?" Katja Kipping im Gespräch mit dem Piraten-Chef Bernd Schlömer

Beitrag von Redaktion prager frühling, geschrieben am 30.07.2012

Schlagworte:

linke, piraten

Spätestens seit ihrem Einzug in die Landesparlamente von Berlin, Saarland, Schleswig-Holstein und NRW haben sich die Piraten als ernstzunehmender politischer Akteur etabliert. Mit ihren Themen Bürgerrechte, Partizipation, Transparenz, Grundeinkommen, freie Bildung, kostenloser ÖPNV treffen die Piraten oft den Kern einer libertären linken Klientel. In der Veranstaltung wollen Katja Kipping und Bernd Schlömer für Wählerinnen und Wähler deutlich machen, wo es einerseits zwischen der LINKEN und den PIRATEN Gemeinsamkeiten gibt und wo man sich andererseits deutlich voneinander unterscheidet. Die Veranstaltung wird vom Herausgeber der Wochenzeitung der Freitag, Jakob Augstein, moderiert.

Die Veranstaltung wird auch live im Netz übertragen. U. a. auf:http://livestream.die-linke.de/

Datum: 2. August 2012, 19:00 bis 21:00 Uhr
Ort: Pfefferberg, Berlin-Prenzlauer Berg (U Senefelder Platz)

In materialistischer Tradition

Beitrag von Andreas Diers, geschrieben am 17.07.2012

Anfang 2011 haben die „Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin und Brandenburg“ gemeinsam mit dem „Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung“ anlässlich des 80. Geburtstages des Historikers Günter Benser in Berlin ein wissenschaftliches Kolloquium durchgeführt. Vor den etwa 120 TeilnehmerInnen haben HistorikerInnen aus der BRD und aus Polen Vorträge zu dem aktuellen, bislang jedoch geschichtswissenschaftlich vernachlässigten Thema „Basisdemokratie und Arbeiterbewegung – Erfahrungen und Vermächtnis“ gehalten.

In dem kürzlich veröffentlichten Sammelband ist der Beitrag von Benser der umfangreichste, aber auf nicht einmal 30 Seiten kann nur ein Überblick über die Thematik gegeben werden. Auch wenn Benser viele Problematiken nur kurz anreißt, so ist diese Benennung wichtig – und sie macht deutlich, wie viele Forschungsaufgaben noch vorhanden sind. Nachdem Benser auf die Bedeutung der Thematik Basisdemokratie hinsichtlich seiner Biographie eingegangen ist weist er darauf hin, dass das Spannungs­verhältnis zwischen sozialer Gerechtigkeit und politischer Demokratie, zwischen repräsentativer und direkter Demokratie sowie zwischen spontanem Handeln und institu­tio­nel­len Hierarchien weit in die Geschichte zurückreicht. Die entschei­dende Frage lautet nach Ansicht Bensers: „Wie und wo können in einem Gemein­wesen gravier­ende Entscheidungen sachkompetent, im Allgemeininter­esse bei Respek­tierung der Belange von Minderheiten mit hoher Transparenz am zweck­mäßig­sten getroffen werden.“ (S. 27 f.). Als ein in der materialistischen Tradition stehender Wissenschaftler geht Benser darauf ein, dass Herrschaftsverhältnisse und somit die Demokratieproblematik aufs engste mit der Entfaltung der Produktivkräfte und der Gestaltung der sozialen Verhältnisse verbunden sind.

Im Anschluss an den historischen Überblick von Benser wird das Thema durch einzelne Fall­studien vertieft. Den aktuellsten Beitrag unter dem Titel „Weltrevo­lution via World Wide Web. Was den tunesischen Gemüsehändler Mohamed Bouazizi mit dem deutschen Erfinder Konrad Zuse verbindet“ steuert Karlen Vesper-Gräske bei. Nach Ansicht der Autorin haben die Mikroelektronik und das World Wide Web nicht nur ein qualitativ neues Stadium der inter­nationalen Geschäftstätigkeit und der globalen Kommunikation bewirkt, sondern bislang ungeahnte Perspek­tiven für Partizipation und Mitbe­stimmung eröffnet. Seit dem „Arabischen Frühling“ sei die demokratische Online-Community eine Macht. Auch wenn die Einschätzungen der Autorin über die politischen Entwicklungen im Zusammenhang mit dem „Arabischen Frühling“ angesichts der aktuellen Entwicklungen etwas zu optimistisch erscheinen, so ist die von ihr wieder thematisierte Vision eines „Computer Sozialismus“ hochaktuell.

Der Sammelband ist insgesamt eine verdienstvolle und weitere Forschungen anregende Veröffentlichung. Einige nach offene Problematiken zum Spannungsfeld Basisdemokratie-ArbeiterInnenbewegung sind in dem Band in der umfangreichen, einige hundert Titel umfassenden Auswahlbibliographie des wissenschaftlichen Wirkens von Günter Benser zu finden. Kritisch kann angemerkt werden, dass in dem Band ein Personen- und ein Sachverzeichnis fehlen. Dadurch wäre eine Arbeit mit dem Band noch effektiver möglich.

Unwiederbringlich zerstört

Beitrag von Bodo Niendel, geschrieben am 16.07.2012

Der Roman „Männer zu verkaufen“ liefert dem Leser Einblicke in die Welt männlicher Homosexueller kurz vor dem Ende der Weimarer Republik. Die Erzählung beginnt mit der Erpressung des Barons von Rotberg, der, um seine Homosexualität nicht bekannt werden zu lassen, einem Erpresser Stück für Stück fast sein gesamtes Vermögen übergibt. Der Hauslehrer Erich Lammers, der zufällig Zeuge der Erpressung wird, möchte dem Baron helfen und begibt sich zum Erpresser, um diesen an seinem Tun zu hindern. Doch mit Erschrecken findet er heraus, dass es sich bei dem Erpresser um seinen seit langem von der Familie verstoßenen Bruder handelt. Von diesem lässt er sich nach quälenden Gesprächen durch das schwule Tag- und Nachtleben Berlins führen und erhält Einsichten in eine ihm unbekannte Welt. Friedrich Radsuweit schrieb diesen Roman 1930 als Anklageschrift gegen eine diskriminierende Gesellschaft, in der ihre Sexualität verheimlichende Homosexuelle leicht Opfer von Erpressungen wurden und Polizei und Justiz, je nach Belieben, streng oder nachsichtig, die mann-männliche Liebe mit Hilfe des Paragraphen 175 verfolgten. Radszuweit, selbst Aktivist gegen die strafrechtliche Verfolgung im „Bund für Menschenrechte“, liefert uns ein Sittengemälde Berlins in der Zwischenkriegszeit. Moralisch empört und um Verständnis ringend — das Ende verbleibt denn doch in einem bürgerlichen Utopia des Ausgleichs und ist arg konstruiert — präsentiert er uns eine kulturell vielfältige mann-männliche Kultur, welche die Nazis später unwiederbringlich zerstörten. Eine lesenswerte und wichtige Wiederveröffentlichung.

Die Wachfrau

Beitrag von Marlen Brückner, geschrieben am 12.07.2012
Langer Tag

Ich fragte die Frau, ob sie Gewerkschaftsmitglied sei, sie nickte. „Aber es sind noch zu wenige organisiert, oder?“ „6-Tage-Wochen sind in der Branche üblich. Da geht es uns noch gut, weil wir nach tariflichem Mindestlohn bezahlt werden. Was heißt Mindestlohn! 7,50 Euro die Stunde.“ „Es reicht nicht aus einfach zu sagen es ist die Branche. Wenn sich alle vereinen würden und an einem Tag einfach nicht arbeiten würden, wäre die Erkenntnis, wie wichtig Ihre Arbeit ist, plötzlich ganz groß.“ Sie sei schon froh, dass sie nicht zum Reinigungspersonal gehöre, die würden Knochenarbeit leisten und ständig unter Zeitdruck arbeiten müssen. Am Ende des Tages gingen sie mit noch weniger Geld nach hause. Auf die Frage wie lange sie heute noch arbeite, erzählte sie von ihrer Mittelschicht. 11.30 Uhr bis 19.00 Uhr, sechs Tage die Woche, seit 13 Jahren. Ihren Mann sehe sie kaum. Nach langer Nachtschicht schlafe der meistens, wenn sie dann doch einmal frei hat. Was sie sich vorgenommen hat? Öfter abends mit dem Hund hinausgehen. Dann fühle sie sich frei. An die Arbeit am nächsten Tag denke sie dann gar nicht mehr. Nur noch ein paar Tage, dann habe sie Urlaub. Wegfahren wolle sie mit ihrem Mann. Vielleicht nach Ägypten, weil es so schön warm ist. Letztes Jahr waren sie in der Türkei. „Und nächstes Jahr?“ „Wer weiß schon, was nächstes Jahr kommt?“

Zum Protestbrief der 172 deutschsprachigen Ökonomen

Beitrag von Astrid Kraus, Alex Recht, Alban Werner, Wolfgang Lindweiler, Bernhard Sander, geschrieben am 10.07.2012
Lieber auf Geld sitzen, als Gläubiger sein.

Der Protestbrief, der an den Urängsten der deutschen Bevölkerung vor Inflation und Bankenallmacht anknüpft, führt in die Irre. Seine zentralen Argumente sind falsch. Das Hauptproblem ist auch nicht die Inflation von Güter- und Dienstleistungspreisen, sondern die drohende Rezession. Im Brief heißt es: „Banken müssen scheitern dürfen. Wenn die Schuldner nicht zurückzahlen können, gibt es nur eine Gruppe, die die Lasten tragen sollte und auch kann: die Gläubiger selber, denn sie sind das Investitionsrisiko bewusst eingegangen und nur sie verfügen über das notwendige Vermögen.“

Diese These, die nahelegt, ein Scheitern von Banken im großen Stil sei die notwendige und gerechte Lösung der Eurokrise, ist in zweierlei Hinsicht falsch: Zum einen löst ein solches Scheitern die Krise nicht, sondern verstärkt sie. Wer glaubt, dies führe über eine heilsame Marktbereinigung zu einer reibungslosen Rückkehr zu einer blühenden Wirtschaft, sitzt einem Grundirrtum des Ordoliberalismus auf. Spätestens seit der Lehman-Pleite und der hierauf folgenden Wirtschaftskrise 2008 sollte klar sein: Das Finanzsystem hängt von der Realwirtschaft ebenso ab, wie es auf sie zurückwirkt. Denn wenn Banken im großen Stil zusammenbrechen, wächst die Unsicherheit, so dass Banken nicht nur anderen Banken, sondern auch Haushalten und Unternehmen Kredite entweder gar nicht mehr oder nur noch zu sehr hohen Zinsen vergeben. Die zunehmende Unsicherheit und das erhöhte Zinsniveau bremsen aber die wirtschaftliche Entwicklung und gefährden so Arbeitsplätze und die öffentlichen Haushalte.

Zum anderen geht aber auch die Idee selber, wonach ein Schuldenschnitt nur verantwortungslose Gläubiger und Spekulanten träfe, von falschen Vorstellungen aus. Wer glaubt, alle Gläubiger säßen wie Dagobert Duck auf Bergen von Geld oder seien spekulativ unterwegs, ist naiv. Zu den Gläubigern gehören zweifelsohne auch Reiche und Spekulanten, aber eben nicht nur: Unter den Gläubigern befinden sich auch die Bundesrepublik Deutschland selbst, Steuerzahler und Rentner in ihrer Eigenschaft als Kleinsparer sowie Unternehmen, öffentliche Banken usw. Wenn all diese von einem Ausfall ihrer Einlagen getroffen würden, käme es zu erheblichen ökonomischen Verwerfungen, wogegen man dann – womöglich verspätet und zu höheren Kosten – doch wieder staatliche Mittel aufbringen müsste. Deshalb ist es falsch, wenn es im Brief heißt: „Steuerzahler, Rentner und Sparer der bislang noch soliden Länder Europas dürfen für die Absicherung dieser Schulden nicht in Haftung genommen werden.“

Wir halten ein Scheitern im großen Stil für eine gefährliche „Lösung“. Auch wir wollen Vermögende an die Kandare nehmen, halten jedoch hohe Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen für eine deutlich bessere Antwort als das Setzen auf die freien Kräfte des Marktes über Scheitern und Haftung.

Und schließlich können Linke diesen Brief nicht unterstützen, weil er eine falsche Frontstellung von vermeintlich „soliden“ Ländern gegen die „südlichen“ Länder aufmacht und die Verhältnisse soweit umdreht, dass er von „Pressionen“ der „soliden“ Länder durch die „südlichen“ Länder spricht. Dieser Krisendeutung kann man sich keinesfalls anschließen. Denn schließlich ist es die deutsche Regierung an vorderster Front, die ein neues Mandat der EZB als „Kreditgeberin der letzten Instanz“ blockiert, mit dem die Spekulation gegen die Zahlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten ein für allemal beendet werden könnte.

Wir halten es daher für falsch, dass Sahra Wagenknecht sich mit den Worten „Wo sie recht haben, haben sie recht“ in einer Pressemeldung positiv auf den Protestbrief beruft, vor dem von den neoliberalen Gegnern eines sozialen Europas skizzierten Horrorszenario einer „Schuldenunion“ warnt und das „liberale Credo“ der Unterzeichner lobend hervorhebt. Wir fordern, dass die öffentliche Hand für die staatliche Unterlegung von Banken mit zusätzlichem Eigenkapital echte Entscheidungsbefugnisse bekommt und wahrnimmt und damit dem Weg zu einem strikt öffentlich-demokratisch kontrollierten Finanzsystem einschlägt. Ebenso fordern wir ein effektives EU-weites Einlagensicherungssystem sowie den Aufbau eines Bankenrettungsfonds.

Der Sinn des Labenz

Beitrag von SG, geschrieben am 10.07.2012
Schatz, Du hast den Brief offen gelassen!

Ein Witz: 172 Wirtschaftswissenschaftler schreiben einen einzigen Brief! Das ist doch unökonomisch, lacht der Betrachter! Doch die Herren Ökonomen legen nach. Sie outsourcen die Verkündigung des Inhalts gleich an die LeserInnen der FAZ: Bitte tragen sie unsere Sorgen bei den Abgeordneten ihres Wahlkreises vor. (s. offener Brief) Jetzt ließe sich über den Grenznutzen weiterer Texte zum Witz spekulieren. Daran mögen wir uns nicht beteiligen, sondern demonstrieren ihn: mit einem Text der drei AutorInnen Astrid Kraus, Alex Recht und Alban Werner.

Sie markieren die falschen Annahmen und die populistischen Verkürzungen der 167 Ökonomen und 5 Ökonominnen. Aber das ist noch mal ein anderes Thema.

Isch verzischte

Beitrag von Jörg Schindler, geschrieben am 07.07.2012

Es ist einer der Momente, in der die Piratenpartei sich endlich aus der Deckung wagt und politische Position bezieht. Zwar nicht als Gesamtpartei, aber doch - und das muss man der Partei durchaus als ihrige zurechnen - über die Auffassung ihres politischen Geschäftsführers, Johannes Ponader. In der FAZ vom 4.7.2012 dürfen wir von ihm lesen: "Ich gehe: Mein Rücktritt vom Amt". Darin beschreibt Ponader die Schwierigkeiten, die er hatte, neben seiner Geschäftsführertätigkeit noch Sozialleistungen vom Jobcenter zu erhalten. Am Ende fasst er zusammen:

"Nun ist ein Sprung ins Ungewisse angesagt, wie ihn viele gehen, die die Gängelung durch die Jobcenter nicht mehr ertragen und freiwillig auf Sozialleistungen verzichten. Ich verlasse das Amt, um frei zu sein. Das Arbeitsamt. Nicht mein Amt als politischer Geschäftsführer."

Wir müssen reden.

Interessant ist der Beitrag durchaus. Und zwar weil er - quasi wie im Brennglas - die Dimensionen einer gesellschaftlichen Diskussion um Arbeitsverhältnisse, Arbeitslosigkeit und Selbstbestimmung in der postfordistischen Gesellschaft aufzeigt.

Es liegt mir als arbeitsmarkt- und sozialpolitisch interessiertes LINKE-Mitglied nun fern, auf einen politischen Aktivisten einer konkurrierenden Partei einzudreschen, obwohl ich der Auffassung bin, dass der Impetus und auch die politische Konsequenz seiner Vorstellung m.E. gar nichts mehr mit Selbstbestimmung, sondern eher etwas mit mittelalterlicher Piraterie zu tun hat. Dazu später mehr. Aber Linke und Piraten - wir müssen über Sozialpolitik reden.

Kein Panoptikum, nirgends.

Immerhin, und das ist Ponader zuzugestehen, beschreibt er ganz gut die Idiotie der Jobcenter-Eingliederungsbürokratie, deren vorhersehbare Erfolglosigkeit jedem halbwegs vernunftbegabten Menschen auffallen muss. Doch gehört nicht auch dazu, sich nicht nur über die Lächerlichkeit der Überforderung der Jobcenter-MitarbeiterInnen lustig zu machen, sondern auch folgendes: Es geht hier nicht um Eingliederung in die Arbeitswelt, sondern um Abschreckung vom Leistungsbezug. Das Panoptikum ist - bei Lichte betrachtet - eben gerade kein solches. Sondern die Realität. Auch dazu später mehr.

Versäumnisse der Linken. Und DER LINKEN.

Auch die Linke (und: DIE LINKE) hat bisher keine wirklich schlüssigen Konzepte, wie in unserer Gesellschaft mit ihren gebrochenen Erwerbsbiografien und unsicheren, teilweise prekären Einkommensverhältnissen soziale Sicherungssysteme gestaltet werden sollen. Insbesondere ist es eines der schweren Versäumnisse der Partei DIE LINKE, aus der - richtigen - Forderung "Hartz IV muss weg" bis heute keinen wirklich attraktiven Vorschlag eines nichtrepressiven, zugleich aber auch umverteilungsgerechten sozialen Sicherungssystems erarbeitet zu haben.

Denn allein die Erhöhung der Regelsätze, die Individualisierung der Leistung und die Verlängerung des ALG-I-Bezugs macht aus HartzIV kein gerechtes soziales Sicherungssystem; noch schwieriger wird es, wenn man - wie Teile der Linken und der Partei meinen - auch noch die Bedarfsprüfung durch eine (zunächst) bedingungslose Auszahlung der Leistungen an alle ersetzen und später quasi alle oberhalb der Bedarfe liegenden Einkommensanteile nachgelagert durch Besteuerung wieder einsammeln will. Letzteres halte ich im Gegensatz wohl zur Mehrheit der prager-frühling-Redaktion für überhaupt keine gute - und vor allem auch keine besonders unbürokratische - Idee. Aber die Differenz konnten wir als Redaktion immer gut aushalten - was wir uns hoch anrechnen.

Meine Nerven: Soziale Sicherung geht nur mit Umverteilung.

Und zumindest gibt es in der Redaktion Einigkeit darüber: Die Frage der sozialen Sicherungssysteme ist keine Frage individuellen Genervtseins, sondern eine Frage des Zugriffs auf gesellschaftliche Ressourcen, auf Reichtum und Beteiligung. Daraus folgt: Ohne massive Umverteilung, ohne ein progressive Besteuerung bis zum Höchsteinkommen und einen einklagbaren Mindestlohn, ohne Ausgleichsmechanismen im Bildungsbereich, in der Verteilung der Arbeit und der natürlichen Güter, ohne Beantwortung der Frage, wie die massenhafte verfestigte Arbeits- und HartzIV-Perpektivlosigkeit in den Vorstadtghettos der Großstädte und strukturschwachen Regionen angegangen werden kann, wird es auch keine gerechte soziale Grundsicherung (welcher Struktur auch immer) geben können. Ist man sich hierüber einig, ist alles andere dann eine Frage der konkreten Abwägung zwischen notwendiger Pauschalierung einerseits und notwendiger individueller Gestaltung von spezifischen Lebenslagen andererseits. Trotzdem müssen die Linken (und: DIE LINKE) sie noch konkret machen, diese "neue soziale Idee".

Sind wir nicht alle ein bisschen "ehrenamtlich"?

Meine Kritik an Ponader ist also nicht so sehr, dass er letztendlich ein Bedingungsloses Grundeinkommen fordert. Allerdings muss er sich - anhand seines eigenen Beispiels - durchaus die Frage gefallen lassen, wie - unterstellt, seine Kritik würde erhört - eigentlich kollektive Sozialversicherungssysteme noch funktionieren sollen, denn Einzahlungen in Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung würde dann ja nur noch individuell, nicht aber durch Erwerbstätigkeit ermöglicht; immerhin stünde danach ja jedem und jeder nützlich Tätigen frei, seine Tätigkeit als nicht arbeitstätig, sondern "ehrenamtlich" und damit durch Sozialleistungen zu finanzieren darzustellen - vom Verkäufer über die Autoschrauberin bis zur Ärztin. Ein solches Arbeitgeberparadies zu fordern - soweit dürfen auch die allerstrengsten BGE-BefürworterInnen normalerweise nicht gehen.

Der feine Herr Pirat

Was aber Ponader aus der ernsthaften Diskussion über die Zukunft sozialer Sicherungssysteme ausschließt, ist die zur Schau getragene Alternative, lieber keine als die derzeitigen sozialen Leistungen in Anspruch zu nehmen - aus Freiheitsgründen, wie es dann heißt: "Der Sprung ins Ungewisse". Wir verstehen: Der feine Herr Freiheit hat offenbar genügend kulturelles Kapital und eine entsprechende Lebenssituation, die es ihm ermöglicht, Sozialleistungen ernsthaft abzulehnen. Will meinen, man hält es wie die Piraten des Mittelalters: Lieber stolz, frei und unabhängig sein und ins Ungewisse segeln als unter der Knute des Arbeitsamts schmachten.

Eine Alternative um des Verreckens willen

Dieser Reformvorschlag - "Hartz IV muss weg" durch "Hartz IV ist weg" - ist bereits heute umgesetzt - schließlich ist niemand gezwungen, diese Leistungen zu beantragen, und das Wirken der Arbeitsverwaltung zielt durch ihre Schikane ja genau hierauf hin. Sozialleistungen nicht zu beantragen, ist also nicht mutig, sondern untertänig. Das Jobcenter hat nicht verloren, sondern gesiegt, der Anspruch wurde auf Null gekürzt. Jedoch können sich die große Anzahl der TransferleistungsbezieherInnen sich eben das um des sprichwörtlichen Verreckens willen gar nicht leisten. Die Piraten müssen also mehr liefern als den medienwirksamen Verzicht aufs Beantragen. Wem soll gegeben, wem genommen werden? Und wie sollen nicht nur die kurzfristig prekären Kreativlinge, sondern auch die dauerhaft Prekären zu ihrem Recht auf ein Leben ohne Angst kommen? Das ist die Frage, die Piraten und Linke gemeinsam und kontrovers diskutieren sollten. Bei Leuten jedoch, die das Problem nicht sehen wollen, endet meine Diskussionsfreudigkeit.

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