Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog

Nach dem Neoliberalismus geht’s weiter ...

Beitrag von Redaktion prager frühling, geschrieben am 13.05.2012

Vor etwa einem Jahr haben wir die LINKE freundlich darauf hingewiesen, dass die bescheidenen Wahlergebnisse in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz Ausdruck eines Wandels der gesellschaftlichen Hegemonie sind und nicht (nur) irgendwelcher hausgemachten Querelen oder der Atomkatastrophe in Japan. Wir empfahlen: kein Schönreden. In einem Beitrag für das Magazin „Sozialismus“ versuchten wir den Wandel des Kapitalismus und seiner ideologischen Formen zu beschreiben und machten Vorschläge, wie die LINKE auf ihn reagieren könnte, um wahlpolitisch erfolgreich zu sein – nicht um seiner selbst Willen, sondern als Voraussetzung für einen sozial-ökologischen Transformationsprozess. Die Debatte kann – wer will - übrigens in unserem Dossier „Öko-Soziale Paradoxie“ nachlesen.

Nun sind wir nicht so vermessen zu glauben, dass ein von uns veröffentlichtes Papier die innerparteilichen Erkenntnisprozesse nachhaltig verändern kann – aber wir hatten zumindest die Hoffnung, dass sich vermittelt durch die Umfragen und Wahlergebnisse die naheliegende Erkenntnis durchsetzt, dass der Abwärtstrend auch Ursachen in einem Wandlungsprozess des kapitalistischen Akkumulationsregimes haben könnte. Wir versuchen deshalb ein weiteres Mal darzulegen, wie die Krise der Partei mit einem sich wandelnden Kapitalismus und einem Riss in der neoliberalen Hegemonie zusammen hängen könnte und welche Schlüsse sich daraus für eine linke, sozialistische Partei ergeben.

Kurz Zusammengefasst geht es in unserem Diskussionsangebot um Folgendes: Die neoliberale Hegemonie ist in einer tiefen Krise – was aber leider nicht nur als gutes Zeichen verstanden werden darf. Vielmehr ist eine „autoritären Wende” in Europa, die als “autoritärer Wettbewerbsetatismus” beschrieben werden kann, ebenso so möglich – vielleicht sogar wahrscheinlicher – wie eine dringend notwendige sozial-ökologische Transformation des Kapitalismus. Das Problem der LINKEN ist nun, dass sie so weitermacht, als gäbe es diese epochalen Veränderungen im Akkumulationsregime nicht. Das spiegelverkehrte Problem der LINKEN hat(te) übrigens die FDP, die Partei des Neoliberalismus. Für die LINKE bedeutet das Ende der neoliberalen Hegemonie als Folge eines sich verändernden Akkumulations- und Regulationsregimes nun, dass die alte fordistische soziale Idee mit ihrer Vorstellung des Normalarbeitstages, der lebenslangen Vollbeschäftigung innerhalb relativ konstanter innerbetrieblicher industrieller Hierarchien den Ansprüchen vieler und den Verwerfungen des postneoliberalen Kapitalismus längst nicht mehr gerecht wird. Um auf die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre einzugehen, muss sie daher endlich ihr Versprechen aus ihrer Gründungsphase einlösen und eine neue soziale Idee formulieren, die das individuelle Recht des Menschen auf Teilhabe am politischen, sozialen und kulturellen Leben zum Ausgangspunkt nimmt. Das Zurverfügungstellen des Lebensnotwendigen, also Gemeingüter und Commons sowie das Grundeinkommen (hier kommt es zumindest auf den Zungenschlag der innerparteilichen Diskussion an) sind Konkretisierungen dieser neuen soziale Idee.

Wir betrachten unser Papier als Einladung zur inhaltlichen Diskussion. Diese ist jetzt wichtiger denn je. Voilà: Nach dem Neoliberalismus geht´s weiter ... DIE LINKE im Postneoliberalismus braucht eine neue soziale Idee. (PDF-Datei)


Nach dem Neoliberalismus geht´s weiter

Beitrag von Redaktion prager frühling, geschrieben am 13.05.2012

Schlagworte:

linke

Die Geschichte der LINKEN war von politischen Erfolgen geprägt. Das Thema Mindestlohn hat sie auf die Tagesordnung gesetzt. Die Finanztransaktionssteuer steht auf der politischen Agenda – wenn auch nur als Light-Version. Die SPD möchte nicht mehr als Sozialabbaupartei gelten. Von der Rente mit 67 rückt sie zaghaft ab. An ihr wollen Bündnis 90/Die Grünen zwar festhalten, dafür möchten diese aber die demütigenden Hartz-IV-Sanktionen zumindest aussetzen. Selbst beim Rückzug aus Afghanistan geht es nur noch um das Wie, nicht mehr um das Ob. So erfolgreich wie die DIE LINKE beim politischen Agenda-Setting waren bisher nur die Grünen, als diese in den 1980er-Jahren die ökologische Frage erfolgreich auf die politische Tagesordnung setzten.
Und eigentlich müsste ihr noch die Finanz- und Eurokrise in Hände spielen. Dennoch hat die LINKE im Moment ihrer stärksten Wirkungsmacht ihre größten Probleme. Obwohl offenbar alles für sie spricht, waren das Ergebnisse der letzten Wahlen eher bescheiden. Warum verliert die LINKE gerade in dem Moment so rapide an Zustimmung, in dem ihre Themen im gesellschaftlichen Mainstream angekommen sind?

Was bedeutet eigentlich das Ende des Neoliberalismus ...

Entgegen weit verbreiter Auffassung hat die Krise der LINKEN nichts mit „Geschwätzigkeit“ (Lafontaine) oder „Selbstbeschäftigung als Ersatzhandlung“ (Ernst) einzelner GenossInnen zu tun. Das ist allenfalls Phänomenologie. Vielmehr ist die Politik der LINKEN nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Konnte sie von 2005 bis 2008 entlang der Hartz-IV und Arbeitsmarktproblematik durch ihre Forderung nach sozialer Gerechtigkeit die Republik verändern, hat sie die im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise 2009 entstandenen, neue gesellschaftspolitische Konstellation verschlafen. Schlimmer noch: Teile der Partei weigern sich renitent, ihren politischen Ansatz zu aktualisieren. Noch immer steht das Versprechen aus, die einst geforderte „neue soziale Idee“ zu unterfüttern und den Anspruch, „anders zu sein als die anderen“ in die Praxis umzusetzen.
Zwischenzeitlich ist die neoliberale Hegemonie längst brüchig Das heißt ausdrücklich nicht, dass es keine neoliberalen Politiken mehr gibt. Auch ist die neoliberale Ideologie nach wie vor noch wirkungsmächtig. Aber die neoliberale Erzählung, dass der Markt es schon richten werde, dass privat besser als öffentlich sei, findet immer weniger Zustimmung. Und selbst der Umstand, dass jetzt – wie mit dem Fiskalpakt – neoliberale Politiken zur Lösung der Finanzkrise durchgesetzt werden, ist kein schlagendes Gegenargument. In den herrschenden sozialen Klassen herrscht Orientierungslosigkeit und Konflikt über den Weg, den der europäische Kapitalismus nehmen soll. Das wird in den Auseinandersetzungen um die Euro-Rettung besonders deutlich. Nur zum Vergleich: Keynesianistische Politiken wurde noch bis in die späten 1980er Jahre umgesetzt. Obwohl zu diesem Zeitpunkt schon längst von einem postfordistischen Akkumulationsregime gesprochen werden musste, das sich peu-à-peu in ein finanzmarktgetriebenes Akkumulationsregime wandelte.
In solcher Zwischenzeit, wie Mitte der 1980er-Jahre, als sich das neoliberale Regulationsregime noch nicht endgültig durchgesetzte hatte, aber das alte, fordistische Regulationsregime schon nicht mehr hegemonial war, befinden wir uns auch heute. Was wir erleben, kann nicht mehr einfach als „Weiter so“ des Neoliberalismus gefasst werden. Das muss nichts gutes heißen - im Gegenteil. Es gibt ernste Anzeichen dafür, dass es noch viel schlimmer werden kann: Griechenland ist faktisch keine Demokratie mehr und in Italien wurde von der Merkel,-Sarkozy-EU ein Regierungswechsel angeordnet. Sie werden faktisch von der Troika bzw. von Sparkommissaren regiert – und nicht mehr von einer demokratisch gewählten Regierung. In Portugal und Spanien könnte die Demokratie demnächst auf ähnliche Weise ausgesetzt werden. In Ungarn sitzt bereits ein postdemokratisches Regime fest im Sattel. Es ist also zu befürchten, dass die Krise des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus mittels autoritär-postdemokratischer Regime gemanagt wird. Der Politikwissenschaftler Lukas Oberndorfer spricht bereits vom Beginn einer “autoritären Wende” in Europa. Die sich abzeichnende Betriebsweise könne als “autoritärer Wettbewerbsetatismus” beschrieben werden.(1)
Auch in Deutschland droht die Durchsetzung einer autoritären fiskalpolitischen Regulationsweise, mit dem Ziel, die Macht großer Unternehmen und Banken auf Kosten der Beschäftigten, Prekären und Erwerbslosen zu sichern. Hierfür spricht der Konsens der Schuldenbremsenparteien CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne, die bewusst darauf verzichten, die desolate Finanzsituation der öffentlichen Haushalte mittels höherer Steuern für Konzerne und Riesenvermögen zu verbessern. Angebotsorientierung im Finanzmarkt statt Nachfrageorientierung durch Massenkaufkraft heißt weiterhin die Strategie. Das Problem der galoppierenden Vermögensanhäufungen, die gewinnsuchend durch die Finanzmärkte geistern wie Vampire durchs Morgenlicht, soll durch eine Art „Den-Tiger-reiten“-Strategie gemeistert werden: Es soll sich akkumulieren, ohne Schaden an den Märkten anzurichten. „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß“ – dies kann nicht funktionieren. Stattdessen setzen sie mehr oder weniger darauf die Ausgaben zu kürzen. Dies wird verheerende Folgen für die sozialen Rechte der Bevölkerung, die öffentliche Infrastruktur und für die wirtschaftliche Entwicklung haben. Weder SPD noch Grüne versuchen ernsthaft, gegen die Austeritätspolitik von Merkel und (ehemals) Sarkozy in Europa zu opponieren. Die Wahl Joachim Gaucks als Einheitskandidaten zum Präsidenten auf Vorschlag und mit den Stimmen von SPD und Grüne zeigt ebenso in diese Richtung.
Aber es gibt auch gegenläufige Momente: Francois Hollande, neuer sozialistischer Präsident in Frankreich, forderte in seinem Wahlkampf einen Einkommensteuerspitzensatz von bis zu 75% und ein Nachverhandeln des Fiskalpaktes. In Dänemark und der Slowakei hat sich eine Linksregierung gebildet, in den Niederlanden kämpft die Sozialistische Partei (SP) um den Spitzenplatz. Zudem erleben wir, wie sich weltweit Bewegungen entwickeln, die sich gegen eine autoritär-nationalistische Krisenpolitik wehren. Erwähnt seien die Bewegung gegen den Sozialabbau in Israel, die Occupy-Bewegung in den USA oder die Jugendbewegungen in Spanien. Und selbst in der herrschenden Klasse gibt es offenbar Widersprüche. Wie anders ist zu erklären, dass immer mehr Superreiche eine angemessene Besteuerung ihrer Vermögen fordern?
Diese Brüche und Widerstände sind zugleich auch Ausdruck eines sich verändernden Akkumulationsregimes. Die Produktionsweise des Kapitalismus hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nachhaltig verändert. Linke und Marxist_innen sollten sich in stärkerem Maße der Frage zu wenden, wie diese Veränderungen zu begreifen sind statt Bekenntnisse auszutauschen. Entscheidend und von prognostischer Bedeutung erweist sich dabei die Digitalisierung und Computerisierung der Produktion („Dritte Industrielle Revolution“). Sie ermöglicht gerade im Bereich der wissensbasierten Produktion flachere Arbeitsprozesse. Gleichzeitig wächst in diesem Bereich das Unbehagen gegenüber den Urheber- und Schutzrechtsregimen, die die Produktion von Wissen und den Wissensaustausch beschränken und verknappen. Beispielhaft genannt seien Softwarepatente und Open Source, Urheberrechte in der Musikindustrie, Handelsabkommen und Richtlinien zur Rechtsdurchsetzung (ACTA und IPRED) und die Politik zur Durchsetzung von „Geistigem Eigentum“ in Entwicklungsländern (etwaMedikamente). Der Kampf um die Eigentumsordnung der Informationsgesellschaft, die Frage wie die Güter Wissen und Kreativität strukturiert, refinanziert und ausgetauscht werden ist in vollem Gange. Die weltweiten Proteste gegen ACTA zeugen von diesem Wandel innerhalb der kapitalistischen Produktionssphäre und der gesellschaftlichen Konfliktlinien, die daraus erwachsen.
Dienstleistungen, Kreativ- und Wissensarbeit nehmen einen immer größeren Raum in unserer Ökonomie ein. Selbst in der klassischen Industrieproduktion verändert sich die Arbeit. Computer- und Software-gelenkte Arbeit nimmt auch hier zu. Das Tätigkeitsprofil des Maschinenbauers wandelt sich von der klassischen Handwerker_in zur Programmierer_in.
Diese Veränderungen in der Produktionsweise zeigen sich auch in den Veränderungen der Berufsstruktur. So ist der Anteil der qualifizierten Facharbeiter_innen und Fachhandwerker_innen in den Jahren von 1990 bis 2007 von 20,8 % auf 13,2 % der Berufstätigen zurückgegangen. Der Anteil der Berufe mit Hochschulabschluss oder akademische Berufe sind hingegen im gleichen Zeitraum von 15,6 % auf 22,2 % gestiegen. Die Erziehungs-, Sozialarbeits- und Therapieberufe sind ebenfalls stark angestiegen (5,0 % auf 9,1 %). Der Politologe Michael Vester spricht in diesem Zusammenhang von einem “polarisierten Upgrading”, d. h. einer Höherqualifizierung der technischen Arbeit, die Folge der “Steigerung des industriellen Outputs durch intelligentere Arbeit und Technologie” ist. Dabei ist mit diesem Upgrading nicht unbedingt eine bessere Entlohnung verbunden. Die Dynamik des Upgrading würde, so Vester, durch den “reinen Kostendruck konterkariert”. Arbeit würde verdichtet, unter Wert eingestuft oder in Niedriglohnländer ausgelagert. (2)
Auch wird sich die Energieproduktion im Kapitalismus verändern müssen. Die Externalisierung der ökologischen Folgekosten ist ein Wesensmerkmal des ressourcenverschwendenden Industrie-Kapitalismus. Der Neoliberalismus reagierte darauf mit marktförmigen Strategien und dem Handel von Emissionsrechten. Heute ist evident, dass auch dieser Weg der ökologischen Krise nicht gerecht wird. Mit der Verseuchung ganzer Landstriche kann man nicht handeln, den Super-GAU nicht privat versichern. Es bedarf eines gesellschaftlichen Umsteuerns. Nach Fukushima wird das Akkumulationsregime ein post-atomares und post-fossiles sein. Eine andere Wahl besteht nur zum Preis der Unbewohnbarkeit der Welt. Dieser Wandel öffnet die Chance auf regenerative und regionale Energieerzeugung. Große zentrale Kraftwerke werden abgelöst. Bei der Energiegewinnung gibt es schon heute flachere in kommunaler Hand befindliche Produktionsprozesse. Hier verstärkt sich die Veränderung der Produktionsweise, die sich aus den Veränderungen im Bereich der Wissensproduktion bereits ergibt.
Diese verschiedenen Entwicklungen zeigen: In den kommenden Jahren wird entschieden, ob als Ergebnis der Krise die ökonomisch und politisch Mächtigen eine autoritäre Wende durchsetzen oder ob die Kräfte, die für eine soziale, ökologische und demokratische Gesellschaft einstehen ein anderes Regulationsmodell durchsetzen können. Sowohl die ProduzentInnen in ökologischen und kreativen Berufen als auch die Menschen, die von den aktuellen Verwerfung sozial getroffen sind, müssten Interesse an einem anderen Regulationsmodell haben. Offen ist, ob es gelingt, dieses gemeinsame Bündnis politisch zu schmieden. Die Redaktion des Magazin „prager frühling“ hat vor etwa einem Jahr in einem Beitrag für die Zeitschrift „Sozialismus“ von einem „ökokreativen Regulationsregime“ gesprochen, das es durchzusetzen gelte.

... für eine anti-neoliberale Partei?

Das Problem der LINKEN ist nun, dass sie so weitermacht, als gäbe es diese Veränderungen nicht. Das ist auch nicht verwunderlich: Schließlich konstituierte sie sich als anti-neoliberale Partei. Das, nicht der demokratische Sozialismus, nicht der Antikapitalismus, war aber der ideologische Kitt, der sie zusammenschweißte. Während der finalen Hochphase des Neoliberalismus Mitte des vergangenen Jahrzehnts wurde sie als Partei wahrgenommen, die für die Verteidigung sozialer Errungenschaften des fordistischen Wohlfahrtstaates stand. Hier hatte sie eine wichtige Funktion. Doch nun muss DIE LINKE auf die veränderte Lage zu reagieren. Das beharrliche Anstimmen des (inhaltlich weiterhin berechtigten) Medleys („Hartz IV muss weg“, „Keine Rente mit 67“, „Raus aus Afghanistan“), allein, wird den Verschiebungen nicht gerecht. Da die anderen Parteien ihre Positionen – zumindest rhetorisch– modifizieren, geht die klare Differenz zu ihnen verloren. 10 Euro Mindestlohn statt 8,50 wirken nur noch als kleiner Aufschlag zur Forderungen der SPD. Die eigene Forderung in der Finanzkrise scheint sich von der CDU nur noch darin zu unterscheiden, dass ein paar Promille mehr Finanztransaktionssteuer her müssen. Und selbst das einst linke Skandalum „Banken verstaatlichen“ ist kein Alleinstellungsmerkmal. Angela Merkel hat es einfach vorgemacht.
Wenn aber die Differenz zu den anderen Parteien nicht mehr deutlich wird, dann gewinnt ein vermeintlicher Vorteil von SPD oder CDU wieder an Bedeutung. Sie – so zumindest die Wahrnehmung – setzten wenigstens die 8,50 Euro Mindestlohn um. Nicht wenigen Wähler_innen ist der Spatz in der Hand lieber als die Taube auf dem Dach.
Das spiegelverkehrte Problem der LINKEN hat übrigens die FDP, die Partei des Neoliberalismus. Auch sie hat noch nicht begriffen, dass die neoliberale Hegemonie gebrochen ist, geschweige denn, dass sie eine Idee davon hätte, wie darauf zu reagieren sei. Aber das soll nun wirklich nicht unser Problem sein.
Für DIE LINKE interessanter sind hingegen die Piraten, deren Wählerschaft sich teilweise mit ihrer überschneidet. Ihr Erstarken hat nur insofern etwas mit dem Internet zu tun, als dass dieses neue Möglichkeiten der Organisierung jenseits etablierter Strukturen bereitstellt. Ironischer Weise wirkt ihr Transparenzmantra als negative Dialektik der Demokratie: Jetzt, wo es im postdemokratischen autoritären Schuldenbremsen-Etatismus kaum noch Alternativen mehr gibt und nichts mehr zu entscheiden ist, weil alles den Sachzwängen der Finanzmärkte unterworfen zu sein scheint, formiert sich eine Bewegung, die diesen Sachzwang “transparent” und “basisdemokratisch” nachvollziehen will. Das Erstarken der Piraten kann als Ausdruck gesellschaftlicher Hegemoniekämpfe gedeutet werden. Eine junge bürgerliche Mittelschicht versucht ihre Erfahrungen aus der Funktionsweise des Netzes sowie der hierarchieärmeren Produktionsprozesse in der Wissensproduktion konsequent auf andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu übertragen. Dieser „Technizismus“, die irrige Vorstellung, durch eine Art Beteiligungsverfahren den harten gesellschaftlichen Verteilungskonflikt quasi „in Computerliebe“ aufzulösen, ist zu kritisieren. Gleichwohl ergeben sich hier auch Anschlüsse für linke Politik. Wer für freie Netzinfrastruktur eintritt, wird schwer begründen können, wieso nicht auch Bildung in allen Lebensphasen, Gesundheitsversorgung, ÖPNV oder Kunst und Kultur frei zugänglich sein sollen Und wer erlebt, wie in der Software- und Kulturproduktion der Zusammenhang von Arbeit, Bezahlung und Nutzung entkoppelt ist, findet sich schnell bei Ideen wie dem Grundeinkommen, Gemeingütern oder pauschalen Vergütungsmodellen wie der Kulturflatrate wieder. In der Politik der Piraten zeigen sich also einerseits fortschrittliche Momente, die liberale Bürgerrechtsideen mit einer neuen Idee der Produktion verbindet. Das Problem ist natürlich die Tendenz, in der Cloud um Liquid Democracy und Nachvollziehbarkeit postpolitisch zu landen und doch die zentralen Einlassbedingungen zum Diskurs der politischen Klasse unterhinterfragt zu akzeptieren. So unterstützen weite Teile der Piraten die Politik der „Schuldenbremse“ und beteiligen sich damit an der postdemokratisch-autoritären Transformation der Demokratie, die Experten und Richtern in Zukunft das Entscheidungsrecht über die Haushaltsgestaltung einräumt. Bisher haben sich die Piraten in den Verteilungskämpfen des Krisenkapitalismus nicht positioniert. Wo es nichts mehr zu entscheiden gibt, macht man sich mit der Forderung nach Transparenz zum Hofnarr der Postdemokratie. Statt ihre Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen als Demokratiepauschale zu interpretieren, die jedem Menschen ein Teilhabe garantierendes Einkommen sichert, diskutiert etwa die AG „Sozialpiraten“ Modelle, die Hartz-IV-Beziehende finanziell noch schlechter stellen würden.

Vom Stellungskrieg ...

Statt produktiv auf die Widersprüche der neuen gesellschaftspolitischen Konstellation zu reagieren, beharrt die LINKE bisher auf der Fortsetzung ihrer Politik aus den Jahren 2005 bis 2008. Viele Akteure sind gefangen im parteiinternen Stellungskrieg. Alles ist geordnet, jeder weiß, wer Freund, wer Gegner ist. Ein Aufbrechen dieser Stellungen, Voraussetzung um eine Formation mit eigensinnigen Konzepten zu werden, würde nur zu neuen Unübersichtlichkeiten führen. Möglicherweise müsste man am Ende der Auseinandersetzungen feststellen, dass sich innerparteiliche Freunde und Gegner neu sortiert haben. Im Zuge der Programmdebatte gab es einen solchen Versuch: Strömungsübergreifend fanden sich vor allem Frauen zusammen, um die Kämpfe um Zeit, die Vier-in-Einem-Perspektive in die LINKE Programmatik einzuschreiben. Ihnen schlug heftige Gegenwehr entgegen – wahrscheinlich gerade deshalb, weil dieser Vorstoß die wohl gepflegten Freund-Feind-Strömungslinien durcheinandergebracht hätte und damit für so manchen Strömungsguru einen realen parteiinternen Machtverlust bedeutet hätte.
Die bestehenden Konfliktlinien sind gar nicht so einfach, wie viele Strömungsayatollahs sie darstellen. Große Teile der Sozialistischen Linken sind genauso „Realos“ wie die AnhängerInnen des Forum Demokratischer Sozialismus (fds). Es sei hier nur einmal daran erinnert, gegen wen die Sanktionsfreiheit bei Hartz-IV innerparteilich durchgesetzt werden musste und wer sich in der Diskussion um die Höhe der Mindestrente wie positioniert hat.
Die gegenwärtigen Konfliktlinien müssen daher anders gezeichnet werden. Es gibt zwei große strategische Unterscheidungslinien, die allerdings auf einer Matrix kombiniert werden können. Erstens eine zwischen einem Flügel, der linkssozialdemokratisch-gewerkschaftsnah orientiert ist und einem undogmatische-libertären Flügel. Zweitens eine zwischen Verwaltungslinken, die nicht über die Möglichkeiten des parlamentarischen Alltags hinaus denken wollen auf der einen Seite und Veränderungslinken auf der anderen Seite, die das realistisch Mögliche und Notwendige nicht mit der parlamentarischen Durchsetzbarkeit verwechseln, sondern die ihre Forderungen auf die Gewinnung einer anderen Hegemonie orientieren. Statt aber dieses Viereck der politischen Strömungen zu realisieren, wird in der Partei nur zwischen einem realpolitischen und einem sogenannten „Linken“-Flügel sortiert, obwohl beide Flügel von den ausgeführten Konfliktlinien durchzogen sind. Es gibt auf dem realpolitisch orientierten Flügel genügend Veränderungslinke, die Vorbehalte gegen eine bornierte Phraseologie der sog. „Parteilinken“ haben. Ebenso gibt es es innerhalb der Parteilinken realpolitisch orientierte Geister, die berechtige Angst davor haben, dass die LINKE als Bettvorleger von Sigmar Gabriel landet. Links-rechts Kategorien greifen in diesem Fall ausnahmsweise nicht.
Auch die klassische Sortierung der Parteilager an der Regierungsbeteiligungsfrage funktioniert nicht überzeugend, weil diese sich spätestens seit den gescheiterten Koalitionsanbahnungen in Hessen, Saarland und Nordrhein-Westfalen ausgelöst hat und diese Frage in den nächsten Jahren keine Rolle spielen wird. SPD und Grünen spekulieren darauf, dass es beim Scheitern der LINKEN zu einer eigenständigen Mehrheit reicht. Ihre Strategie, DIE LINKE aus den Exekutiven herauszuhalten, ist nicht nur eine machtpolitische Laune der beiden Agenda-2010-Parteien, weil sie ihre Pöstchen nicht mit Gysi & Co teilen wollen. Vielmehr ist sie eine Konsequenz ihrer Weigerung, sich für eine sozial-ökologische, damit„öko-kreative“ Regulationsform zu entscheiden. SPD und Grüne haben noch nicht endgültig mit den Paradigmen des Neoliberalismus gebrochen, sind innerparteilich gespalten über die Präferenz der favorisierten Regulationsweise; jedenfalls nicht kohärent agierend. Solange dies so ist, ist DIE LINKE für sie ausschließlich ein störendes Element auf ihrem Weg zur Übernahme der Verwaltungsgeschäfte.
Für die LINKE bleibt unter diesen Voraussetzungen nur eine Oppositionspolitik zu betreiben, die SPD und Grüne vor sich her treibt und sie zu einer Grundsatzentscheidung für diesesozial-ökologische und wissensökonomische Form der Regulation zwingt. Aber damit DIE LINKE überhaupt SPD und Grüne zu einer solchen Grundsatzentscheidung drängen kann, braucht sie selbst eine andere Ausstrahlung. Sie darf nicht dabei stehen bleiben, den Charme der alten sozialen Idee, also der Idee der Rekonstruktion des fordistischen Klassenkompromisses oder um es mit Franz Walter zu sagen, des „versorgungsetatistischen Keynesianismus“, zu versprühen. Was sie braucht, ist eine neue soziale Idee – ein Versprechen, das sie seit ihrer Gründung 2007 vor sich her trägt, aber dessen Ausformulierung noch aussteht. Und weil nichts so mächtig ist wie eine Idee, deren Zeit reif ist, ist die Formulierung einer neuen sozialen Idee, nun die vordringlichste Aufgabe der LINKEN.

... in den Bewegungskampf für eine neue soziale Idee.

Die alte fordistische soziale Idee mit ihrer Vorstellung des Normalarbeitstages, der lebenslangen Vollbeschäftigung innerhalb relativ konstanter innerbetrieblicher industrieller Hierarchien wird den Ansprüchen vieler und den Verwerfungen des postneoliberalen Kapitalismus längst nicht mehr gerecht. Sie kann daher auf der ideologischen Ebene die notwendige Integrationsleistung nicht mehr erbringen.
Um den Veränderungen gerecht zu werden, braucht es eine neue Idee von Gerechtigkeit und des sozialen Zusammenhalts, die über tradierte Vorstellungen des fossil-industriellen Zeitalters hinausweist und es gleichzeitig schafft, an die gemeinsamen Interessen der unterschiedlichen Lebenslagen anzuknüpfen, auf die sich DIE LINKE stützt.
Klassisch hängt die arbeiterbewegte Linke einem leistungsbezogenen bürgerlichen Gerechtigkeitsideal nach: Eigentum, so die Vorstellung, legitimiert sich — in Anlehnung an den Eigentumsbegriff John Lockes — als Ergebnis von Erwerbsarbeit. Die prinzipiell allen Menschen gehörende Natur wird durch Arbeit angeeignet. Durch Arbeit erwirbt der Mensch das Recht an seinem Arbeitsprodukt. Entsprechend wird die Kritik am Kapitalismus vorgetragen: Der Arbeiter erhalte nicht den vollen Lohn seiner Tätigkeit. In der Kritik des Gothaer Programms wandte sich bereits Marx gegen eine solche Gerechtigkeitsvorstellung als ehernes Gesetz. „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen“ lautete dagegen seine Vision von Gerechtigkeit. Die neue soziale Idee muss diese marxsche Gerechtigkeitsvorstellung aufgreifen und den Zusammenhang zwischen Arbeit und Einkommen entkoppeln, ohne ihn ganz aufzulösen. Einkommen („Jeder nach seinen Bedürfnissen) muss sie als die notwendige Voraussetzung für Tätigkeit („Jeder nach seinen Fähigkeiten“) denken. Unter diesen freien Voraussetzungen, in denen der Mensch kein geknechtetes Wesen mehr ist, kann dann die Verrichtung gesellschaftlich notwendiger Arbeit immer noch ein zentrales Kriterium für die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums sein.
Diese neue soziale Idee ist sowohl attraktiv für den größten Teil der KernwählerInnenschaft der LINKEN aus dem abstiegsbedrohten ArbeitnehmerInnenmilieu, deren Lebenswelt und Normen durch industrielle Arbeitsbeziehungen geprägt sind und deren Selbstbewusstsein sich aus ihrer beruflichen Qualifikation ergibt. Sie muss aber auch die Erfahrungen der Menschen in der wachsenden Zahl der hochqualifzierten Berufe in der Wissens- und Sorgeökonomie, die entweder mit den Widersinnigkeiten des kapitalistischen Produktionsprozesses oder aber mit den sozialen Verwerfungen und psychologischen Folgen des entfesselten Kapitalismus unmittelbar konfrontiert sind, berücksichtigen. Sie entwickeln aus diesen Erfahrungen heraus ihre kapitalismuskritische Haltung. Gleichzeitig müssen die prekären und abgehängten Bevölkerungsschichten erreicht und deren Interessen integriert werden. Erschwert wird deren Integration noch, weil die sie tragendenen sozialen Sicherungssysteme hauptsächlich von den Lohnarbeitsbeschäftigten finanziert werden, was schnell zu Entsolidarisierungen zwischen diesen Gruppen führt. Um Bündnisse und gegenseitiges Verständnis sowohl zwischen diesen verschiedenen Milieus zu erreichen als auch in weiteren Milieus Zustimmung für eine soziale Idee zu generieren, ist es daher wichtig den Pfad der leistungsbezogenen Idee von Gerechtigkeit zu verlassen und statt dessen universalistische Politikkonzepte zu entwickeln. Nur eine universalistische soziale Idee wird eine gemeinsame Vision für diese unterschiedlichen Interessenslagen entwickeln können.

Eine neue soziale Idee könnte auf drei Ebenen konkretisiert werden:

1. Ausweitung der öffentlichen Daseinsversorge: Reclaim the commons!

Die Redaktion des Magazins prager frühlings hat die Herausbildung gebührenfreier öffentlicher Dienstleistungen einmal als „Infrastruktursozialismus“ bezeichnet. Öffentliche Leistungen sichern den Zugang aller lebensnotwendigen Leistungen, wie medizinische Versorgung, Mobilität, Energie, Bildung, Kommunikation usw. Auch in anderen Bereichen wurden Modelle erdacht, die auf eine Trennung von Arbeit und Einkommen, von Bezahlung und Konsum hinauslaufen, wie z. B. die Kulturflatrate. Warum also nicht Steuern als Bezahlung von Flatrates für die kostenlose Nutzung von Kultur oder öffentlichen Bildungsreinrichtungen, Verkehrsmitteln oder Sport- und Freizeiteinrichtungen begreifen und entsprechend erläutern? Auch gibt es entwickelte Konzepte, die die ökologische mit der sozialen Frage verbinden – z. B. der Ökoboni. Hoher Energieverbrauch wird hoch besteuert; im Gegenzug wird der Grundbedarf an Mobilität, und Energie kostenfrei zur Verfügung gestellt Damit werden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Ressourcenverbrauch wird minimiert und soziale Rechte gestärkt. Solche Konzepte sind geeignet, die neue soziale Idee mit der ökologischen Frage auf elegante Art zu verknüpfen.
Auch liegen bereits praktische Erfahrungen über eine dezentrale und regionale Energieerzeugung vor. Erste Kommunen regeln ihre Energieversorgung eigenständig. In Hamburg und Berlin wollen Bürgerbegehren das Netz wieder in städtische Hände bekommen. Die Erfahrungen im kommunalpolitischen Bereich mit Bürgerbegehren für öffentliche betriebene Einrichtungen der Daseinsvorsorge, etwa Krankenhäuser oder Wohnungsanbieter, ist überaus positiv. Die innerparteiliche Strömung fds diskutiert gegenwärtig Rekommunalisierungsstrategien als Element einer neuen sozialen Idee und es ist der LINKEN zu wünschen, dass diese Diskussion nicht nur auf diese Strömung beschränkt bliebt.

2. Soziale Grundrechte: Grundeinkommen

Die zweite Konkretisierung der neuen sozialen Idee erfolgt durch die individuelle Absicherung der materiellen, kulturellen und politischen Bedürfnisse des Menschen. Als Instrumente sind hier die sanktionsfreie Mindestsicherung und das bedingungsloses Grundeinkommen im Gespräch. Der Konflikt zwischen diesen Optionen lähmt die gesellschaftliche Linke massiv. Es ist nicht einzusehen, wieso sich Tausende, die sich bundesweit für ein bedingungsloses Grundeinkommen einsetzen regelmäßig von Funktionären und Freund_innen des Verwaltungsstaates wahlweise als utopistisch oder neoliberal beschimpfen lassen müssen. Schließlich darf als gesetzt gelten, dass sie mit der Forderung nach einem bedingungslosem Grundeinkommen zunächst erst einmal eine Alternative zur systematischen Verarmung, Gängelung und Ausschluss aus wesentlichen gesellschaftlichen Bereichen konkretisieren, der nicht etwa mit wohlfeilen sozial-, arbeits und einkommenssteuerrechtlichen Verweisen auf Kombilohn- und Anrechnungsprobleme beizukommen ist. Die Vorstellung eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle entwickelt seinen Charme ja gerade aus einer menschenrechtlichen Nähe und Einfachheit – teils vermeintlich, teils tatsächlich. Erst recht nicht wird der Verweis auf eine vage Vollbeschäftigungszielstellung die seit Jahren Prekarisierten davon abhalten, jedenfalls aktuell ein Einkommen ohne monatliche Jobcenter-Schikane, eben ein solches Grundeinkommen, erzielen zu wollen. Und umgekehrt ist sicherlich die Forderung nach einem Grundeinkommen alleine, ohne begleitende Maßnahmen der arbeitsmarktpolitischen Regulierung kein quasi-religiöser Heilsbringer, wie sie uns Teile der BGE-Bewegung mit leuchtenden Augen vortragen. Die Trias Grundeinkommen – Mindestlohn – Arbeitszeitverkürzung, ergänzt um die Forderung nach einem politischen Streikrecht, könnte der neuen sozialen Idee eine Gestalt verleihen und das unproduktive Gegeneinander überwinden. Dafür bräuchte es im Lager der BGE-Gegner ein Umdenken in Richtung eines demokratischen Sozialstaats und universeller sozialer Grundrechte und bei den BGE-Befürwortern die Einsicht, dass das BGE alleine nicht alle sozial- und arbeitsmarktpolitischen Probleme lösen wird.
Die Idee eines Grundeinkommens und das Ziel der Vollbeschäftigung stehen auch nicht im Widerspruch, wie oft suggeriert wird. Der Kampf um die Verteilung der Erwerbsarbeitszeit, die individuelle und selbstbestimmte Verfügung über die Zeit muss ein zentrales Element der neuen sozialen Idee sein. Dieser Kampf wird nicht einfach mit der alten Parole “35-Stunden-Woche” zu führen sein. Denn in unserer Gesellschaft – das wissen wir aus Studien und aus der Alltagserfahrung – sind die Vorstellungen über Arbeitszeitverkürzungen abhängig von der jeweiligen sozialen Situation und Lebensphase.
Wie die Grünen früher die ökologischen Debatten stellvertretend für die gesamte Gesellschaft geführt haben, muss die LINKE heute die Debatte über eine postfordistische Sozial- und Infrastrukturpolitik stellvertretend für die Gesellschaft führen. Sie darf diese Fragen nicht einfach den Piraten oder gar den Grünen überlassen. Egal wie man zum Grundeinkommen konkret steht, kommt es deshalb bei der Debatte um Hartz-IV, Grundsicherung oder Grundeinkommen auch auf den Zungenschlag an Wer es nicht wenigstens diskutiert, gilt bei diesen als Realitätsverweigerer.

3. Gegen die autoritäre Wende! Für ein soziales Europa

Die dritte Konkretisierung der neuen sozialen Idee besteht in der konsequenten Aktualisierung des linken Internationalismus, also eine Ausbuchstabierung der neuen sozialen Idee in Europa. Der finanzmarktgetriebene Kapitalismus und das neoliberale Regulationsregime haben zu einer globalen Verflechtung der Ökonomie geführt. Dieser Entwicklung ist nicht mit einer Renationaliserung beizukommen. Vielmehr geht es darum, der Krise des Finanzmarktes in Europa mit einer transnationalen, europäischen Regulation zu begegnen. Alex Demirovic und Thomas Sablowski warnen hier zurecht vor nationalen – auch links-nationalen Argumentationsmustern. Es gehe weder um eine Verteidigung der EU noch um ein Zurück zum Nationalstaat. Zurecht empfehlen sie, dass die Strategie der Linken darauf gerichtet sein müsse, eine “Einheit der subalternen Klassen in Europa” herzustellen. Perspektivisch solle die Linke “auf eine politische Union orientieren, die demokratisch strukturiert ist und einen sozialen Ausgleich innerhalb von Europa gewährleisten kann.” (3) Für die LINKE ergeben sich hieraus Forderungen, die auf eine Solidarität zwischen den Ländern (z. B. EU-Länderfinanzausgleich) als für den Ausbau und die Garantie sozialer Rechte in Europa zielen.
Die neue soziale Idee löst also nicht einfach die alte ab. Alle Fragen, die mit einer gerechten Bezahlung und humanen Organisation der Erwerbsarbeit zusammenhängen, bleiben aktuell. Ebenso die Fragen nach der gerechten Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen oder die Frage der Modernisierung der Sozialversicherung (Stichwort: Bürgerversicherung). Hier vertritt DIE LINKE nicht nur viele gute Positionen. Diese darf DIE LINKE auch durchaus zugespitzter vertreten. Beispielsweise könnte die Forderung nach einem sog. „Einkommenskorridor“, der verbindliche Höchst- und Mindesteinkommensgrenzen beinhaltet – wenigstens 1000 Euro und max. 40 000 Euro pro Monat pro Kopf – Umrisse davon transportieren, wie eine radikale Umverteilung zu einer anderen gesellschaftliche Machtverteilung führt. Dass solche Forderung auch durchaus populär werden können, hat der Präsidentschaftskandidat der französische Front de Gauche, Jean-Luc Mélenchon, gezeigt.
Der Zugriff auf die soziale Frage muss sich ändern. Nicht mehr die Erwerbsarbeit steht im Zentrum der sozialen Idee, sondern das individuelle Recht des Menschen auf Teilhabe am politischen, sozialen und kulturellen Leben. Das Zurverfügungstellen des Lebensnotwendigen – die Gemeingüter, Commons – ist die neue soziale Idee im Kapitalismus im 21. Jahrhundert und zugleich eine Keimform der sozialen Regulation einer postkapitalistischen Gesellschaft; sie ist wirkungsmächtig, weil ihre Zeit reif ist.

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(1) Oberndorfer, Lukas; Hegemoniekrise in Europa - Auf dem Weg zu einem autoritären Wettbewerbsetatismus? in: Die EU in der Krise; Forschungsgruppe “Staatsprojekt Europa” (Hrsg.), Münster 2012, S. 52

(2) Vester, Michael; “Postindustrielle oder industrielle Dienstleistungsgesellschaft: Wohin treibt die gesellschaftliche Arbeitsteilung?”, in: WSI Mitteilungen 12/2011, S. 634f

(3) Demirovic, Alex / Sablowski, Thomas: Finanzdominierte Akkumulation und die Krise in Europa, in: Prokla 166, Nr. 1 / 2012, S. 102f

Ab 18.01 Uhr wird zurückgeschossen: HWWI will "europäisches Protektorat"

Beitrag von Jörg Schindler, geschrieben am 07.05.2012

Die griechischen Wahlkabinen hatten gerade geschlossen, und das von Europas Neoliberalen befürchtete Ergebnis ist eingetreten: Selbst mit dem "Bonus" von 20% aus dem Wahlgesetz, das die realen Mehrheitsverhältnisse zugunsten der konservativen "Nea Demokratia" noch verzerrt, gibt es offenbar keine Mehrheit für die Fortsetzung der Sparbeschlüsse in Griechenland. Denn Konservative und PASOK-Sozialdemokraten kommen zusammen nur auf weniger als die Hälfte der Sitze im Parlament.

Weil damit die Exekution der Sparbeschlüsse wohl auf demokratischen Weg nicht umsetzbar oder jedenfalls schwierig erscheint, wird passend gemacht, was demokratisch nicht passt: Nach dem HWWI, einem neoliberalen Wirtschaftsinstitut, pikanterweise erheblich aus Steuermitteln finanziert, soll Griechenland ein "europäisches Protektorat" werden. So formuliert es der Chef des Ladens, Prof. Thomas Straubhaar. Das HWWI, offiziell eine gemeinnützige GmbH, spricht damit aus, was die europäischen Fiskalpolitiker denken, wenn es darum geht, den Fiskalpakt umzusetzen: Demokratische Entscheidungen zählen nicht mehr, es kommt nur noch auf das erwünschte Ergebnis an. Kommt es nicht auf klassischem demokratischen Weg dazu, wird nach dem demokratischen Angriff auf das eh schon feststehende Ergebnis zurückgeschossen und ein Protektorat errichtet. Die erstarkte Linke in Griechenland und selbst der sozialdemokratische Gewinner Francois Hollande darf sich also durchaus auf etwas gefasst machen, wenn der Fiskalpakt neu verhandelt werden soll. Es ist nun Aufgabe der deutschen wie europäischen Linken, die Straubhaars unter Kuratel zu stellen und die Demokratie vor so genannten Professoren zu schützen.

Zu den Grenzen der Queer-theory

Beitrag von Bodo Niendel, geschrieben am 17.04.2012

Queer-theory entwickelt sich weiter und wird von jungen AktivistInnen und WissenschaftlerInnen auf immer weitere Felder ausgedehnt. Mit Judith Butlers Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ begann eine Theorieentwicklung, die scheinbar natürliches hinterfragen und gegebenes verändern wollte. Geschlecht und Sexualität wurden „dekonstruiert“, die heilige Einheit aus Zweigeschlechtlichkeit, Heterosexualität und Begehren („heterosexuelle Matrix“) wurde grundsätzlich auf den Prüfstand gestellt. Daraus entwickelte sich eine Queer-theory, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Bedingungen der Subjektbildung zu hinterfragen und die Heteronormativität der Gesellschaft anzugreifen. Dies hatte auch politische Folgen. AktivistInnen begriffen sich als queer. Sie wollten nicht mehr lesbische oder schwule Politik fortschreiben. Sie spielten mit Körperinszenierungen, protestierten gegen den Zwang sich zwischen zwei Geschlechtern zu entscheiden und entwickelten eigene subkulturelle Praxen.

Der Sammelband spiegelt in zweierlei Hinsicht eine Weiterentwicklung. Der einst „stockschwule“ Verlag Männerschwarm erweitert sein Programm nun um Queer-theory: Kerstin Brandes betrachtet in ihrem Beitrag Bilder mit einer queeren Brille und sieht den Queer-Ansatz als spannendes Analysekriterium an. Künstlerisches Handeln wird beleuchtet und auf emanzipatorische Potentiale abgeklopft. Maurice Schuhmann und Marcus Stiglegger berichten über Fetische, begehrensvolle Inszenierungen und die Möglichkeit der Überschreitung. Antke Engel betrachtet das Inzestverbot als eine „gewaltsame Regulierung des Sozialen“. Eine interessante Kritik, die jedoch unterschlägt, dass ein Wegfall dieser Regulierung Geschwister in erhebliche psychosoziale Konflikte stürzen kann. Wäre es für einen Heranwachsenden nicht eine zu große emotionale Überforderung die direkten Verwandten als potentielle sexuelle Partnerschaften zu betrachten? Christoph Niepels bietet einen spannenden Überblick über die empirische Forschung der Nicht-Heterosexuellen. Niepels belegt den seit langem bekannten Fakt, die Herausbildung von schwulen Identitätsformen hat zu einer Abnahme gleichgeschlechtlicher Pubertätserfahrungen in der Gesamtpopulation geführt. Die Kids wollen nicht als schwul angesehen werden und vermeiden gleichgeschlechtlichen Sex.

Hier klafft noch eine Lücke in der Queer-theory. Benötigen die, die wissen oder ahnen, dass sie schwulen oder lesbischen Sex begehren, in dieser schwierigen Phase nicht eine Identität, die nicht wabert, sondern sie stabilisiert? Akademischer Anspruch und die Sphäre des Realen sind nicht Deckungsgleich. Die zahlreichen empirischen Studien des Sozialwissenschaftlers Michael Bochow zeigen, dass Kids mit einem schwulen Begehren, sich auch als schwul bezeichnen wollen. Queer wollen sie nicht sein.

In Teilen des Buchs finden sich interessante Aspekte für die Ausdehnung des Queeransatz, deshalb ist das Buch lesenswert. Doch es bleibt ein Unbehagen. Denn radikale Dekonstruktion um der Dekonstruktion willen, geht einen Schritt hinter die zentralen Gesellschaftsfragen zurück. Wie soll Gesellschaft verändert werden? Queere Kritik, in Form von subkulturellen Praxen oder individuellen körperliche Inszenierungen kommt so leicht nicht an den harten Kern des Politischen (Staat, Institutionen, Recht) heran. Die Frage, ob oder wie die Transzendenz des bestehenden Ensembles gesellschaftlicher Verhältnisse ermöglicht werden kann, wird uns die Queer-theory nicht beantworten. Queer-theory hat - kein(en) Ort. Nirgends zu Hause und doch will sie überall dabei sein. Doch: Nur dabei sein reicht nicht.

Bodo Niendel, Referent für Queer- und Gleichstellungspolitik der Bundestagsfraktion DIE LINKE.

Deutschlands neuer Exportschlager: Die Investitionsbremse

Beitrag von Thomas Lohmeier, geschrieben am 28.03.2012

Schlagworte:

europa, finanzkrise, fiskalpakt

Morgen wird der Bundestag in erster Lesung über den “Fiskalpakt” befinden. Der verpflichtet die unterzeichnenden Staaten der Eurozone eine “Schuldenbremse” in ihren Verfassungen zu verankern, die eine weitere Kreditaufnahme faktisch verbietet. Übersteigt ihre Verschuldung 60 % ihres Bruttoinlandsproduktes, sollen sie zudem bestraft werden. Vernünftig denkt man. Täglich hören wir schließlich in den Nachrichten, dass die Staatsverschuldungen in den Euro-Ländern gigantisch sei. Und wer will schon gerne noch mehr Schulden haben? Aber was sehr vernünftig für Staaten klingt, würde jeder Privatmann, jede verantwortungsvolle Unternehmerin, für sich zurückweisen. Warum? Ich will es erklären.

Ohne Schulden gibt´s kein Häuschen, keine Fabrik, ...

Für große Vorhaben benötigt man Geld, oft sogar sehr viel Geld. Das gilt für einen kleinen Beamten, der ein Haus bauen möchte, genauso wie für eine Unternehmerin, die teure Maschinen benötigt, um ihre Produkte herzustellen. Im privaten Bereich sprechen wir von Ausgaben, bei Unternehmen von Investitionen. Wenn unser kleiner Beamter das Geld für sein Haus nicht von Oma und Opa geschenkt bekommt oder erbt, besorgt er sich das notwendige Geld bei seiner Bank. Die Schulden, die er da aufnimmt, sind in der Regel sogar ökonomisch sinnvoll. Die Kombination aus Erspartem, Kredit und gesparter Miete führt schließlich dazu, dass unser Beamter nach zwanzig oder dreißig Jahren sein Haus bezahlt hat. Im Rentenalter kann er nun umsonst dort wohnen. Stirbt er, vererbt er sein Haus seinen Kindern oder Enkel. Trotz ihrer Trauer über sein Ableben, wird es sie freuen, dass er nicht sein ganzes Leben in einer Mietwohnung wohnte.

Wenn unsere Unternehmerin den Kauf teurer Maschinen nicht aus ihren Rücklagen vollständig bestreiten kann, die sie aber zur Herstellung ihrer Waren benötigt, braucht auch sie wie unser kleiner Beamter einen Kredit. Gewährt ihr die Bank diesen, kann sie in neue Maschinen investieren. Sie schafft nun sogar Arbeitsplätze mit ihrer Investition - aber das ist ein anderes Thema und soll uns hier nicht weiter interessieren.

… keine Autobahn, Schule oder Schwimmbad.

Aber nicht nur einfache Menschen und Unternehmen haben manchmal größere Ausgaben oder Investitionen zu tätigen. Auch ganze Gesellschaften - Gemeinden, Regionen, ja für ganze Staaten - gilt das. Beispielsweise benötigt eine Gesellschaft Straßen, damit Güter transportiert werden können oder Schulen und Universitäten, damit die Arbeitskräfte von morgen gut ausgebildet werden. Die Liste ließe sich leicht verlängern. Ihnen werden sicherlich gleich eine ganze Reihe weiterer Beispiele einfallen. Straßen, Schulen oder Schwimmbäder werden über Jahrzehnte genutzt. Deshalb ist es nur logisch, dass die Investitionen über Jahre finanziert werden. Das macht der Staat dann genauso wie unser kleiner Beamter oder unsere Unternehmerin durch Schulden und beteiligt auf diese Weise dann auch nachkommende Generationen an diesen Investitionen.

Stimmt´s? Wer Schulden hat, ist arm.

Aber die eigentlich spannende Frage ist nun: Haben unser kleiner Beamter und unsere Unternehmerin eigentlich Schulden? Ja, höre ich sie in Gedanken rufen! Aber sind sie auch verschuldet oder gar überschuldet? Schauen wir uns unsere Unternehmerin an. Sagen wir, die Maschinen kosteten 400.000 EUR, ihr Jahresumsatz betrüge 600.000 EUR. Würde man ihr “Bruttojahresprodukt” in Relation zu ihren Schulden setzten, hätte sie eine Verschuldungsquote von 66,7%. Viel, oder? Aber im Vergleich zu unserem kleinen Beamten wäre es eher ein Witz, wenn wir annehmen, dass sein Haus 200.000 EUR gekostet hat und “nur” 50.000 EUR im Jahr verdient. Seine Verschuldungsquote betrüge satte 400%! Das scheint nun aber nun wirklich viel zu sein, oder? Oder doch nicht? Die Kredittilgungrate von ungefähr 1.000 EUR im Monat kann er sich jedenfalls leisten, immer noch im Biomarkt einkaufen und mit seiner Familie jährlich in Urlaub fahren.

Aber sind nun unser kleiner Beamter und unsere Unternehmerin überschuldet? Bei der Unternehmerin ist die Sache eindeutig. Ihre Bilanz weist zwar einen Bankkredit als Passiva von 400.000 EUR aus, aber auf der Aktiva-Seite steht auch der Wert ihrer Maschinen i. H. v. 400.000 EUR. Vermögenstechnisch ein glattes Nullsummen-Spiel. Ähnlich auch bei unserem kleinen Beamten. Auch er hat natürlich erhebliche Bankschulden. Aber ihnen gegenüber steht der Wert seines Hauses. Wir halten also fest: Beide haben zwar Schulden, aber auch beträchtliche Vermögen. Unterm Strich sind sie beide nicht überschuldet, ihre Anschaffungen und Investitionen sind schlicht vermögensneutral.

Auch für das deutsche Grundgesetz galt bis zum Jahr 2009 ein ähnliche Logik. Schulden durften aufgenommen werden, wenn dafür in Sachwerte investiert wurde. Für Straßen, Schul- und Universitätsgebäude konnten also Kredite aufgenommen werden, weil dafür Sachwerte geschaffen wurden. Nun erzählten uns viele PolitikerInnen, dass wir zukünftigen Generationen deshalb hohe Schulden hinterlassen würden und beschlossen eine so genannte Schuldenbremse. Was sie aber verschwiegen: Den kommenden Generationen werden nicht nur die Verbindlichkeiten, sondern auch gigantische Vermögenswerte hinterlassen. Übrigens, nur zum Vergleich: Die Verschuldungsquote (Relation Staatsschulden zum Bruttoinlandsprodukt) Griechenlands betrug 2011 143%, die von Deutschland 81,8 %. Und was sagt das nun aus? Überlegen Sie selbst. Ach ja: Der Schuldendienst des Bundes liegt übrigens bei 15 % der Haushaltseinnahmen. Hört sich viel an. Aber nur zum Vergleich: Der Schuldendienst unseres kleinen Beamten beträgt 24% (12.000 EUR Schuldendienst in Realation zu 50.000 EUR Einkommen). Zu viel? Nun ja: Bei der Miete sagt man, die solle nicht mehr als ein Drittel des Einkommens betragen. Da ist er locker drunter und irgendwann gehört ihm sein Haus sogar.

Pleite durch “Schuldenbremse” - geht das?

Kehren wir also zurück zu unserem kleinen Beamten und unserer Unternehmerin. Nehmen wir einmal an, die “Schuldenbremse” oder der Fiskalpakt würde auch für diese beiden gelten. Was würde dann passieren? Fangen wir mit unserer Unternehmerin an. Ihr würde nun auferlegt, 5% vom übersteigenden Teil der erlaubten Schulden abzubauen. In unserem Beispiel also 5% von 26.800 EUR (= 6,7% von 400.000 EUR, weil eine Verschuldungsquote von 60% erlaubt wäre). Selbst wenn wir davon ausgehen, dass unsere Unternehmerin die 1.340 EUR zusätzlich aufbringen kann, um sich zu entschulden, hat sie nun ein weiteres Problem: Sie muss nun ausgeglichen wirtschaften. Ihr “Haushaltsplan”, also die Einnahmen und Ausgaben innerhalb eines Jahres, müssen ausgeglichen sein. Was würde nun geschehen, wenn ein weiterer Großkunde ihre Waren bestellen wollen würde? Sie müsste den Auftrag ablehnen. Warum? Sie hätte einfach nicht genügend Rücklagen, um in weitere Maschinen zu investieren. Weitere Kredite, um die notwendigen Maschinen zu kaufen, wären ihr durch die “Schuldenbremse” im Fiskalpakt schlicht untersagt. Wir ahnen es bereits: Die Schuldenbremse ist gar keine Schuldenbremse. Denn den Schulden stünden ja in Form von Maschinen Vermögenswerte gegenüber. Was aber gebremst würde, wären die unternehmerischen Aktivitäten unserer Unternehmerin. Völlig klar, dass sich kein Unternehmen auf eine solche Weise selbst regulieren (besser: strangulieren) würde.

Was aber mit unserem kleinen Beamten bei seiner Verschuldungsquote von 400% passieren würde, möchten wir uns daher gar nicht erst ausmalen. Wahrscheinlich würde ihm die EU-Kommission verbieten, weiterhin Essen im Biomarkt für seine Familie zu kaufen oder in Urlaub zu fahren. Das gesparte Geld ginge in den Schuldendienst. Gleichzeitig hätten auch seine Frau und seine Kinder zu arbeiten, damit der Kredit schneller getilgt werden kann und die erlaubte Schuldenquote von 60% erreicht wird. Dass seine Kinder dann keine gute Ausbildung mehr erhalten können und später vielleicht von Hartz-IV leben müssen - egal! Aber halt, denken Sie, das ist doch übertrieben! Stimmt. Wahrscheinlich würde unserem kleinen Beamten nur eine Privatisierungsempfehlung gegeben. Er hätte sein Haus zu verkaufen, die Schulden zu begleichen und das Haus vom neuen Besitzer zu mieten. Ökonomisch würde ihm dieser Schritt zwar teuer zu stehen kommen, seine Schuldenquote läge aber bei fantastischen 0%!

Schulden sind keine Lösung? Keine Schulden sind aber auch keine Lösung.

Wir sehen also: Der Fiskalpakt sorgt dafür, dass Investitionen nicht mehr getätigt werden. Er bewirkt wenig gegen Überschuldung, dafür aber als hartes Investitionshindernis: Unser kleiner Beamte baut kein Haus, unsere Unternehmerin kauft keine neuen Maschinen. Denn: Verschuldung ist verboten, sagt der Fiskalpakt auf Wunsch der deutschen “Schuldenbremsen”-Parteien CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne. In Deutschland erdacht, soll die “Schuldenbremse”, die wir hier ab jetzt der Genauigkeit willen Investitionsbremse nennen wollen, in die Euro-Länder exportiert werden.

Aber der Verschuldung der Staaten muss doch Einhalt geboten werden, denken Sie immer noch. Recht haben Sie! Nur: Ob unser kleiner Beamter bzw. unsere Unternehmerin Kredit von der Bank bekommt, entscheidet die Bank nicht nach dem Grad der Verschuldung, sondern nach der Wahrscheinlichkeit, dass der Zins- und Tilgungsdienst durchgehend bedient werden kann. Denn das ist die Voraussetzung dafür, dass die Schulden auch abbezahlt werden können und die Bank ihr Geld bekommt. Dafür sind aber die erwarteten Einnahmen entscheidend. Ein Beamter ist da in der Regel ein sicherer Bediener, ebenso ein Unternehmen mit einem guten Geschäftsmodell. Kritisch wird es nur, wenn das Einkommen des Beamten oder die Erlöse des Unternehmens zurückgehen.

Das gilt natürlich auch für einen Staat, der Investitionen tätigt. Er investiert in Straßen, in Schulen und Universitäten oder in Forschung. Damit schafft er die Grundvoraussetzung dafür, dass Unternehmen und Menschen Gewinne und hohe Löhne erzielen können. Sicher, die Staaten haben in den vergangen Jahrzehnten viele Schulden gemacht. Aber gleichzeitig haben sie auch viel investiert: Ein Netz von Straßen und Schulen, Universitäten, Schwimmbäder, Krankenhäuser, die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Sie sehen, wir hinterlassen unseren Kindern nicht nur Schulden, sondern auch beträchtliche Vermögenswerte. Die Kredite zahlt der Staat wie unser kleiner Beamter und unsere Unternehmerin aus seinen laufenden Einnahmen. Seine Einnahmen sind die Steuern auf die Einkommen seiner Bürger. Und mehr noch: Durch gezielte Investitionen kann der Staat einem Absinken der Einnahmen in einer Krise entgegenwirken - so, wie in unserem Beispiel die Unternehmerin die erhöhten Kreditraten ohne Probleme aus dem lukrativen Großauftrag refinanzieren und zugleich durch die höheren Einnahmen in der Folge einen Gewinn erzielen würde.

Kritisch wird es für den Staat wie bei unserem kleinen Beamten oder unserer Unternehmerin also erst, wenn seine Einnahmen zurückgehen. So sind z. B. die Spitzensätze der Einkommenssteuer in den USA von 1950 bis heute von 90% auf 35%, in Deutschland von 95% auf 45%, in Frankreich von 60% auf 40% und in Schweden von 87% auf 56,6% gesenkt worden. In Deutschland wurde bekanntlich zudem die Vermögensteuer ausgesetzt - das ist ungefähr so, als würde unser kleiner Beamter freiwillig auf die Hälfte seines Einkommens verzichten oder unsere Unternehmerin ohne Not die Preise für ihre Waren halbieren. Dann hätten beide wohl tatsächlich ein Problem mit ihren Kreditraten.

Verrückt, verrückter, fiskalgepakt

Aber was macht der Fiskalpakt? Statt die Staaten zu zwingen, ihre Einnahmen durch sinnvolle Steuergesetzgebung zu erhöhen, sorgt er für eine Investitionsbremse, die nur dazu führt, dass die infrastrukturellen Rahmenbedingungen für eine prosperierende Ökonomie immer schlechter werden. Das ist so verrückt, also würde man einem Unternehmen in einer kritischen Phase verbieten, in neue Maschinen zu investieren und zwingen, weiter mit den alten zu arbeiten. Die Folge dürfte klar sein: die Pleite wird wahrscheinlicher statt unwahrscheinlicher.

Dabei ist das quasi erzwungene Handeln der Investitionsbremse nicht nur volkswirtschaftlicher Unfug, sondern auch noch sozial fragwürdig: Eine funktionierende Infrastruktur, umfassende Bildung, ein funktionierendes Netz von Kindertagesstätten usw. nützt der ganzen Bevölkerung - egal ob arm, ob reich - aber besonders jenen, die hierauf in bestimmten Lebenslagen angewiesen sind und sich die Leistungen nicht “privat erkaufen” können. Faktisch verlangt man also durch die Investitionsbremse von den ärmeren Schichten, dass sie sich gleich zu jenen verhalten, die viel Vermögen haben, um einen Kita-Platz, ein Krankenhausbett oder eine Eintrittskarte ins Theater zu erhalten. Dass diese Gleichheit praktisch eine Ungleichheit ist, liegt auf der Hand. Aber ich wollte hier nicht moralisch werden.

Der Wahnsinn wird in Stein gemeißelt

Der Fiskalpakat macht die als “Schuldenbremse” euphemistisch bezeichnete Investitionsbremse zu einem unumkehrbaren völkerrechtlichen Instrument der Haushaltspolitik. Mit einer Verfassungsänderung bekäme man in Deutschland die beschlossene Investitionsbremse zwar wieder aus dem Grundgesetz, aber nicht aus dem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag über “Stabilität, Koordinierung und Steuerung der Wirtschafts- und Währungsunion”. Pacta sunt servanda. Der Fiskalpakt ist deshalb ein besonderer Clou der Neoliberalen. Setzen sie ihn durch, haben sie ihr ökonomisches Paradigma in Stein gemeißelt. Die Investitionsbremse sorgt, wie dargestellt dafür, dass entweder die öffentliche Daseinsversorgung (Bildung, Infrastruktur, soziale Rechte) gekürzt oder das Tafelsilber verscherbelt werden muss. Ob die FDP oder andere neoliberale Parteien dann noch gewählt werden, oder nicht, ist egal. Sie können sich auch auflösen - ihr politisches Ziel haben sie mit der Verabschiedung des Fiskalpaktes erreicht.

Dass der Bundestag außerdem durch den Fiskalpakt faktisch sein Haushaltrecht - mithin das wichtigste Recht des Parlaments - verliert, wenn Deutschland die Verschuldungskritierien überschreitet, darüber wollen wir uns schon gar nicht mehr aufregen. In anderen Ländern werden gleich ganze Regierungen von der Troika aus EU, IWF und Weltbank installiert. Was ist dagegen schon der Verlust des parlamentarischen Haushaltsrechts? Aber vielleicht wählen die Franzosen Hollande ja noch zum Präsidenten und dieser macht etwas für einen Sozialdemokraten der neueren Zeit sehr untypisches und wendet sich gegen ein neoliberales Vorhaben, in dem er den Vertrag, wie im Wahlkampf angekündigt, neu verhandelt. Auf die SPD, die der Investitionsbremse im Grundgesetz oder in der hessischen Verfassung bereits zustimmte, braucht man auf jeden Fall nicht zu hoffen.

"Er ist rechtskonservativ"

geschrieben am 18.03.2012

Schlagworte:

gauck, Schorlemmer

In den vergangen Wochen ist vieles geschrieben und gesagt worden. Exemplarisch wollen wir am Tag der Wahl Joachim Gaucks zum Bundespräsidenten Friedrich Schorlemmer zu Wort kommen lassen. Der evangelische Theologe hat vor wenigen Tagen Weltnetz.tv ein Interview zur Person Joachim Gaucks gegeben, das wir wegen seiner prägnanten Äußerungen in unserem Blog veröffentlichen. Schorlemmer äußert sich in diesem Interview kritisch zur Art, wie Joachim Gauck als Stasi-Unterlagenbeautragter wirkte. Der frühere Protagonist der DDR-Opposition wirft Gauck einen politischen Umgang mit den Stasi-Akten vor. Konkret kritisiert er Gaucks Umgang mit den Akten des SPD-Politikers Manfred Stolpe, dem Schriftsteller Stephan Heym und der Schriftstellerin Christa Wolf. SPD-Mitglied Schorlemmer fragt sich, wieso die SPD Gauck zum Kandidaten gemacht hat. “Ich kann nichts Sozialdemokratisches entdecken. Wenn ich nur sehe, wie er sich über die Entspannungspolitik immer wieder geäußert hat (...) er spricht sich ja noch nachträglich dafür aus, das der Westen gegen Osten noch besser hätte rüsten sollen." In seiner Einschätzung über Gauck kommt Schorlemmer zum Ergebnis: "Er ist rechtskonservativ".

Die Erkläung "Freiheit, die wir meinen", von der im Gespräch die Rede ist, wurde im Tagesspiel dokumentiert.

Demokratie statt Fiskalpakt

geschrieben am 15.03.2012
Historische Vorbilder für die Überschrift ....

Die „Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung“, ein Zusammenschluss von SozialwissenschaftlerInnen aus dem deutschsprachigen Raum, hat heute eine interessante Stellungnahme zur aktuellen Krisenpolitik veröffentlicht. Auch wenn die Überschrift „Demokratie statt Fiskalpakt“ nicht übermäßig originell ist, in den folgenden acht kurzen Absätzen gelingt es den AutorInnen, eine recht umfassende Kritik an den Bewältigungsversuchen der aktuellen Krise prägnant zusammenzufassen.

... gibt es einige.

Neben einer Skizze der tieferliegenden Strukturkrise des Kapitalismus, verweisen die Verfasser auf neoliberale Schockstrategien als die historischen Vorbilder der aktuellen Austeritätspolitik. Sie kritisieren rassistische Hetze gegen die griechische Bevölkerung und warnen vor dem Erstarken chauvinistischer Kräfte. Mehr als 500 Personen haben den Aufruf bereits unterzeichnet. Aufmerksamkeit ist dem Papier jedenfalls zu wünschen. Die Kommentare auf der Webseite der taz, zeigen den Wert der Intervention. Während sich die einen über die „staatsfinanzierte Theoretikertruppe“ auskotzen, wollen andere nichts von einem rassistischen Diskurs über Griechenland mitbekommen haben.

Demokratie ist ja auch ...

Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint, kann der Aufruf auch von Nichtakademikern unterzeichnet werden. Und zwar hier.

... eine grundsätzlich ganz ...

Im folgenden Dokumentieren wir den Text des Aufrufs:

Demokratie statt Fiskalpakt

Krisenlösung und Europa gehen nur ganz anders

feine und wichtige Sache.

Frühjahr 2012. Merkel und Sarkozy eilen von Gipfel zu Gipfel, um den Euro zu retten. Der Boulevard hetzt gegen die Menschen in Griechenland. Der Kampf um die Krisenlösung spitzt sich dramatisch zu: Bis Anfang 2013 will ein autoritär-neoliberales Bündnis aus Kapitalverbänden, Finanzindustrie, EU-Kommission, deutscher Regierung und weiteren Exportländern den jüngst in Brüssel beschlossenen ‚Fiskalpakt’ im Schnellverfahren durch die Parlamente bringen. Der Fiskalpakt verordnet eine sozialfeindliche Sparpolitik und umfasst Strafen gegen Länder, die sich dieser Politik widersetzen. Der Fiskalpakt schränkt damit demokratische Selbstbestimmung weiter ein. Er ist vorläufiger Höhepunkt einer autoritären Entwicklung in Europa.

Zumindest wenn man sie ...

Wir sind diese unsoziale und anti-demokratische Politik ebenso leid wie die rassistischen Attacken auf die griechische Bevölkerung. Reden wir stattdessen von den menschenverachtenden Folgen dieser Politik. Reden wir über die autoritäre Wende Europas und deutsche Niedriglöhne als Krisenursache. Reden wir vom unangetasteten Vermögen der Wenigen und dem Leid der Vielen. Reden wir von unserer Bewunderung für den Widerstand und die Solidarität in der griechischen Bevölkerung. Fordern wir das Selbstverständliche: Echte Demokratie und ein gutes Leben in Würde für alle – in Europa und anderswo.

... nicht so wie diese ...

Die Krise in Europa ist die Spitze eines Eisbergs. Darunter liegt eine tiefe Strukturkrise des Kapitalismus. Zu viel Kapital ist auf der Suche nach Profit. Doch die Profitraten sind niedrig: Die Konkurrenz ist zu groß und die Löhne zu gering. Schuldenfinanziertes Wachstum und Spekulationsblasen konnten den Ausbruch der großen Krise nur verzögern. Nun propagiert das autoritär-neoliberale Bündnis das radikalisierte Weiter-so: Spekulationsverluste sozialisieren – durch dauerhaften Schuldendienst der Lohnabhängigen. Die Profitrate soll gesteigert werden – durch prekäre Arbeitsverhältnisse, Lohn- und Rentenkürzungen, Sozialabbau und Privatisierung. Die Folgen sind drastisch und was in Griechenland passiert, droht ganz Europa: Massenarbeitslosigkeit, Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, zerfallende Gesundheitssysteme, die Zunahme psychischer Erkrankungen und eine sinkende Lebenserwartung.

... oder diese Leute hier versteht. Prost!

Derartige Maßnahmen können nur autoritär durchgesetzt werden. Der Putsch Pinochets in Chile 1973, die IWF-Programme in afrikanischen Staaten der 1980er Jahre und die Transformation im Osteuropa der frühen 1990er Jahre sind historische Vorläufer für Fiskalpakt & Co: Es sind Schockstrategien. Mit vielen Opfern erkämpfte, soziale und demokratische Prinzipien werden durch den Fiskalpakt in atemberaubendem Tempo abgeschafft, um den Schuldendienst zu sichern und die Profitraten zu steigern. In Italien und Griechenland setzen nicht-gewählte Technokraten-Regierungen mit Knüppeln, Tränengas und Wasserwerfern jene Spardiktate durch, die in Brüssel, Frankfurt und Berlin von männerdominierten ‚Experten‘-Gruppen beschlossen werden. Der Fiskalpakt und das Gesetzespaket zur 'Economic Governance' verleihen Organen wie EU-Kommission, Europäischem Gerichtshof und Europäischer Zentralbank, die jenseits demokratischer Kontrolle agieren, mehr und mehr Macht. Es ist perfide: Um demokratische Entscheidungen gegen die neoliberale Orthodoxie zu verhindern, verstärkt der Fiskalpakt das Diktat der Finanzmärkte durch Strafzahlungen an die EU.

Wie in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre gewinnen chauvinistische und faschistische Kräfte an Einfluss, in Ungarn, Österreich, Finnland und anderswo. Geschichtsvergessen macht die deutsche Regierung mit ihrer kompromisslosen Austeritätspolitik reaktionäre Krisenlösungen immer wahrscheinlicher.

Weltweit toben Kämpfe gegen diese Politiken, vom Syntagma-Platz in Athen über den Tahrir-Platz in Kairo und den Zuccotti-Park in New York bis zur Puerta del Sol in Madrid. Die Bewegungen von Flüchtlingen und Wanderarbeiter_innen, mit denen diese die Außengrenzen Europas überqueren, sind Teil dieser Kämpfe um ein gutes Leben. Diese Kämpfe müssen grenzüberschreitend und in den ‚Zentren’ des autoritär-neoliberalen Bündnisses geführt werden, in Paris, Brüssel, Frankfurt und Berlin. Wir rufen deshalb zur Beteiligung an den kommenden Protesten auf, darunter der europäische Aktionstag am 31. März, der Global Day of Action am 12. Mai und die internationale Mobilisierung nach Frankfurt a.M. vom 17.-19. Mai. Wir setzen damit auf eine alternative Krisenlösung:

  • Fiskalpakt nicht ratifizieren, das EU-Gesetzespaket zur 'Economic Governance' zurücknehmen;
  • Staatsschulden streichen, Kapitalverkehrskontrollen einführen und Banken in öffentliche Dienstleister umwandeln;
  • gesellschaftlichen Reichtum durch ein neues Steuersystem von oben nach unten umverteilen;
  • mit einem sozial-ökologischen Investitionsprogramm soziale Infrastruktur ausbauen und ökologischen Umbau vorantreiben;
  • Arbeitszeit verkürzen;
  • Politik und Wirtschaft auf allen Ebenen radikal demokratisieren;
  • die rassistische Politik der Grenzabschottung beenden, Bleiberecht und Papiere für alle.

Gegen die autoritär-neoliberale EU der Wenigen setzen wir ein demokratisches und sozial-ökologisches Europa der Vielen!

Beate Klarsfeld muss Präsidentin werden

Beitrag von Redaktion prager frühling, geschrieben am 26.02.2012

Schlagworte:

gauck, klarsfeld

Mit Joachim Gauck haben Union, SPD, Grüne und FDP einen nationalliberalen Kandidaten für das Präsidentenamt nominiert. Seine zweifelhaften Äußerungen zur Integrationspolitik, zur Bewegung gegen die Finanzkrise oder etwa zur Singularität des Holocaust sind bekannt und im Internet hinlänglich dokumentiert. Die Zustimmung von CDU und FDP für Gauck ist inhaltlich
verständlich. Dagegen können SPD und Grüne nicht überzeugend erklären, weshalb sie einen Kandidaten mittragen, von dem bisher noch keine Worte für eine ökologische und soziale Reformperspektive vernommen werden konnten oder der innenpolitisch durch liberale Positionen zur Einwanderungs- oder Rechtspolitik aufgefallen wäre. Im Gegenteil. Die Anti-AKW-Bewegung stellt er auf eine Stufe mit Fremdenfeindlichkeit. Beide, so Gauck, seien “angstgesteuert”.

Es ist deshalb wichtig, eine Gegenkandidatin zu vorzuschlagen, die statt für einen unsozialen Nationalliberalismus entschieden für die soziale Demokratie und für einen überzeugenden und konsequenten Antifaschismus steht. Eine Kandidatin, deren Engagement gegen nationalsozialistische Seilschaften in der jungen Bundesrepublik deren Demokratie erst half zu konstituieren. Aber es muss auch eine Kandidatin sein, die nicht nur Zählkandidatin einer Partei in der Bundesversammlung ist, sie muss ein Angebot sein, die für die Mehrheit der Delegierten der Bundesversammlung wählbar ist. Mit Beate Klarsfeld ist eine solche Kandidatin vorgeschlagen worden. Sie wurde für ihre Ohrfeige gegen den damaligen Bundeskanzler und Altnazi Kiesinger berühmt. In den folgenden Jahren half sie, viele Naziverbrecher vor Gericht zu bringen.
Ungeachtet der Tatsache, dass Beate Klarsfeld nicht in allen politischen Fragen unserer Auffassung ist, unterstützen wir ihre Kandidatur. Wir wollen, dass sie die nächste Präsidentin der Bundesrepublik wird.

Wer die Kandidatur von Beate Klarsfeld symbolisch unterstützen möchte, ist daher aufgerufen, online auf unserer Website zu unterschreiben und ihr damit Mut und Kraft für ihre Kandidatur zu wünschen.

Für Beate Klarsfeld unterschreiben

Das Gegenteil vom Zurück

Beitrag von Tobias Schulze, geschrieben am 22.02.2012

Gauck inszeniert geschickt regressive Gefühlslagen des kleinbürgerlichen Mainstreams. Wenn DIE LINKE sich als zukunftsfähige Alternative präsentieren will, muss sie um seine Anhängerschaft werben und aufklären.

Keine 99%

50 bis 70 Prozent der Deutschen würden nach Umfragen Joachim Gauck gern als Bundespräsidenten sehen. Was die restlichen 30 bis 50 Prozent über ihn denken, kann nur vermutet werden. Nur zum kleinen Teil werden sie ihn aus politischen Gründen nicht wollen, zum anderen Teil, weil er aus dem Osten kommt, zum Teil, weil er kein Katholik ist, zum Teil, weil sie seinen Pathos nicht ertragen oder, weil sie Wulff besser fanden. Auch bei den LINKEN-Anhängern lehnen nur zwischen 50 und 60 Prozent Gauck ab.

Bei vielen Menschen scheint die Art der Nominierung Gaucks gegen DIE LINKE auf Kritik zu stoßen. Das ändert aber nichts an ihrer Zustimmung zum Kandidaten, der offenbar nicht zum Feindbild taugt. Bei vielen linken politischen Aktivisten, bei uns Linken und auch den Piraten sowie einigen linken Grünen stieß die Nominierung dennoch sofort auf scharfen Widerstand. Während DIE LINKE und linksradikale Kreise auch 2010 Gauck einhellig abgelehnt hatten, ist die Kritik der übrigen Gruppen eher neu. Er ist nicht mehr der unabhängige Kandidat gegen den Parteisoldaten, sondern der Kandidat des Establishments.

Dilemma: Wie knacken wir die mediale Front?

Nicht nur die LINKE, sondern auch die Piraten stehen sowohl vor einem strategischen wie auch vor einem inhaltlichen Dilemma. Wie kann man die mediale Front aus ARD, ZDF, Springer, Spiegel und fünf etablierten Parteien knacken? Wie kann aufgeklärt werden über Gaucks Motive und Positionen? Und: welche sind das überhaupt? Hilft eine eigene Kandidatur- und wenn ja, welche überzeugende Persönlichkeit ist dazu bereit, sich einem kaum zu gewinnenden Medienkrieg auszusetzen?

Gauck: abwägend dem Stammtisch nach dem Mund geredet

Die ersten drei Tage nach Gaucks Nominierung haben eins gezeigt: die Kritik an seiner Haltung reicht weiter als 2010 – sowohl im Netz als auch in Tageszeitungen. Allerdings: die verbreitete Zustimmung in der Bevölkerung zu Gauck dürfte das kaum ankratzen, möglicherweise verstärkt eine verkürzte Kritik an Gauck diese Zustimmung sogar. Das hat viel mit Gaucks rhetorischer Methode zu tun. Er vermeidet eigene Positionierungen weitgehend, sondern redet intellektuell verbrämt und im Für und Wider abwägend der bürgerlichen, deutschstämmigen Mittelschicht nach dem Munde. Er spricht aus, was an Stammtischen und vor Fernsehern gedacht wird, wie Parteien, wie MigrantInnen, wie Linke wahrgenommen werden. Er artikuliert Klischees, Ressentiments und Aggressionen derjenigen, die sich zu den Leistungsträgern der Gesellschaft zählen, während sie „die anderen“ als Meckerer, Miesmacher und schlimmstenfalls als Schmarotzer sehen. Auch der Parteienbetrieb wird aus dieser Sicht als unnütz für das Fortkommen des Landes gesehen. Der Streit zwischen politischen Positionen ist aus dieser Sicht kein Vorzug der Demokratie, sondern nervige Attitüde eines saturierten Systems. Er ist damit gar kein „volksnaher“ Kritiker des politischen Establishments, sondern im Gegenteil ein Unterstützer und Verkäufer der Regierungspolitik. Und zwar der kompletten Regierungspolitik der letzten 20 Jahre. Kohl, Schröder und Merkel haben, so in etwa Gauck, alles richtig gemacht, denn angesichts der Vergangenheit leben wir heute in der besten aller Welten. Dieser Tunnelblick passt zu Merkels Krisenpolitik, die zugunsten von deutschen Interessen Europa kaputtsparen lässt. Es gibt kein kritisches Wort Gaucks über die Regierenden - es sei denn, sie beugen sich dem „Druck der Straße“ wie etwa beim Atomausstieg.

Kein Widerständler

Auch zu DDR-Zeiten war Gauck bis 1989 kein Widerständler. Die durch die Medien vermittelte Wahrnehmung ist jedoch eine andere. Gauck transportiert das antikommunistische Ressentiment im Westen und die trotz allem verbreitete Zustimmung zu Mauerfall, Wende und Widervereinigung im Osten. Die Gleichsetzung von NS-Zeit und Staatsozialismus ist jenseits von politischen Profis für viele Menschen kein Aufreger, dafür ist beides inzwischen zeitlich einfach zu weit entfernt und Geschichtspolitik zu weit weg von ihrem Lebensalltag. Dies verweist auf das strategische und inhaltliche Dilemma der Gauck-Kritiker:

Erstens: die politischen Maßstäbe, die Tabus und Konsense im linken und linksbürgerlichen Milieu sind bei vielen Menschen nicht ähnlich präsent. Zum Teil aus Unkenntnis oder Unlust, sich ausgiebig in politische Diskurse zu begeben, zum Teil aus festsitzenden Ressentiments heraus. Wenn Gauck als Tabubrecher dargestellt werden soll, müssen viele der Tabus erstmal argumentiert werden.
Die Mehrheit der SPD und Grüne sind dabei wohl keine Partner. Die SPD, die einen Sarrazin in ihren Reihen duldet, und die Grünen, die eine Politik der internationalen Kampfeinsätze der Bundeswehr befürworten, haben ihren Teil zum Aufweichen dieser Konsense beigetragen. Das erschwert die Kritik an Gauck aber eher.

Zweitens: Gauck verpackt seine Tabubrüche klug genug. Seine abwägenden und pathetisch ausgekleideten Kettensätze auf ihren eigentlichen Gehalt einzukochen, ist eine aufwändige, hermeneutische Übung. Man wird Gauck nicht so einfach bei dem packen können, was er sagt.
Sondern vor allem bei dem, was er nicht sagt. Wir müssen einen politischen Raum jenseits des bürgerlichen Mainstreams öffnen und besetzen. Das macht eine Strategie ohne überzeugende Gegenkandidatur so schwierig. Seine auf die Nation und die bürgerliche Mitte zentrierte Sicht lässt jedes Potenzial zur Problemlösung der vor uns liegenden Aufgaben vermissen. Die Krise Europas, die autoritären nationalistischen Tendenzen in Ungarn und anderen Beitrittsstaaten, die Realität multiethnischer und multireligiöser Gesellschaften, die soziale Spaltung in Gesellschaft, Bildung und zwischen den Regionen, die kommunikative Revolution durch digitale Medien, der Klimawandel und die Umweltzerstörung – für all dies wären mutige Anstöße nötig, die Gauck nicht liefern wird, weil er es nicht will und wahrscheinlich auch nicht kann. Wenn wir überhaupt einen Bundespräsidenten brauchen, dann einen, der Sinnzusammenhänge für eine sich differenzierende Gesellschaft nicht aus der Feindschaft gegen vermeintlich Fremdes, sondern aus einer Perspektive von sozialer Integration und ökologischer Nachhaltigkeit konstruiert.

Was kann DIE LINKE denn nun in der konkreten Situation für die kommenden vier Wochen anbieten?

Eine mögliche Kandidatur, die diese intellektuelle Ausstrahlungskraft hat und für Piraten, linke Grüne und Sozialdemokraten wählbar ist. Die Piraten haben sich zwar gegen eine Zusammenarbeit ausgesprochen, aber angesichts ihrer geringen Stärke in der Bundesversammlung könnten auch sie profitieren. Namen fallen wohl jedem ein, spekuliert werden soll hier nicht.

Falls keine Persönlichkeit von entsprechendem Format sich auf eine ausschließlich diskursive und schwierige Kandidatur einlässt, wäre auch ein offener und weniger verbissener Dialog mit Gauck ein mögliches Vorgehen. DIE LINKE könnte Gauck in einer öffentliche Sitzung einladen - nicht um Zweifel an LINKE politischen Position zu ihm zu wecken, sondern um seine Positionen mal auf direkte Nachfrage trennscharf herauszuarbeiten und zur Aufklärung wider den Pathos von BILD und Co. beizutragen. Geht man in eine Wahl ohne eigene Kandidatur, wäre eine Möglichkeit, auf Enthaltung zu votieren und das Verfahrensargument stark zu machen, dass DIE LINKE keine Chance der Teilnahme an der Kandidatensuche hatte.

Eine Option wäre auch die Aufhebung einer gemeinsamen Abstimmungsstrategie. Dies würde eine stärkere öffentliche Argumentation der inhaltlichen Argumente gegen Gauck (ggf. auch für Gauck) durch jedes einzelne unserer Mitglieder ermöglichen und uns nicht als geschlossenen Block ohne personelle Alternative erscheinen lassen. DIE LINKE hat eine kleine Chance, aus dieser Bundespräsidentenwahl gestärkt hervorzugehen. Einen Versuch ist es wert.

Dank für's Lebenswerk

Beitrag von Uwe Schaarschmidt, geschrieben am 20.02.2012
Grauhaarig, freundliches Wesen - warum nicht Mal ein Terrier?

Joachim Gauck vorzuwerfen, dass er in Gesprächen mit Stasi-Offizieren, anlässlich der Ausreise seiner Söhne, gesagt hat, der Sozialismus müsse attraktiver werden, damit die Leute ein echtes Heimatgefühl entwickelten, ist das, was Gauck der Occupy-Bewegung unterstellt: Unsäglich albern. Wenn man mit der DDR-Staatsmacht redete, sagte man als Mensch mit halbwegs Verstand eben nicht „Euer ganzer Scheißsozialismus ist für den Arsch“, sondern man sagte: Er muss noch attraktiver werden. Und auch seinem Geständnis, er selbst habe vielleicht zu wenig getan, um seine Söhne von der Ausreise abzuhalten, könnte er durchaus in Gedanken hinzugefügt haben: „Und ich bin stolz darauf, ihr Drecksäcke!“ Wer selbst in der DDR gelebt hat, weiß, was gemeint ist. Innerlich genügend Abstand von einem moralisch dahin gammelnden Regime zu halten, ohne sich allzu auffällig den Gefahren auszusetzen, die dieses Regime ja unbestritten verkörperte, ein wenig Eulenspiegelei, ein wenig Zorn im Gesicht, den man im Falle des Falles immer mit Magenschmerzen erklären konnte - das war Lebenskunst nach Art des Landes.

Aber es war eben kein Widerstandskampf. Sich diesen andichten zu lassen, sich wider besseren Wissens als ehemaliger DDR-Bürgerrechtler verkaufen zu lassen, das ist eine faustdicke Lüge. Irgendwann im Rostocker Bürgerkommitee aufzutauchen und beim Treten des Riesen mitzumachen, als dieser schon zuckend auf dem Boden lag – das war Gaucks Start in die zweite Karriere. Nun war er damit kein Einzelfall. Das Land war damals voll von Mutigen der letzten Stunde ebenso, wie es voll von Feiglingen, Überläufern, Verzweifelten, Zerknirschten war. Die sterbende DDR gab von sich, was lange in ihrem Gedärm gedräut hatte. Das war manchmal lustig, manchmal traurig, manchmal erstaunlich, manchmal wirklich widerwärtig. Gerade die Widerwärtigkeit hatte dabei viele Gesichter. Manche waren sofort in aller Hässlichkeit sichtbar – andere formten sich mit der neuen Zeit, mit den Verlockungen der Macht, des Geldes, der Eitelkeit.

Gauck ist die perfekte Verkörperung eines Mannes, der allen drei Verlockungen erlag. Je nach Auftrag totzuschlagen oder leben zu lassen – dies ist und war Manier der nach Gauck benannten Behörde ebenso, wie der BILD-Zeitung. Dies erklärt auch das vertrauliche Verhältnis beider. Der (westdeutschen) Politik war im Prinzip klar, dass es ohne massive soziale Verwerfungen im Osten Deutschlands nicht abgehen würde und dass die „kleinen Leute“ im Westen die Gewinne der Großen würden bezahlen müssen. Gauck war der Mann, der die Schuldigen dafür zu liefern hatte – immer und immer wieder. Jeden Zweifel am Kapitalismus, jedes Nachdenken über eine Gesellschaft jenseits von ihm mit den Worten „Stasi“ und „Unrecht“ niederzubellen, erledigt Gauck seit über zwei Jahrzehnten in trauter Eintracht mit der BILD-Zeitung – mit und ohne Amt. Nun bald wieder mit. Der Einzug ins Schloss Bellevue ist der Dank für sein Lebenswerk und er ist mit der Erwartung verknüpft, auch künftigen Krisen des Kapitalismus mit dem ihm eigenen, pastoralem Geschwurbel die angeblich einzige, schlimme Alternative entgegen zu halten: Unrecht und Stasi, GULAG und Lubjanka.

In vorauseilendem Gehorsam hat er damit längst begonnen. Auge um Auge – Zahn um Zahn in Afghanistan. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen – sein Plädoyer für Hartz IV. Und die Macht der Reichen, die euer Elend ist, müsst ihr nur so lange ertragen, bis ihr im Paradies seid – die passen mit ihren Geldsäcken ebenso wenig durchs Nadelöhr wie ein Kamel. Seid frohen Mutes, der Herr ist mit euch – und ich bin es auch!

Nur eines ist noch widerwärtiger, als dieser eitle Prediger der Enthaltsamkeit in Dummheit: Die Riege, die ihn in großer Eintracht als Kandidaten präsentiert hat. Sie wussten – Claudia Roth vielleicht einmal ausgenommen – genau, was sie taten.

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