Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog

Von vollen und leeren Gläsern

Beitrag von Redaktion, geschrieben am 01.12.2011

Hat DIE LINKE ein Problem mit Antisemitismus und wenn ja, welches? Der Anfrage des BAK Shalom, ob unsere RedakteurInnen aus Anlass der Aktionswochen gegen Antisemitismus ein Podium mit Prof. Dr. Mario Keßler, Katharina König und Dr. Klaus Lederer zum Thema moderieren wollen, sind wir gern nachgekommen. Schließlich hat die *prager frühling-Redaktion gerade ein Heft zum Thema herausgebracht und uns schien, Diskussion ist mehr als nötig - allerdings anders als Sie bisher geführt wurde.
Manchmal hätten wir uns das Podium etwas kontroverser gewünscht … aber vielleicht klappt es beim nächsten Mal. Wer die Diskussion nachhören möchte, kann dies hier tun.

Erzählung aus vieler Leben Wirklichkeit

Beitrag von Tobias Rahne, geschrieben am 28.11.2011
Still aus BAKHMARO

Das Leipziger Dokumentarfilm‐Festival eröffnet einen Blick auf die Welt, der überwältigt. Hervor-gegangen aus der ‐ in der DDR der 1950er Jahre gegründeten ‐ Leipziger Dokumentarfilmwoche zählt dieses Festival inzwischen zu den drei größten Festivals und Orten für den dokumentarischen Film in der Welt. Mehr als 3000 Einreichungen hatte die Auswahlkommission in diesem Jahr zu verzeichnen, der Festivalkatalog gleicht einem mittelstarken Buch und zunächst braucht es tatsächlich den einen Moment an Aufmerksamkeit, um in diesem starken Programm eine Orientierung zu gewinnen.

Still aus BIELUTIN - IN THE GARDEN OF TIME

Die jährlichen Wettbewerbe für Internationale, Deutsche und Nachwuchs‐Produktionen versammeln die künstlerisch‐dokumentierend herausragenden Filme eines ganzen Jahrgangs. Daneben stehen die regulären Programme. Allein hier wäre der Gewinn schon übergroß, doch das Leipziger Festival zeigt zudem verschiedenste Sonderreihen und Retrospektiven.

Still aus INDIAN SUMMER

In diesem Jahr wurden erste Film‐Arbeiten aus den arabischen Ländern Nordafrikas dem deutschen Publikum in größerem Rahmen gezeigt. Arbeiten wie I AM IN THE SQUARE (Regie: Olfat Osman) oder TAHRIR 2011 (Regie: Tamer Ezzat, Ayten Amin, Amr Salama) aus Ägypten oder wie NO MORE FEAR (Regie: Mourad Ben Cheikh) aus Tunesien dokumentieren ‐ oft mit Filmmaterial von den Plätzen der gewaltigen Demonstrationen ‐ die arabischen Regime‐Umstürze aus dem Geschehen selbst heraus. Eine sehr zu empfehlende Annäherung an die Geschehnisse des inzwischen schon wieder so weit entfernt scheinenden arabischen Frühlings. Besonders, wenn man das bislang Unabgeschlossene dieser

Still aus LIFE IN STILLS

Umstürze und die noch offenen Neukonstituierungen eines ganzen geographisch‐politischen Raumes bedenkt. Und wenn man das aktuelle, schon bürgerkriegsnahe Geschehen im Falle Syriens besieht, dessen Opferzahlen längst alle anderen Proteste überschritten haben und dessen Ende keineswegs absehbar ist.

Still aus RANGIERER

Eine weitere Sonderreihe sucht mit einer Vielzahl von dokumentarischen Filmen weltweiter Herkunft eine Annäherung an das komplexe Jahr 1961, das auch uns hierzulande gerade (festgelegt allerdings sehr auf den Mauerbau) sehr beschäftigte. Andere Programme des Festivals zeigten als einen film-historischen Fund avantgardistische Militär‐Propaganda aus den 1960er/1970er Jahren der Sowjetunion unter Breschnew, die im thematischen Rahmen politischer und militärischer Propaganda in der Film‐ und Medienwissenschaft bislang kaum zur Kenntnis genommen wurde (kuratiert von Barbara Wurm). Hommage und Retrospektive widmeten sich der Dokumentaristin Gitta Nickel und mit einigen Arbeiten dem herausragenden Jubilar Jürgen Böttcher.

Odyssee und Mikrokosmos

Still aus SEPTEMBER 25

Dokumentarische Filme können eine ihnen eigene Kraft inne haben die es vollbringt, dem Zuschauer einen Blick auf die Welt zu eröffnen. Unsere Welt, jenseits von der eigenen ‐ per se eingeschränkten ‐ Lebenswelt . Sie machen im besten Fall sichtbar, wie das Gewöhnliche und das Besondere, wie Leben und Leid, Tag und Nacht fern der eigenen Umgebung, der täglichen Bahn aussehen. Erzählungen aus vieler Leben Wirklichkeit.

Still aus SPLINTERS

Im Vergleich zur längst normierten und in ihrer Gestaltung formatierten TV‐Dokumentation verfügen dokumentarische Filme über ja verschiedenste Ansätze und Gestaltungen, um einem Aspekt, einer kleinen Welt sich anzunähern. Es wird erzählt, es wird beobachtet. Hier wird ein Moment herausgelöst, dort eine Geschichte aus vor-filmischer Wirklichkeit dramaturgisch wirksam für ein Publikum erzählt. Mal sind es Aufnahmen aus der Distanz, mal das sehr persönliche Portrait eines Menschen, welches auch zu den intimsten Bildern und Zeugnissen greift, um ein Leben, eine kleine Welt aufzuheben und sichtbar zu machen.

Still aus TAHRIR 2011

Der israelische Dokumentarfilm LIFE IN STILLS (Regie: Tamar Tal/Israel 2011) beispielsweise erzählt sehr nah aus dem Leben von Miriam Weissenstein. In den Vorkriegsjahren mit ihrem Mann aus der Tschechoslowakei nach Israel geflohen, führen die beiden in Tel Aviv seither das heute älteste Photo‐House Israels. Selbst die Gründung des Staates im Jahre 1948 haben die beiden fotografisch festgehalten. Der Mann starb vor Jahren und zum Drehzeitpunkt führen Miriam und ihr Enkel Ben das Photo‐House. Der Film erzählt mit oft sehr intimen Beobachtungen aus dem Leben der Familie Weissenstein und von einer besonderen, weil sehr sensiblen und füreinander verständnisvollen Beziehung zwischen der Großmutter und ihrem Enkel. Getragen von den zwei herausragenden Protagonisten (die auch das Leipziger Publikum spürbar für sich einnahmen) entsteht hier eine sehr beeindruckende dokumentarische Arbeit, so nah an ihren Lebenswelten und Erfahrungen.

Still aus THE ULYSSES

Ganz anders der herausragende Beitrag BAKHMARO (Regie: Salomé Jashi/Georgien 2011). Anstatt einer über Dekaden verlaufenden Geschichte zu folgen oder das Portrait eindrucksvoller Menschen filmisch zu verdichten bleibt diese Filmarbeit ganz bei einem Fragment unserer Welt. Ein altes Hotel, die guten Tage liegen lange zurück, ist der Mikrokosmos ihrer Beobachtung über mehrere Monate. Distanzierte, ruhige, eingriffslose Beobachtungen der Kamera registrieren hier Mensch und Detail in der georgischen Provinz. Hotelgäste gibt es hier lange nicht mehr und auch das bisweilen noch verbliebene Restaurant der unteren Etage sieht kaum zahlende Besucher. Alle warten hier scheint es, der Manager auf die Gäste, das wenige Personal auf seinen Lohn, selbst der Hund scheint zu warten, wenn er in den Gängen des einstigen Hotels mit stoischer Ruhe und Sanftmut der Kamera Salomé Jashis einfach entgegensieht. Ein Mikrokosmos, im Detail und ohne Induktion von Aktion vor dem Auge der Kamera durch das kleine Filmteam. Ausgehend von dieser kleinen Einheit gewährt der Film Sicht auf Größeres: auf das Georgien in der Provinz und auf Provinz allgemein, abgeschnitten von den größeren gesellschaftlichen und industriellen Zentren und seinen Impulsen.

Still aus WORK HARD - PLAY HARD

Der spanisch‐polnische Beitrag THE ULYSSES (Regie: Agatha Maciaszek, Alberto Garcia Ortiz/Spanien 2011) beschreibt die langen Um‐ und Irrwege von 57 jungen Indern, die auf der Suche nach Arbeit in Europa auf einer spanischen Insel im Norden Afrikas gelandet sind. Mehr als ein Jahr harren sie im Wald der Insel aus und sind in Wartestellung: auf Besserung ihrer Lage, auf Einlass ins Spanien des europäischen Festlands und auf Anerkennung ihrer Identitäten. Die zwei Filmemacher besuchten die Gruppe mehrfach für längere Zeiträume, beobachteten ihr tägliches Handeln, das Mühen um staatliche Hilfe und die traurigen Abende in den Zelten. Für diese filmische Dokumentation sind die Filmemacher nah an ihren Protagonisten, begleiteten sie über ein volles Jahr. Die Filmemacher und ihre Arbeitsweise sind sehr partizipativ. Sie sitzen mit den Indern in Zelten und treten (mit einer Indienreise) sogar als die Übermittler persönlicher Botschaften auf. Den Familien in der indischen Provinz zeigen sie die reuevollen Video-Botschaften der Söhne. Die zahlreichen Familienmitglieder sitzen vor dem Bildschirm, lächeln und weinen zugleich. … und hinterlassen Botschaften, meist Heimkehr-Bitten an die Söhne. Das Verdienst dieses Films ist, dass Europas Umgang mit den Menschen an seinen Grenzen hier Geste und Gesicht erhält und greifbarer für den Zuschauer wird.

Still aus KURZER BESUCH BEI HERMANN GLÖCKNER

Die Produktion INDIAN SUMMER (Regie: Ellen Ugelstadt/Norwegen 2011) widmet sich ganz einem jungen Mann und seinem Leben in der Schizophrenie. Die Regisseurin begleitete Torstein, ihren jüngeren Bruder, über 6 Jahre lang mit der Kamera. Ein Film und Portrait von 70 Minuten Länge und in jeder einzelnen davon ein Gewinn. Entstanden ist eine persönliche, filmische Annäherung an einen psychisch erkrankten jungen Menschen. Die Nähe zwischen den Geschwistern ist zu spüren und nur sie ist es, welche diesen Film entstehen lassen kann. Torstein gibt ihr Einsicht in Nacht und Tag, in den besseren und den schlechteren Phasen seiner Behandlung. Die Filmemacherin kennt sein Leben von Beginn an, sie gestaltet dieses Film-Portrait mit intimer Kenntnis. Neben gegenwärtigen Beobachtungen stehen alte Photographien und Videofilme aus Tagen vor der Erkrankung, Torsteins Stimme erklingt von alten Tonbandaufzeichnungen, von ihm geschriebene poetische Texte werden gesprochen und auch in ihrer Schriftlichkeit ins Filmmaterial geholt. Die Aufnahmen der Filmemacherin sind liebevoll und bei aller Nähe verlieren sie nie den Respekt. Ein persönlicher Film von allgemeiner Relevanz und einer hohen filmischen Kunstfertigkeit.

Weit entfernt von Familie und Portrait positioniert sich WORK HARD ‐ PLAY HARD (Regie: Carmen Losmann/Deutschland 2011) mit einer Annäherung an die Arbeitswelt der Gegenwart. Besser noch: an die tägliche Welt der Arbeit in großen Konzernbüros. Einblicke in architektonische Kriterien für die Gestaltung von Konzernneubauten, in die Gespräche auf Bürofluren oder Mitarbeitertrainings im Wald zeichnen hier ein durchweg kaltes, kalkuliertes Bild von Arbeit. In dem der Mensch Faktor, sein Wesen, seine Bildung zuallererst Skills und Kapital sind. Der Film ist Beobachter von Mitarbeitergesprächen und Coachings, gibt so einen Einblick in meist unzugängliche Prozeduren. Ein deutscher Beitrag, der auch im Wettbewerb sehr erfolgreich war und hoffentlich schon bald das größere Publikum erreicht.

Sprachlos vor Moskau

Ein kurzer Beitrag von nur 30 Minuten lässt das Publikum erstarren. SEPTEMBER 25 (Regie: Askol´d Kurov/Russland 2010) konzentriert sich auf einen kurzen Zeitraum, den 25. September eines Jahres. Beobachtungen, ohne Fragen, ohne Eingriff, mit vielen nahen Einstellungen, roh und sprachintensiv. Ein junger Mann (nach seinem Militärdienst) fährt mit dem Zug in den Vorort, er sucht seinen Vater, der nach dem Mord an der Mutter lange Zeit in Gefängnissen verbracht hat. Beide begegnen sich, eine Konfrontation aus Abstoßung und unfassbarer Nähe ergibt sich. Der Vater ein Wrack, sichtbar trunken und kaum mehr Herr seiner Glieder und Sprache. Russland ganz unten, wahrhaft und kaum zu fassen. Der Sohn, in seinen Sätzen und Gesten selbst jenseits von Contenance, lebt seit dem Tod der Mutter bei Adoptiveltern, dem Dokumentaristen selbst.

Eine andere russische Gegenwart zeigt der ebenfalls kurzformatige Film BIELUTIN ‐ IN THE GAR-DEN OF TIME (Regie: Clement Cogitore/Frankreich 2011). Ein altes Ehepaar, der Ehemann ist Nach- komme italienischer Einwanderer, in ihrer Wohnung mitten in Moskau. Alles in dieser Wohnung ist alt, um einiges älter als die beiden. Die Wände sind mit Gemälden früherer Jahrhunderte behangen, goldene Rahmen um Kunstwerke italienischer Meister. Kein Möbelstück datiert nach 1930, die Fußböden sind dunkel bedeckt von lauter Teppichen.

Kunst und Gegenstände wohin man sieht, in der Küche herbergt eine große Krähe als Haustier, das Ehepaar ist mal allein, mal mit Gästen und vor allem immer in ihrer musealen Umgebung zu sehen. Eine Wohnung als Schatzkammer, glanzvoll und erhaben, doch nie mit Ruhe zu verlassen. Sie beide erzählen aus vergangenen Jahrzehnten mit ihrer Lebenserfahrung in der Sowjetunion. Der Regisseur dreht jede Einstellung in der Wohnung, immer sehr nah an seinen Akteuren. Der Zuschauer erhält so nie eine Orientierung, einen umfassenden Blick auf Wohnung und Haus. Was das Mysteriöse dieser Atmosphäre nur weiter unterstützt. Ein herausragendes, ganz besonderes Fragment der Gegenwart. In Russland zu finden.

Splitter weißrussischer Nachbarschaft

Eine Besonderheit in Leipzig ist der weißrussische Dokumentarfilmer Viktar Asljuk, dessen kurze dokumentarische Arbeiten immer wieder in Leipzig Podium und Aufmerksamkeit erhalten. Filme von weniger als 30 Minuten, mit geringen Mitteln produziert und in Belarus nie in offiziellen Medien zur Ausstrahlung gebracht. SPLINTERS, im deutschen Splitter (Belarus 2011) zeigt ein Dorf in der weiß- russischen Provinz mit nur noch wenigen Bewohnern, fast alle sind Männer.

Asljuk zeigt sie in ihren täglichen Wegen, Gesten und Wortwechseln. Sie sind Verlierer, arm, alt und außer Form, ihre besten Tage liegen in einer anderen Zeit. Ihr Zusammensein, noch hinzu ohne Frau- en, hat etwas unwirkliches und seltsames. Übrig geblieben scheinen sie, doch Asljuk zeigt nicht nur dieses Ungewöhnliche in der Provinz, er zeigt sie voller Respekt und auch mit Zuneigung, gibt diesen Menschen allein durch seine filmische Arbeit etwas Besonderes, was ihr Leben selbst nicht vollbringt. Asljuks Arbeit ist eine von Kontinuität und Leipzig ist Teil davon, die früheren Dokumentarfilme wie WALTZ (2008) oder MARIA (2007) belegen dies. Diese Arbeiten gehören zu den wenigen Bildern, die wir von unseren weißrussischen Nachbarn jenseits offizieller Nachrichten und den so oft gesehenen Lukaschenko‐Fotos haben. Asljuks Arbeiten können nur durch äußere Hilfe entstehen. Meist ist es der kleine TV‐Sender Belsat auf polnischer Seite der Grenze zu Belarus, der seine Filme produziert und auch ausstrahlt. In Belarus selbst ist dieses Programm dann durch Satellitenempfang in weiten Regionen zu sehen.

Blicke auf die Welt um 1961

Diese groß angelegte Reihe (kuratiert von Matthias Heeder und Grit Lemke) nimmt sich vor, durch sieben einzelne Programme mit einer Vielzahl kurzer Dokumentarfilme aus den Jahren um 1961 die Komplexität dieses Zeitpunkts zu umranden und greifbar zu machen. 1961 besteht aus so viel mehr Themen, Konflikten und vor allem Perspektiven als dem deutschen Blick auf den August 1961. Diese Zerlegung in internationale Perspektiven im Blick auf eine Zeit ist vollbracht und die Arbeit daran ist eine Leistung der Kuratoren.

Kurze dokumentarische Arbeiten aus allen Teilen der Welt berichten mit Filmen wie ALGERIA, THE YEAR ZERO (Regie: Marceline Loridan‐Ivens, Jean‐Pierre Sergent/Frankreich 1962) von Frankreichs Krieg in Algerien, mit dem Kurzfilm KAHL (Regie: Haro Senft/BRD 1961) vom ersten Atomkraftwerk der Bundesrepublik und mit dem ersten Film der Golzow-Reihe WENN ICH ERST ZUR SCHULE GEH (Regie: Winfried Junge/DDR 1961) auch vom optimistischen Blick der DDR‐Kulturpolitik und einer Generation junger Künstler auf das ferne Jahr 2000.

Erste Arbeiten der Direct Cinema-Bewegung aus den USA oder des zunächst französischen Cinema Verité manifestierten mit Filmen wie CRISIS ‐ ein Film zur Rassentrennung in Nordamerika ‐ (Regie: Robert Drew/USA 1963) oder der CHRONIQUE D´UN ETÉ (Regie: Jean Rouch/Frankreich 1961) neue Ansätze im dokumentarischen Schaffen dieser Zeit, begünstigt durch technische Entwicklungen und getrieben von künstlerisch‐journalistischem Streben nach neuen Erforschungsmethoden der sie um-gebenden Wirklichkeiten.

Herausragend innerhalb der Reihe sind die kaum bekannten Arbeiten aus der Tschechoslowakei und Ungarn. Filme von Istvan Szabo, Jiri Menzel, Jurai Jakubisko und Jaromil Jires, die weniger auf streng dokumentarische Methode denn auf eine künstlerisch-dokumentarische Annäherung an ihre Gegen-wart setzten. Mit teils bohrenden Aufwerfungen zum gerade erst vergangenen Weltkrieg, zu Behandlung der Roma und Sinti in ihren neuen (sozialistischen) Gesellschaften oder zur Groß‐Bebauung an den Peripherien ihrer Städte. Hier sind die späteren Meister der Osteuropäischen Neuen Wellen des Films noch am Anfang und doch schon da.

Kurzer Besuch im Werk von Jürgen Böttcher

Ein kleines Programm zeigte Arbeiten des gerade 80 Jahre alt gewordenen Dokumentarfilmers und Malers Jürgen Böttcher. Arbeiten wie MARTHA (DDR 1978), WÄSCHERINNEN (DDR 1972), KURZER BESUCH BEI HERMANN GLÖCKNER (DDR 1985) und RANGIERER (DDR 1984), welche zu den besten filmischen Beobachtungen von DDR‐Realitäten und der Arbeitswelt im selbst ernannten Arbeiter- und Bauernstaat ohne großes Pathos und bei Tag- und Nacht-Zeit gehören.

Es waren in diesem Leipziger Herbst wieder ganz beachtliche Filme zu sehen und es ist eine bewundernswerte Fähigkeit in vielen dieser Arbeiten, von der Vielfalt unserer Welt uns etwas näher heran zu holen, es zu erzählen, zu zeigen und darauf aufmerksam zu machen. Dieses Festival müsste uns öfter mit in die Welt nehmen. Es ist zu wünschen, dass von diesem Leipziger Programm möglichst viele der Filme einen Weg ins tägliche Leben hierzulande und in die Programme der Sender finden.


Der Autor ist ein junger Filmhistoriker an der HBK Braunschweig und gründete in 2011 mit Freunden einen Filmverleih für Dokumentarfilm aus Osteuropa, dem Kaukasus und Zentralasien.

Herr Geier

geschrieben am 26.11.2011

"Das Finden einer Wohnung oder von Örtlichkeiten und Lokalen zur Unterbringung von Gewerbe und Handel wird in den Großstädten immer teurer. Um sich jedoch seinen Lebensunterhalt zu verdienen, muß man – koste es, was es wolle – in den Städten wohnen, in denen sich der Handel und das Gewerbe konzentrieren.

Die wirtschaftlichen Bedingungen der kapitalistischen Produktion zwingen die Bevölkerung, sich vom Wohnort zu entfernen, die ländlichen Gebiete zu verlassen und sich in den Großstädten zusammenzudrängen, wo sie in die Hände des Monsieur Geier fällt, der eines der wildesten Raubtiere der so hochgelobten Zivilisation ist."

"Der aus der Revolution hervorgegangene Code Civil verleiht Monsieur Geier das absolute Eigentum an Grund und Boden sowie dem Raum darüber und darunter, welches ihm das Feudalrecht nicht zugestanden hat."

"Monsieur Geier, der keine einzige Kelle Mörtel verschwendet, keinen einzigen Stein gesetzt hat, um sein Haus zu bauen, muß nichts anderes tun als mit verschränkten Armen zu warten und die Stadtbewohner gewähren zu lassen, um den Wert seines Grundes und den Preis seiner Mieten in die Höhe klettern zu sehen. Es sind die Stadtbewohner selbst, die ihm, durch ihre Anzahl und durch ihre industriellen und kommerziellen Aktivitäten, die Mittel in die Hand geben, sie auszubeuten."

"Das Gesetz hat Monsieur Geier skandalöse Privilegien eingeräumt: das Gesetz verordnet, daß er vor allen anderen bezahlt werden muß. Ein Händler, bewaffnet mit einer Verfügung gegen seinen mit der Zahlung im Rückstand befindlichen Kunden, erscheint in dessen Domizil, um das Mobiliar beschlagnahmen und verkaufen zu lassen; – 'Nichts da!', ruft ihm das Raubtier zu, 'Euer Schuldner schuldet mir seine Miete, und meine Forderung kommt vor der Euren. Verkauft alles bis auf das letzte Hemd, das er am Leibe trägt und das Ihr nicht anrühren dürft, aber ich bin der erste, der das Geld einstreicht; der Rest verbleibt Euch, wenn es überhaupt einen Rest gibt'."

"Der Mieter ist die vogelfreie Beute, die Monsieur Geier auf Gnade und Ungnade ausgeliefert ist. Er dreht sie hin und wieder her, um besser ihr Blut trinken zu können."

"Monsieur Geier ist ein Volksfeind. Wer es wagt, das laut zu sagen, was alle denken und leise murmeln, findet bei jedermann Zustimmung. Meine Artikel sind ein Aufschrei des öffentlichen Gewissens. Sie haben mir zahlreiche ermutigende Briefe von Genossen und von Unbekannten eingebracht, die mir Tatsachen aus ihrer eigenen Erfahrung mitteilen und verlangen, daß meine Artikel als Broschüren veröffentlicht werden. Daß Monsieur Geier mich mit Beleidigungen überhäuft hat, zeigt mir nur, daß ich voll ins Schwarze getroffen habe."

"Reformen gegen Monsieur Geier" […]

"Diese Reformen, die im kapitalistischen System selbst realisierbar sind, würden im Falle ihrer Durchführung den Arbeitern und Angestellten jenes 'bessere Leben' ermöglichen, welches die reformistischen und revolutionären Gewerkschafter der C.G.T propagieren. […] Die Parti Socialiste jedoch … […]."

Wie die Reformen aussehen könnten und was die Parti Socialiste laut Lafargue will, kann in seinem Werk "Herr Geier" nachgelesen werden.

Das Recht auf Faulheit.

geschrieben am 25.11.2011

Schlagworte:

Paul Lafargue

Vor genau einhundert Jahren, in der Nacht vom 25. auf den 26. November verabschiedeten sich Paul Lafargue und Laura Lafargue, die Tochter Karl Marx' aus dem Leben. Wir ehren den Hedonist und Polemiker, den freiheitsliebenden Sozialisten und Frauenrechtler in den kommenden Tagen mit der Veröffentlichung von Auszügen aus seinem Schaffen. (Mehr dazu: hier.)


"Die kapitalistische Moral, eine jämmerliche Kopie der christlichen Moral, belegt das Fleisch des Arbeiters mit einem Fluch; ihr Ideal besteht darin, die Bedürfnisse des Produzenten auf das geringste Minimum zu drücken, seine Freude und seine Leidenschaften zu ersticken und ihn zur Rolle einer Maschine zu verurteilen, aus der man pausenlos und gnadenlos Arbeit herausschindet."

"'Laßt uns faul in allen Sachen,

Nur nicht faul zu Lieb' und Wein,

Nur nicht faul zur Faulheit sein.'

Lessing

Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht. Diese Sucht, die Einzel- und Massenelend zur Folge hat, quält die traurige Menschheit seit zwei Jahrhunderten. Diese Sucht ist die Liebe zur Arbeit, die rasende Arbeitssucht, getrieben bis zur Erschöpfung der Lebensenergie des Einzelnen und seiner Nachkommen."

"In der kapitalistischen Gesellschaft ist die Arbeit die Ursache des geistigen Verkommens und körperlicher Verunstaltung. Man vergleiche die von einem menschlichen Dienerpack bedienten Vollblutpferde in den Ställen eines Rothschild mit den schwerfälligen normannischen Gäulen, welche das Land beackern, den Mistwagen ziehen und die Ernte einfahren. Man betrachte den edlen Wilden, wenn ihn die Missionare des Handels und die Vertreter in Glaubensartikeln noch nicht durch Christentum, Syphilis und das Dogma der Arbeit verdorben haben, und dann vergleiche man mit ihm unsere elenden Maschinensklaven."

"'Je mehr meine Völker arbeiten, um so weniger Laster wird es geben', schrieb Napoleon am 5. Mai 1807 aus Osterode. 'Ich bin die Autorität, ... und ich wäre geneigt zu verfügen, daß sonntags nach vollzogenem Gottesdienst die Werkstätten wieder geöffnet werden und die Arbeiter wieder ihrer Beschäftigung nachgehen sollen.'"

"O jämmerliche Fehlgeburt der revolutionären Prinzipien der Bourgeoisie! O grausige Geschenke ihres Götzen Fortschritt! Die Menschenfreunde nennen diejenigen, die, um sich auf die leichte Art zu bereichern, den Armen Arbeit geben, Wohltäter der Menschheit - es wäre besser, die Pest zu säen, die Brunnen zu vergiften, als inmitten einer ländlichen Bevölkerung eine Fabrik zu errichten. Führe die Fabrikarbeit ein, und adieu Freude, Gesundheit, Freiheit - adieu alles, was das Leben schön, was es wert macht, gelebt zu werden.

Die Ökomomen werden nicht müde, den Arbeitern zuzurufen: Arbeitet, damit der Nationalreichtum wächst! Und doch war es einer von ihnen, Destutt de Tracy, der sagte: 'Die armen Nationen sind es, wo das Volk sich wohlbefindet; bei den reichen Nationen ist es gewöhnlich arm.'

Und sein Schüler Cherbuliez setzt hinzu: 'Indem die Arbeiter zur Anhäufung produktiver Kapitalien mitwirken, fördern sie selbst den Faktor, der sie früher oder später eines Teils ihres Lohnes berauben wird.'"

"Arbeitet, arbeitet, Proletarier, vermehrt den gesellschaftlichen Reichtum und damit euer persönliches Elend. Arbeitet, arbeitet, um, immer ärmer geworden, noch mehr Ursache zu haben, zu arbeiten und elend zu sein. Das ist das unerbittliche Gesetz der kapitalistischen Produktion.

Dadurch, daß die Arbeiter den trügerischen Reden der Ökonomen Glauben schenken und Leib und Seele dem Laster Arbeit ausliefern, stürzen sie die ganze Gesellschaft in jene industriellen Krisen der Überproduktion, die den gesellschaflichen Organismus in Zuckungen versetzen. Dann werden wegen Überfluß an Waren und Mangel an Abnehmern die Werke geschlossen, und mit seiner tausendsträhnigen Geißel peitscht der Hunger die arbeitende Bevölkerung. Betört von dem Dogma der Arbeit sehen die Proletarier nicht ein, daß die Mehrarbeit, der sie sich in der Zeit des angeblichen Wohlstandes unterzogen haben, die Ursache ihres jetzigen Elends ist, und anstatt vor die Getreidespeicher zu ziehen und zu schreien: »Wir haben Hunger, wir wollen essen! ... Allerdings haben wir keinen roten Heller, aber wenn wir auch Habenichtse sind, wir sind es gewesen, die das Korn eingebracht und die Trauben gelesen haben' [….] Statt in den Zeiten der Krise eine Verteilung der Produkte und allgemeine Belustigung zu verlangen, rennen sich die Arbeiter vor Hunger die Köpfe an den Toren der Fabriken ein. Mit eingefallenen Wangen, abgemagerten Körper überlaufen sie die Fabrikanten mit kläglichen Ansprachen: 'Lieber Herr Chagot, bester Herr Schneider, geben Sie uns doch Arbeit, es ist nicht der Hunger, der uns plagt, sondern die Liebe zur Arbeit!'- Und, kaum imstande sich aufrechtzuerhalten, verkaufen die Elenden 12 bis 14 Stunden Arbeit um die Hälfte billiger als zur Zeit, wo sie noch Brot im Korbe hatten. Und die Herren industriellen Menschenfreunde benutzen die Arbeitslosigkeit, um noch billiger zu produzieren.

Wenn die industriellen Krisen auf die Perioden der Überarbeit so notwendig folgen wie die Nacht dem Tag und erzwungene Arbeitslosigkeit bei grenzenlosem Elend nach sich ziehen, so bringen sie auch den unerbittlichen Bankrott mit sich."

"Diese persönlichen und gesellschaftlichen Leiden, so groß und unzählbar sie auch sind, so ewig sie auch erscheinen mögen, werden verschwinden wie die Hyänen und die Schakale beim Herannahen des Löwen, sobald das Proletariat sagen wird: 'Ich will es'. Aber damit ihm seine Kraft bewußt wird, muß das Proletariat die Vorurteile der christlichen, ökonomischen und liberalistischen Moral mit Füßen treten; es muß zu seinen natürlichen Instinkten zurückkehren, muß die Faulheitsrechte ausrufen, die tausendfach edler und heiliger sind als die schwindsüchtigen Menschenrechte, die von den übersinnlichen Anwälten der bürgerlichen Revolution wiedergekäut werden; es muß sich zwingen, nicht mehr als drei Stunden täglich zu arbeiten, um den Rest des Tages und der Nacht müßig zu gehen und flott zu leben.

Bis hierher war meine Aufgabe leicht; ich hatte nur wirkliche, uns allen leider nur zu bekannte Übel zu schildern. Aber das Proletariat zu überzeugen, daß die zügellose Arbeit, der es sich seit Beginn des Jahrhunderts ergeben hat, die schrecklichste Geißel ist, welche je die Menschheit getroffen, daß die Arbeit erst dann eine Würze der Vergnügungen der Faulheit, eine dem menschlichen Körper nützliche Leidenschaft sein wird, wenn sie weise geregelt und auf ein Maximum von drei Stunden täglich beschränkt wird - das ist eine Aufgabe, die meine Kräfte übersteigt. Nur Ärzte, Fachleute für Gesundheitsvorsorge und kommunistische Ökonomen können sie unternehmen. In den nachfolgenden Seiten werde ich mich auf den Nachweis beschränken, daß angesichts der modernen Produktionsmittel und ihrer unbegrenzten Vervielfältigungsmöglichkeiten die übertriebene Leidenschaft der Arbeiter für die Arbeit gebändigt und es ihnen zur Pflicht gemacht werden muß, die Waren, die sie produzieren, auch zu verbrauchen."

Der Nachweis und die Ideen Lafargues zur Umsetzung dieses Vorhabens finden sich in seinem Werk "Das Recht auf Faulheit. Widerlegung des 'Rechts auf Arbeit' von 1848".

"Ein verkaufter Appetit"

Beitrag von Paul Lafargue, geschrieben am 24.11.2011
Bourgeois sucht sich ein Tier zum Verzehr aus.

"Es war im Monat Dezember. Emile Destouches fror und hatte fürchterlichen Hunger.

[Ein Bourgeoisie:] 'Sie wollen sich töten, weil Sie Hunger haben?'

[Emile:] 'Ja.'

'Sie sind jung und gut gebaut. Sie sind mein Mann. Folgen Sie mir.'

Emile glaubte an einen von der Vorsehung bestimmten Retter in der Not.

[Bourgeoisie]: 'Ich schlage Ihnen vor, mir Ihre Verdauungszeit zu verkaufen, geradeso, wie der Arbeiter seine Muskelkraft, der Ingenieur die Kraft seiner Intelligenz, die Amme ihre Milch samt mütterlicher Pflege verkaufen.'

'Ist das möglich?'

'Absolut. Sie werden den Appetit produzieren und liefern, ich werde für Sie essen und trinken, und Sie werden dann gesättigt sein. […] Verkaufen Sie mir Ihren Appetit, der Sie zur Arbeit und Elend verdammt, und ich liefere Ihnen das nötig Geld, daß Ihnen jetzt fehlt; ich bezahlen Ihnen eine monatliche Rente von 1.500 Francs.""

"Die Magenarbeit wurde für Destouches von Tag zu Tag peinlicher. Das Scheusal wiederholte seine Mahlzeiten drei bis vier Mal täglich und trank oft, bis er besoffen war. Um sich zu erleichtern, suchte Destouches in einem von den Römern angewandten Verfahren sein Heil: Er steckte den Finger in den Hals, um sich zu übergeben. Aber kaum hatte er seinen Magen entleert, füllte ihn sein Henker wieder. Sein Leben wurde unerträglich. Schon beim Anblick irgendeiner Nahrung, selbst des Brotes, wurde ihm kotzübel."

"Emile war niedergeschlagen und ganz verblödet. Er lebte willenlos dahin, ständig verdauend, ständig leidend, ständig voller Ekel. Er stand auf, marschierte und legte sich zu Bett, ganz nach dem Kommando seines Wächters, stumm wie ein Hund, der nicht mehr zu bellen wagt, nachdem er ordentlich geprügelt wurde!"

"Destouches hatte sich passiv unterworfen, aber selbst Lämmer können zu Wölfen werden."

Dazu, wie sich Emile Destouches rächt und welches Schicksal er erleidet, erfährt man mehr in Lafargues Werk "Ein verkaufter Appetit" (1884/1900).

Selbstbestimmung bis zum Schluß

Beitrag von Ronald Blaschke, geschrieben am 23.11.2011

Paul Lafargue und seine Frau Laura Lafargue, die Tochter von Karl Marx,

verabschiedeten sich in der Nacht vom 25. zum 26. November 1911 von dieser Welt.

Überliefert ist das Motiv des Hedonisten Paul Lafargue durch eine Abschiedsnotiz : "Gesund an Leib und Seele töte ich mich, bevor mich das gnadenlose Alter schrittweise nach und nach die Freuden der Existenz beraubt und meine physische und geistige Stärke untergräbt, meine Energie lähmt, meinen Willen bricht und mich mir selbst und den anderen zur Last macht."

Selbstbestimmung bis in den Tod hinein.

Der Sozialist Paul Lafargue stand einem asketischen und disziplinierenden Kasernensozialismus ablehnend gegenüber. Seine Gedanken über die Muße, über freie Liebe und Erotik, über die Sprachentwicklung, zur Frauenfrage und zum Mutterrecht waren nicht Mainstream. Er strebte mit seinen Beiträgen aber die intellektuelle und kulturelle Hegemonie des revolutionären Subjekts an.

Lafargue wirkte insbesondere in der spanischen und französischen organisierten Arbeiterbewegung und übersetzte gemeinsam mit seiner Frau Werke von Karl Marx und Friedrich Engels. Auch bei den russischen Revolutionären war er sehr populär. Lenin hatte an seinem Grab gesprochen und ihn "einen der Begabtesten und Gründlichsten unter denen, welche die Idee des Marxismus verbreiten" genannt. Während der russischen Revolutionen und nach der Machtergreifung der Bolschewiki erschienen auch in Russland viele seiner Schriften.

Unter Stalins Herrschaft wurde Paul Lafargue eine parteioffizielle Unperson. Das führte zu weitgehenden Publikationsbeschränkungen.

Anlässlich des 100. Todestags von Paul Lafargue sollen in den nächsten Tagen Zitate aus seinen berühmten Schriften "Ein verkaufter Appetit" (1884/1900), "Herr Geier" (1900) und "Das Recht auf Faulheit. Widerlegung des 'Rechts auf Arbeit' von 1848" (1880/83) veröffentlicht werden.

Wir ehren Paul Lafargue, wenn uns seine Schriften zum Bedenken und zur Diskussion sowie zur Veränderung bestehender Verhältnisse anregen. Viel Vergnügen dabei!

Nachweise

Iring Fetscher: Vorwort, in: Fritz Keller a. a. O :9

Fritz Keller (Hrsg.): Paul Lafargue: Geschlechterverhältnisse. Ausgewählte Schriften. Mit einer Einleitung von Frigga Haug, Argument Verlag, Hamburg/Berlin 1995: 261 ff.

Fritz Keller (Hrsg.): Paul Lafargue. Essays zur Geschichte, Kultur und Politik. Mit einem

Vorwort von Iring Fetscher, Karl Dietz Verlag Berlin 2002: 179 f.

V. I. Lenin: Speech Delivered in the Name of the R.S.D.L.P. at The Funeral of Paul and Laura Lafargue November 20 (December 3), 1911; http://marxists.org/archive/lenin/works/1911/nov/20.htm

Literatur von und über Paul Lafargue/Texte/Bibliographie

Stefanie Holuba: An der Grenze des Marxismus – Arbeiten Paul Lafargues, GNN-Verlag Sachsen/Berlin 2002.

Fritz Keller: Paul Lafargue, Teil 1; http://www.marxists.org/deutsch/archiv/lafargue/biog/lafargue.htm

Fritz Keller: Paul Lafargue, Teil 2; http://www.marxists.org/deutsch/archiv/lafargue/biog/lafargue2.htm

Fritz Keller: Paul Lafargue, Teil 3; http://www.marxists.org/deutsch/archiv/lafargue/biog/lafargue3.htm

Fritz Keller: Paul Lafargue, Teil 4; http://www.marxists.org/deutsch/archiv/lafargue/biog/lafargue4.htm

Fritz Keller (Hrsg.): Paul Lafargue: Geschlechterverhältnisse. Ausgewählte Schriften. Mit einer Einleitung von Frigga Haug, Argument Verlag, Hamburg/Berlin 1995.

Fritz Keller (Hrsg.): Paul Lafargue: Essays zur Geschichte, Kultur und Politik. Mit einem Vorwort von Iring Fetscher, Karl Dietz Verlag Berlin 2002.

Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit. Widerlegung des "Rechts auf Arbeit" von 1848. Mit einem Vorwort von Pablo Pereza, Trotzdem Verlag Grafenau, 2001.

Franz Schandl: Der unterschätzte Schwiegersohn. Nicht unfreundliche Anmerkungen zur Paul Lafargue und dessen Essayistik, in: Streifzüge 3/2002; http://www.streifzuege.org/2002/der-unterschaetzte-schwiegersohn

Texte von Paul Lafargue im Marxists Internet Archive

Bibliographie deutschsprachiger Publikationen (Auswahl) von Paul Lafargue

Briefe zum Spektakel

geschrieben am 10.11.2011

1931 geboren, wurde Guy Debord zur maßgeblichen Figur in der Situationistischen Internationale, einem Zusammenschluss von Künstlern und Gesellschaftskritikern, der von 1957 bis 1972 existierte und maßgeblich zum Aufruhr im Pariser Mai des Jahres 1968 beigetragen hat. Der wohl bekannteste Text der SI „Über das Elend im Studentenmilieu“ erschien in Massenauflagen und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Debords 1967 publiziertes Hauptwerk „Die Gesellschaft des Spektakels“ ist bis heute einer der wichtigsten Versuche, Gesellschaftskritik jenseits und gegen den ebenso stalinistisch wie sozialdemokratisch erstarrten Traditionsmarxismus zu betreiben.

Der Begriff des Spektakels hat durch die Kritik Guy Debords Eingang in die Sozialwissenschaften gefunden, wo er heute vorrangig zur Kritik des Medien-, Kultur- und Sportgeschehens gebraucht wird. Dadurch droht allerdings sein gesellschaftssprengendes Potenzial verloren zu gehen. Je größer die Begeisterung und das Interesse für die kunst- und kulturkritischen Schriften Debords wurde, desto weniger Beachtung fand die radikale Gesellschaftskritik, die seiner Kunst- und Kulturkritik zugrunde liegt. Debord betrachtet die Gesellschaft stets unter dem Aspekt ihrer revolutionären Veränderbarkeit. Bei ihm steht der Begriff des Spektakels für den Versuch einer Reformulierung von Gesellschaftskritik im Angesicht des Scheiterns der Emanzipationsbestrebungen des Proletariats, das sich im Siegeszug des „konzentrierten Spektakels“ von Stalinismus und Faschismus ebenso ausdrücke wie im „diffusen Spektakel“ des consumer capitalism samt sozialdemokratischer Integration des Proletariats, und das sich im „integrierten Spektakel“ nach der Auflösung der Systemkonfrontation ab Ende der 1980er Jahre in der scheinbaren Alternativlosigkeit von Ausbeutung und Herrschaft fortschreibe. In seinen 1988 erschienenen „Kommentaren zur Gesellschaft des Spektakels“ fasst Debord den Begriff als „die Selbstherrschaft der zu einem Status unverantwortlicher Souveränität gelangten Warenwirtschaft und die Gesamtheit der neuen Regierungstechniken, die mit dieser Herrschaft einhergehen.”

Die nun in der Edition Tiamat publizierten ausgewählten Briefe Debords aus den Jahren 1957 bis 1994 bieten einen Parforceritt durch die Geschichte der revolutionären Erhebungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ob Algerien in den 50er und 60er-Jahren, Portugal während der Nelkenrevolution oder Spanien im Übergang vom Franquismus zur Demokratie: Debord stand stets in engem Kontakt mit kleinen linken Zirkeln, um sich über den Stand der revolutionären Sache zu informieren und in die Umbrüche wenn möglich zu intervenieren. Man erfährt einiges über die Verwandlung Italiens in „ein europäisches Labor der Konterrevolution“ und über die Arbeiterstreiks im poststalinistischen Polen der 1980er Jahre, die Debord zu den „wichtigsten Ereignissen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ zählte. Man liest über den damaligen Studentenaktivisten und heutigen Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit, „der die Rolle als spektakuläres Starlet akzeptiert“ habe und über den „unfähigen Gorbatschow“. Debord äußert sich zur Anfang der 1980er-Jahre aufkommenden Debatte über „Integration“ und Migration ebenso wie zum Zusammenbruch der Ostblockstaaten, die er stets kritisiert hatte. Über die Marxisten spottete er: „Das Proletariat ist ihr heimlicher Gott.“ Anstatt seiner Anbetung forderte Debord die „Selbsterziehung des Proletariats.“ Er hielt es für unerlässlich, dass „die Mehrzahl der Arbeiter Theoretiker werden.“ Über das Ziel einer befreiten Gesellschaft notiert er: „Weder Paradies noch Ende der Geschichte. Man hätte andere Übel (und andere Freuden), das ist alles.“

„Kritik mit der Axt“

Anhand der Briefe lassen sich die Geschichte der SI und die Positionierung Debords in ihr rekonstruieren. Grundbegriffe der „Kritik des Spektakels“ werden in Auseinandersetzung mit linken Gruppen in Japan und anderen Ländern dargelegt. Dabei treten auch zwei Grundprobleme der situationistischen Kritik zu Tage, die zugleich die Differenzen der Überlegungen Debords zur Kritischen Theorie Theodor W. Adornos verdeutlichen, mit der sie oft verglichen wurde. Erstens findet an keiner Stelle die Erfahrung von Auschwitz Eingang in die revolutionstheoretischen Kategorien der Situationisten. Der größte Mangel von Debords Spektakelbegriff besteht in seiner weitgehenden Ignoranz gegenüber dem Nationalsozialismus und seinem Vernichtungsantisemitismus. Debord erörtert in seinen veröffentlichten Schriften zwar in knappen Worten den Beitrag des Faschismus zur Herausbildung des modernen Spektakels, kann ihn aber nur mit einem totalitarismustheoretischen Vokabular beschreiben. Was nicht bedeutet, dass Debord gar kein Bewusstsein von deutschen Besonderheiten gehabt hätte: Dieter Kunzelmann, später Mitbegründer der Kommune 1 in Berlin und das Paradebeispiel für einen linken Antisemiten (nach allem, was man bisher weiß, war er maßgeblich verantwortlich für den Bombenanschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in Berlin am 9. November 1969), wurde schon früh aus der SI ausgeschlossen – auf Grund des hellsichtigen Vorwurfs des „Nationalsituationismus“.

Zweitens formuliert Debord eine Absage an die Kunst, anstatt in ihr eine Statthalterin der Befreiung zu sehen. Auch wenn er Filme drehte, sah er sich doch stets als „Anti-Künstler“, und gerade dieser Aspekt führte zu zahlreichen Ausschlüssen aus der SI, in der anfänglich deklarierte „Künstler“ noch eine wichtige Rolle gespielt hatten. Nicht dialektische Aufhebung, die sich stets eine gewisse Skepsis gegenüber dem revolutionären Furor bewahren müsste, ist sein Programm, sondern Tabula rasa, wodurch der Furor stets noch befördert wird. In den Briefen wird das an der schroffen und mitunter nahezu brutalen Sprache deutlich, die nur noch selten etwas von jener verzweifelten Zärtlichkeit erahnen lässt, die man aus den Schriften Adornos kennt. Im Politischen schlug sich das in einer fast schon naiven Begeisterung für spontane Aufstände nieder, die stets in einem merkwürdigen Widerspruch zu Debords Forderung stand, die Arbeiter müssten Dialektiker werden.

Durch die Absage an die Kunst, die mitunter notwendige Distanz zu ermöglichen vermag, steht Debord vor dem Problem, dem Spektakel mit einem Konkretismus zu begegnen, der aber merkwürdig abstrakt bleibt. Was das Lebendige ausmacht, was das demnach tote Spektakel negieren soll, bleibt unklar. Debord postuliert ein vermeintlich richtiges Leben inmitten der falschen Gesellschaft als subversive Strategie. Er überschätzt die Verpflichtung der an Emanzipation interessierten Menschen, jetzt und hier anders zu leben und gelangt in seinem autobiographischen, ebenfalls bei Tiamat auf Deutsch erhältlichen „Panegyrikus” aus dem Jahr 1989 zu einer Selbsteinschätzung, die sämtliche sich notwendigerweise ergebenden Ambivalenzen und Paradoxien einer kritischen Existenz in der spektakulären Gesellschaft ausblendet, ja negiert: „Ich habe jedenfalls bestimmt so gelebt, wie ich gefordert habe, dass man leben müsse”.

Dennoch ist Debord weit entfernt von jener Lebensphilosophie, für die sein ehemaliger Mitstreiter Raoul Vaneigem mit seinem zeitweise ausgesprochen populären „Handbuch der Lebenskunst“ und ähnlichen Publikationen die vitalistischen Stichworte lieferte. In seinen Briefen aus den späten 1970er und den 80er Jahren begegnet Debord dem Autor von „An die Lebenden“ nur mehr mit beißendem Spott. Vaneigems „Buch der Lüste“ bescheinigte er: „Es ist zur Gänze und auf einzigartige Weise repetitiv und blöd, bemüht sich um Zynismus, scheitert aber.“

Besonders verdienstvoll an dem gewissenhaft edierten Briefband ist die erstmalige Übersetzung von Artikeln, die Debord für die Zeitschrift Encyclopédie des Nuissances geschrieben hatte, in der in den 80er Jahren in Frankreich versucht wurde, die situationistische Kritik aufzugreifen und mittels einer Enzyklopädie der Schädigungen zu aktualisieren. In seinen Briefen an die Redakteure der Encyclopédie, denen die Artikel für die Zeitschrift wie jener über das Stichwort „Abschaffung“ beigefügt sind, werden grundsätzliche Probleme der Kritik in der spätbürgerlichen Gesellschaft angerissen. Debord erläutert beispielsweise Einwände gegen einen inflationären Gebrauch von Ironie, wenn er der Redaktion mitteilt: „Ironie ist objektiv ein wenig überholt angesichts der einseitigen Plumpheit, mit der die Welt ihrem Ruin entgegengeht. Schließlich (…) wird und muss Eure Ironie angesichts der Schädigungen, von denen Ihr sprecht, unvermeidlich bitter sein und riskiert in diesem Sinne, den Feind nicht so zur Verzweiflung zu bringen, wie es vor hundert oder selbst vor zwanzig Jahren der Fall gewesen wäre. Der Feind hat keinerlei gemeinsames Terrain mehr mit Euch, nicht einmal auf der Ebene der formalen Logik.“ Dagegen empfiehlt Debord: „Kritik mit der Axt (…), drohende Denunziation, Beschimpfung, Prophezeiung ad hominem.“

In der Briefauswahl finden sich auch eher entbehrliche Dinge wie Rezepte für ein reichlich albernes Revolte-Menü, beginnend mit „wütender Suppe“, endend mit „flambierter Sorbonne“, das nun wohl in jeder zweiten Anarchisten-WG nachgekocht werden würde, hätte sich dort nicht schon längst die kulinarische Konterrevolution in Form des Veganismus eingenistet. Debord war in den 1980er-Jahren von der aufkommenden ökologischen Landwirtschaft ausgesprochen angetan, aber nicht auf Grund eines reaktionären Naturromantizismus, sondern aus Gründen der Gebrauchswertkritik: Für die Encyclopédie des Nuissances schrieb er über den „extremen Verfall der Nahrung“. Nicht um einen verzichtsneurotischen Vegetarismus oder gar Veganismus war es ihm zu schaffen, sondern er lobte die Ökobauern, weil bei ihnen Rind, Kalb und Schwein von „ausgezeichneter Qualität sind, wie der erste Bissen bestätigt.“ Die „allgemeine Rückbildung der Sinnlichkeit“, die sich gerade im Desinteresse am Geschmack von Essen und Trinken zeigt, sah er mit einer „außerordentlichen Rückbildung geistiger Klarheit“ einhergehen. Und er hat Recht: wer nicht genießen kann, kann in aller Regel auch nicht denken.

Unverständnis des Zionismus

Die Ignoranz gegenüber dem Antisemitismus, welche die Situationisten und Debord mit großen Teilen jener Linken teilten, die sie ansonsten scharf und völlig zu Recht attackierten, verunmöglichte ihnen von vornherein ein Verständnis des Zionismus als Notwehrmaßnahme gegen diesen Antisemitismus. Das situationistische Unverständnis des Zionismus schlägt sich in den Briefen in kruden Thesen über den Jom Kippur-Krieg des Jahres 1973 nieder. Während Israel sich auf Grund des Überraschungsangriffs der arabischen Nachbarn an einem der höchsten jüdischen Feiertage am Beginn des Krieges an den Rand einer Niederlage gedrängt sah, behauptet Debord allen Ernstes, dass sich die Israelis „am ersten Tag absichtlich haben angreifen lassen.“ Allerdings intendiert er – und auch das unterscheidet ihn von großen Teilen der Linken – keineswegs eine plumpe Denunziation des jüdischen Staates. Vielmehr geht es ihm darum, diesen Krieg als „Gipfel des Spektakels“ zu beschreiben. Es herrsche ein „offenes Einverständnis zwischen Moskau und Washington – und zweifellos auch allen arabischen Regierungen –, um endlich zu einem Frieden zu kommen, den die kriegslüsterne arabische Bevölkerung akzeptieren kann.“

Die Unfähigkeit zur adäquaten Einschätzung Israels wurde in späteren Jahren ergänzt durch eine Fixierung der Kritik auf die USA, die 1985 für Debord zum „Herzen des Spektakels“ mutiert sind. Er jammert: „Wir haben uns zu Amerikanern gemacht“ und charakterisiert den „global-spektakulären Verfall aller Kultur“ als „amerikanischen“. Gesellschaftskritik verkommt hier zunehmend zum Geraunze über fast food und Hollywood-Kino, das in den späten Texten Debords durch einen gewissen Hang zu verschwörungstheoretischen Spekulationen komplettiert wird. Letzterer wurde allein schon dadurch befördert, dass die Mitglieder der SI sowohl in Frankreich als auch in Italien immer wieder mit ganz realen „Verschwörungen“, beispielsweise mit jenseits jeder Rechtsstaatlichkeit agierenden Geheimdiensten, konfrontiert waren, worauf Debord in seinen Briefen immer wieder Bezug nimmt. Die bis heute ungeklärte Ermordung seines französischen Verlegers Gérard Lebovici im Jahr 1984 dürfte das Ihre dazu beigetragen haben, dass Debord sich in seinen letzten Jahren immer stärker mit konkreten Herrschafts- und Manipulationsinstrumenten auseinandergesetzt hat, anstatt, was gerade eine der Stärken seiner „Gesellschaft des Spektakels“ gewesen war, die subjektlose (und sich doch durch und in den Subjekten durchsetzende) Herrschaft in der modernen Gesellschaften zu kritisieren.

Seine letzten Jahre verbrachte Debord nicht mehr in Paris, das für ihn eine zerstörte Stadt geworden war. In der Abgeschiedenheit eines Dorfes in der Auvergne sah er die heraufdämmernde Vereinnahmung seiner Person und seiner Kritik durch „Journalisten-Polizisten“ und andere Agenturen jener „Rekuperation“, mit der die SI die Rückgewinnung verlorenen Territoriums durch die spektakulären Kräfte des schlechten Bestehenden bezeichnete, also die Wiedereingliederung der Subversion mittels der Simulation von Rebellion: „Eine beunruhigende Sache (unter vielen) ist, dass man anfängt, Gutes über mich zu schreiben!“

Über die Krankheit, die ihn 1994 dazu brachte, sich das Leben zu nehmen, schrieb er am Tag seines Todes: „Es ist das Gegenteil von der Art Krankheit, die man sich durch eine bedauerliche Unvorsichtigkeit zuziehen kann. Dazu bedarf es im Gegenteil des getreuen Eigensinns eines ganzen Lebens.“

Stephan Grigat war Promotionsstipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung, ist Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Universität Wien und Autor von „Fetisch & Freiheit. Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus“

don´t occupy wall street, occupy fifth avenue!

Beitrag von Thomas Lohmeier, geschrieben am 02.11.2011

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finanzkrise

Gegen die “Diktatur der Finanzmärkte” wettert die LINKE und fordert “Sparkassen statt Zockerbuden”, ihr heimlicher Chef fordert via Frankfurter Rundschau gleich “Deutsche Bank verstaatlichen”, “Hände weg vom Acker, Mann!" ruft Foodwatch, “Banken in die Schranken” fordert Campact und überhaupt steht sich die Occupy-Bewegung vor den Kathedralen des Geldes die Füße platt. “Heuschrecken” nannte der ehemalige SPD-Chef Müntefering einst Hegde-Fonds, für die die rot-grüne Unternehmenssteuerrefom erst das richtige Umfeld für ihre Geschäfte geschaffen hat. Und auch über den aussichtsreichsten SPD-Kanzlerkandidatenkandidat weiß die Süddeutsche zu berichten: “Steinbrück legt sich mit Spekulanten an”.

Aber wer nun glaubt, Banken-Bashing sei links, der irrt. “Es war keine Verschwörung, es war auch keine diabolische Intelligenz, kein macchiavellistisches Kalkül, was zu jenem Crash führte, dessen Folgen noch immer nicht bewältigt sind. Es waren Dummheit und Gier, Inkompetenz, Kurzsichtigkeit und Arroganz, es waren Banker, denen man noch nicht einmal Bösartigkeit unterstellen kann.”, schreibt Claus Seidl in der FAS vom 24.11.2010. Banken- und Banker-Bashing ist heute nicht links, sondern mainstream. Das wird für die Linke, deren Kampf gegen die Banken darüber hinaus auch noch identiätsstiftend ist, zu einem Problem, weil sie sich mit ihrer Analyse von der europäischen Finanzkrise kaum noch vom politischen Mainstream unterscheidet, der für ihren Erfolg so wichtig war. Nicht, dass ihre Vorwürfe gegen die Maßlosigkeit der Finanzwirtschaft, gegen die Gehälter und Boni der Manager der feinen Geldhäuser, unberechtigt wären: Aber dennoch singt sie nur die lauteste Stimme im Chor der bürgerlichen Bankenkritiker und bedient und verstärkt damit - unbewusst vermutlich - nur jene bürgerliche Erklärungsmodelle, die die Krise auf die Gier der Banker und Manager schieben wollen, um auf diese Weise die systemischen Ursachen aus dem Fokus zu nehmen. So wird sie schließlich Opfer ihres eigenen Populismus.

Die Folge davon: Die Linke profitiert nicht von der Krise der kapitalistischen Ökonomie, obwohl sie diejenige war, die als erste vor den gefährlichen Auswüchsen der Finanzwirtschaft gewarnt hat; sie war es, die es doch eigentlich schon immer gewusst und gesagt hatte. Jetzt leidet sie darunter, dass ihr dies nicht gedankt wird. Aber, und das muss ihr hier einmal gesagt werden: Sie hat es nicht schon immer gewusst, weil sie nämlich von Beginn an in dem Irrtum gefangen war, dass die Krise vornehmlich eine Krise der Finanzmärkte sei. Und genau hier liegt ihr Problem.

I. Im Casino wird weder Geld verdient noch welches vernichtet

Nun verweisen besonders schlaue Linke sogar darauf, dass die Fokussierung auf die Finanzmärkte eine verkürzte Kapitalismuskritik sei. Das stimmt zwar sogar - dennoch ist dieser Hinweis nebensächlich. Thema verfehlt, wäre die passende Antwort auf diese Linkshaber. Die Krise im Kapitalismus, dass sei nun einmal erklärt, entspringt nämlich so wenig wie der Reichtum aus der Sphäre der Geldzirkulation. In den “Casinos” wird kein Geld verdient. Es wird gewettet. Abstrahieren wir von den Gebühren der Spielbank, dann gilt: Der Gewinner gewinnt, der Verlierer verliert. Die Wertschöpfung ist immer gleich Null. Dabei ist es egal, ob man Roulette im Spielcasino spielt, auf Fußballspiele in zwielichtigen Wettbüros tippt oder Optionsscheine an den Börsen handelt. Am Ende bleibt das gesellschaftliche Vermögen immer gleich. Was der Eine verloren hat, gewann der Andere. Kann der Eine sich nun kein Auto mehr leisten, kauft es der Andere. Auf die Realwirtschaft hat das Glückspiel daher keine größeren Auswirkungen. Es gibt zwar pädagogische Gründe, Glücksspiel einzugrenzen oder gar zu verbieten - aber volkswirtschaftlich betrachtet ist es neutral.

Zur Krise kommt es aus anderen Gründen: Nehmen wir einmal zur Vereinfachung an, die Volkswirtschaft bestünde nur aus drei Branchen: Die Konsumgüter-Branche, die Investitionsgüter-Branche und die Luxusgüter-Branche. Damit unsere Wirtschaft krisenfrei läuft, müssten alle Beschäftigten von ihren Löhnen Konsumgüter kaufen, alle Unternehmen ihre Erlöse, sofern sie keine Lohnkosten oder Gewinnausschüttungen sind, in Produktionsmittel investieren und die Unternehmer und Kapitaleigner von ihren Gewinnen, Dividenden und Zinsen, Luxusgüter erwerben. So ungefähr funktionierte die Wirtschaft bis in die 1970er Jahre. Dann aber geschah etwas, was man heute salopp als “Umverteilung von unten nach oben” bezeichnet. Die Wirtschaftspolitik, die diese Umverteilung durchsetzte und ermöglichte, benannte man nach ihren wichtigsten politischen Protagonisten, Thatcherismus und Reaganomics, die dazu passende politische Ideologie war der “Neoliberalismus”, der spätestens ab 1990 hegemonial wurde.

Wie diese Politik sich übrigens auf die Vermögensverteilung auswirkte, beschrieb der Wissenschaftliche Beirat von attac kürzlich in einer Studie wie folgt: “Das DIW hatte unter Einbeziehung der Immobilienvermögen für 2008 ein mittleres Nettovermögen (also unter Abzug der Schulden) von 88.034 ¤ pro Person ab 17 Jahren festgestellt – ein Plus von 10% innerhalb von fünf Jahren. Durchschnittswerte verschleiern die tatsächlichen sozialen Zustände im Land. Der vom DIW ermittelte Vermögenszuwachs fand nämlich fast allein im 99. Perzentil statt, dessen individuelles Vermögen sich im Schnitt 2007 auf netto 817.181 ¤ belief. Schon beim Median, also beim 50. Perzentil, betrug der Zuwachs nur mehr 1,9%. Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung verfügten demnach über 61,1% des Gesamtvermögens – 2002 waren es erst 57,9% gewesen. 27% der Bevölkerung haben dagegen kein oder sogar negatives Verrmögen, vulgo: Schulden.” Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), so der attac-Beirat, mache eine noch drastischere Rechnung auf: Ergänzt man die Daten des DIWs um Schätzungen über die besonders schwer zu erfassenden Superreichen auf Basis der Veröffentlichungen des Manager-Magazins über deren Vermögen, verfüge das reichste 0,1 Prozent der bundesdeutschen Haushalte über mehr als ein Fünftel des gesamten Vermögen.

Aber was hat dies mit unser Frage nach den Ursachen der Krise zu tun, könnte man nun zu Recht einwenden. Man kann doch entgegnen, dass auch nach einer Umverteilung von “unten nach oben” unsere Wirtschaft weiter krisenfrei laufen könnte. Wenn einfach mehr Luxusgüter und weniger Konsumgüter gekauft würden, würde unser beispielhafter Wirtschaftskreislauf weiterhin krisenfrei sein. Die Beschäftigten hätten zwar etwas weniger und die Unternehmer (Manager, Immobilienbesitzer, Kapitaleinkommensbezieher etc.) etwas mehr zu konsumieren. Aber die Wirtschaft liefe weiter rund und rund und rund.

II. Der Reichtum verursacht die Krise ...

Die Wirtschaft liefe auch krisenfrei, gäbe es nicht das Phänomen, dass Menschen ab einem gewissen Einkommen beginnen zu sparen - was bis zu einem gewissen Grad sogar ganz und gar im volkswirtschaftlichen Sinne ist. Schließlich ermöglicht es größere Investitionen. Bezieht man den Anteil, den die Menschen sparen, auf ihr Einkommen, ermittelt man eine Sparquote. Die Sparquote unterscheidet sich übrigens stark je nach Einkommen. Betrachtet man die Sparquote nach Einkommensdezilen, stellt man fest, dass sich die ärmsten 10% sogar verschulden. Erst ab dem vierten Dezil wird überhaupt ein kleiner Prozentsatz des Einkommens gespart. Die Sparquote steigt sodann von Dezil zu Dezil, bis auf über 20% des Einkommens bei den obersten 10%. Nimmt man nur das oberste Prozent aller EinkommensbezieherInnen, beträgt die Sparquote sogar knapp 40% des Einkommens, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung herausgefunden hat. Vereinfacht gesagt, sagt diese Statistik: Während ein gewöhnlicher Beschäftigter sein Geld im Großen und Ganzen für Wohnung, Auto, Essen und Urlaub verballert und sein mühsam erspartes für das Studium seiner Kinder und zur Aufstockung seiner Rente ausgibt, wissen Menschen mit weit überdurchschnittlichem Einkommen irgendwann nicht mehr, wohin mit ihrem Geld, wenn ein Ferienhaus, eine Jacht und der dritte Wagen gekauft wurde.

Sparen ist gut, denkt sich der Schwabe und fragt sich: Was hat das alles eigentlich mit der Krise zu tun? Einerseits kommt unser Wirtschaftskreislauf nun zunehmend ins Stocken. Warum? Die Konsumgüter-Branche bekommt erste Probleme, weil unsere Beschäftigten weniger Lohn bekommen - schließlich müssen die höheren Gewinne und Gehälter unserer Unternehmer erwirtschaftet werden. Nun könnte sich ein Unternehmer aus der Konsum-Branche denken. “Ich mache jetzt in Luxusgüter, die laufen besser.” Das funktioniert sogar bis zu einem gewissen Grad. Aber aufgrund unserer steigenden Sparquote ersetzt das Wachstum in der Luxusgüter-Branche nicht die Rezession in der Konsumgüter-Branche. In der Konsumgüter-Branche gibt es also weniger Beschäftigte, die nicht ganz durch das Beschäftigungswachstum in der Luxusgüter-Branche ersetzt werden können. Insgesamt gibt es nun weniger Lohnempfänger, die weniger Konsumgüter kaufen können und die auch weniger dazu beitragen können, Gewinne für unsere Unternehmer zu erwirtschaften. Die Krise nimmt nun ihren weiteren Verlauf: Noch weniger Beschäftigte in der Konsumgüter-Branche, noch weniger Gewinne, die für Luxusgüter gewendet werden könnten führen zu weniger Beschäftigten in der Luxusgüter-Branche, die wiederum weniger Konsumgüter konsumieren.

Aber Andererseits: Es steigt das Geldvermögen unserer Unternehmer, das sie weder für Konsumgüter noch für Luxusgüter konsumieren, und deshalb zinsbringend anlegen wollen. Sie tragen ihr Geld als verantwortungsbewusste Unternehmer natürlich nicht in Spielcasinons, um ihre Rendite zu erwirtschaften. Sie bringen es zur Bank. Aber wie kann die Bank nun Geld zu mehr Geld machen? Sie kann nicht in die Konsumgüterbranche investieren, sie kann nicht in die Luxusgüter-Branche investieren, sie kann nicht in die Investitionsgüter-Branche investieren, denn sie alle stagnieren oder schwächeln, weil unsere Beschäftigten weniger Lohn erhalten und unsere Unternehmer sparen, statt all ihr Geld in die zweite Ferienwohnung oder das vierte Auto zu investieren.

Aber die Bänker finden einen Ausweg: Die Banken vergeben Konsumkredite, beleihen die Häuschen unserer Beschäftigten, damit diese mehr Konsumgüter kaufen können. Das führt zunächst sogar zu einer wirtschaftlichen Erholung, vielleicht sogar zu Wirtschaftswachstum. Aber wie lange? Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Schulden zurückbezahlt werden müssen. Nun geht die Konsumnachfrage noch weiter zurück, weil unsere Beschäftigten nun statt zu konsumieren, ihre Schulden bedienen müssen. Das Geld landet über den Umweg der Bank wieder bei unseren Unternehmern, die es zur Bank tragen und verzinst sehen möchten. Woran erinnert dieser Ausweg? Richtig! An die US-Immobilienblase, die 2008 zur Pleite der Lehman Brothers führte.

III. … und nicht der Bänker, Zocker oder Spekulant.

Bevor sie in Immobilien machte, investierte unsere Bank in Internet-Unternehmen, heute möglicherweise in Gold und Nahrungsmittel und hofft, dass dort aus Geld mehr Geld wird. So als hätten Dollarnoten und Euromünzen ein Sexualleben. Meist geschieht die wundersame Geldvermehrung übrigens im Herdentrieb. Deshalb können auch die ersten Unternehmer, die ihr Geld auf Vorschlag unserer Bank investieren, satte Gewinne erzielen. Aber wie in jedem Kettenbrief-Spiel, wird ihr Gewinn letztlich nur von den nächsten Kettenbriefspielern finanziert. Und weil Kettenbriefspiele immer dann enden, wenn es keine Spieler mit Geld mehr gibt, bricht es irgendwann wie ein Kartenhaus zusammen. Puff - wie bei einem geplatzten Luftballon, wird der Wert der Immobilien oder der Internetfirmen wieder auf ihr Normalmaß reduziert. Wir erleben dann Dotcom- oder Immoblienblasen und vielleicht demnächst eine Goldblase.

Aber sind nun die Banken an dieser Entwicklung schuld, weil sie unsere Unternehmer schlecht beraten haben oder sich vielleicht sogar selbst an dem Spiel beteiligten und dabei statte Gewinne und Boni einfuhren? Oder ist den den Banken nur die unmögliche Aufgabe zugewiesen worden, Geld in einem Spielcasino namens Börse mittels Optionsscheine, Derivate und Kreditausfallversicherungen zu optimieren, die in der Welt der Banken und Börsen nichts weiter sind, als beim Roulette Farbe, Zahl und Dutzend? Ist die Spielbank schuld, wenn die Spieler ihr Geld verzocken? Letztlich wird durch die ganzen Börsentools nur das eigentliche Problem verschleiert, vielleicht sogar auf die Spitze getrieben. Aber sie sind nicht der eigentliche Grund der Krise. Sie treiben sie höchstens auf eine immer höheres Niveau, so dass die Fallhöhe immer größer wird.

Wie wir gerade in Griechenland sehen, funktioniert das alles auch auf Ebene von Staaten. Nehmen wir an, es gäbe nur zwei Staaten auf der Welt. Dann müsste das Land mit hohen Exportüberschüssen dem anderen Kredite gewähren, damit es seine Importe bezahlen kann. Das kann natürlich nicht ewig gut gehen. Irgendwann wird das Land mit den Importüberschüssen erklären, die Schulden nicht mehr zahlen zu können. Was passiert dann? Es folgt ein Schuldenschnitt. Nennen wir die Länder beim Namen: Deutschland und Griechenland. Solange Deutschland glaubt, Exportweltmeister sein zu müssen, wird es ökonomische Krisen in der EU, wie die gegenwärtige, weiter heraufbeschwören. Nicht ausgeglichene Handelsbilanzen führen genauso notwendig zu Wirtschaftskrisen, wie eine extrem ungleiche Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums innerhalb einer Volkswirtschaft.
Wir sehen also: Die Krise des Euro ist eine Krise der ungleichen und ungerechten Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland und in Europa sowie einer aggressiven Exportorientierung der deutschen Wirtschaft. Sie ist nicht primär verursacht durch die Banken, Zocker und Spekulanten. Sie haben sicherlich in besonderer Weise von ihr profitiert. Aber für die Ursachen können sie nur soviel, wie sie die neoliberale Wirtschaftspolitik der letzten 25 Jahren mit unterstützt und gefördert haben. Aber damit waren sie beileibe nicht alleine.

IV. Für eine Robin-Hood-Linke, die den Reichtum verteilt.

Was folgt daraus für linke Politik? Erstens: Die Fokussierung auf die Bänker und Spekulanten führt in die Irre. So asozial sich diese Leute in den vergangen Jahren verhalten haben, so wenig ist ihr Verhalten der eigentliche Grund der Krise. Wenn aber die völlig aus den Fugen geratene Vermögensverteilung, die eigentliche Krisenursache ist, dann muss diese in den Fokus einer linken Antikrisenpolitik gestellt werden, nicht das Gebaren der Finanzwirtschaft. Die Erklärung der Krise darf also nicht mit den Finanzmärkten beginnen, sie darf dort höchstens aufhören. Zweitens: Die Lohnstückkosten müssen in Deutschland wieder steigen, damit andere Länder bessere Chancen haben, ihre Waren in Deutschland zu verkaufen bzw. ihre Waren nicht von in Deutschland hergestellten auf ihrem Markt verdrängt werden. Dies sorgt für ausgeglichenere Handelsbilanzen in Europa und in der Welt. Gleichzeitig lassen höhere Löhne die Nachfrage nach Konsumgüter auf dem Binnenmarkt steigen.

Konkret folgt aus beiden Punkten, dass die Vermögensberge und Handelsüberschüsse abgetragen werden müssen, damit kein Geld mehr zum Spielen und Zocken zur Verfügung steht. Deshalb geht es jetzt um eine radikale Politik der Vermögen- und Einkommensumverteilung von oben nach unten. Dafür braucht es Gewerkschaften, die den Mut haben, wieder für erhebliche Reallohnsteigerungen zu streiken. Und es braucht Gewerkschaften, die den Druck von den Niedriglöhnern nehmen und die sich, statt das Grundeinkommen abzulehnen, wie es neulich ver.di auf ihrem Bundeskongress tat, zumindest für eine armutsfeste und sanktionsfreie Grundsicherung einsetzen. Das wäre auch ein wichtiges Zeichen der Solidarität zwischen der Stammbelegschaft einerseits und prekär Beschäftigten sowie den in “privater” Sorgearbeit Tätigen andererseits. Schließlich braucht es eine partei- und bewegunsförmige Linke, die statt den Mindestlohn, der demnächst CDU-Programm wird, endlich den Höchstlohn (oder einen Einkommenskorridor) fordert und die in Europa für eine gemeinsame Vermögensteuer sowie einen Länderfinanzausgleich streitet - mithin also für einem Einstieg in eine europäische Finanz- und Sozialunion. Welche Spielregeln dann noch im Casino gelten, ob Leerverkäufe legal oder illegal sind, ist nämlich dann scheißegal, wenn kein Geld mehr zum Zocken zur Verfügung steht, weil es zuvor verteilt wurde. Wir brauchen also eine Linke, die an die Wurzeln der Krise geht. Don´t Occupy Wall Street, occupy Fifth Avenue!

es gibt kein außen mehr

Beitrag von Katja Kipping und Kolja Möller, geschrieben am 20.10.2011

Ende der 1960er Jahre forderte der belgische Marxist und Gründer der IV. Internationalen,

Ernest Mandel, dass die europäische Linke der „internationalen Kapitalverflechtung (...) die Alternative eines sozialistisch vereinten Europas“ gegenüberstellen müsse. „Rückfall in Kleinstaaterei“ jedenfalls sei — so Mandel — keine sinnvolle Antwort auf die Internationalisierung der Produktionsverhältnisse.*¹ Doch sein Plädoyer bleibt ungehört. Bis heute begegnen Linkstraditionalisten unterschiedlicher Couleur den zugegebenermaßen
ungünstigen Kräfteverhältnissen in der EU mit dem romantisierenden Blick auf die nationalstaatlichen Verfassungskompromisse der Nachkriegszeit. Problemlagen der deutschen Hochromantik — „Entwurzelungsgefahren“ und „Heimatliebe“ — stellen dann die Klaviatur bereit, auf der die Euro-Skeptiker ihre ideologische Begleitmusik zusammenstellen. Mandel hätte all dies zu Recht als gnadenlos unmarxistisch kritisiert. Für ihn war vielmehr folgende Frage von Interesse: Wie sieht eine progressive Antwort auf die Internationalisierung der Produktionsverhältnisse aus? Sein Fazit: Die Linke muss sich selbstbewusst auf das transnationale Terrain begeben und transnationale Streiks und Aktionen auf den Weg bringen.

Mandel steht nicht allein. Auch der französische Sozialdemokrat Jean-Jacques Servan-Schreiber und der Vordenker der alternativen Linken, André Gorz, plädieren schon Ende der 1960er Jahre dafür, die strategische Orientierung der Linken an den kapitalistischen Realitäten auszurichten. Der moderate Servan-Schreiber sieht Spielräume für eine europaweite Programmierung der Wirtschaft und eine vertiefte politische Integration, um die Abhängigkeit der europäischen Märkte vom US-Kapitalismus zu mildern.*² Gorz hingegen stellt die „Strategie der europäischen Arbeiterbewegung“ in den Mittelpunkt seiner Überlegungen: Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft produziert neue Widersprüche, der sich eine „europäisierte“ Gewerkschaftsbewegung annehmen müsse.*³

Heute wäre man froh, wenn die europapolitische Diskussion der Linken den analytischen Tiefgang und den visionären Überschuss von Sozialdemokraten wie Servan-Schreiber, von alternativen Linken wie Gorz sowie von Marxisten wie Mandel hätte. Nicht zuletzt die Auseinandersetzungen um das Europawahlprogramm der Linkspartei im Jahr 2008 zeigen, dass man sich immer noch sehr schwer damit tut, die Methode „nationaler Tellerrand“ zu überwinden. Die Motivationen dafür reichen von der inneren Überzeugung, dass die LINKE das Thema „Nation“ für sich besetzen müsse, bis zum wahltaktischen Opportunismus gegenüber einer vermuteten Anti-EU-Stimmung in der deutschen Bevölkerung. Die neoliberale Ausrichtung der EU-Integration sowie die Politik der Kommission sind nüchtern zu analysieren. Eine hinreichende Antwort auf die Frage, wie linke Politik auf den globalisierten Kapitalismus reagieren soll, ist allerdings nicht durch larmoyantes Klagen über die Neoliberalen dieser Welt aufzuspüren. Vielmehr braucht es „klare Kante“: Welche strategischen Schlussfolgerungen sind aus der Internationalisierung der Produktionsverhältnisse zu ziehen? Hier wachsen zarte Pflänzchen. Kürzlich haben zwei Gewerkschafter aus Baden-Württemberg, Bernd Riexinger und Werner Sauerborn, in einem Diskussionspapier darauf aufmerksam gemacht, dass sich eine nationalstaaatsfixierte Wirtschaftspolitik in eine strategische Sackgasse manövriert. Der „Nationalkeynesianismus“ ignoriere, „dass sich inzwischen supranationale Strukturen und Regulationen entwickelt haben, die neue Machtzentren bilden“.*⁴

Gerade der Widerstand gegen die aktuelle Rezession könne nur „grenzüberschreitend“ organisiert werden. In eine ähnliche Richtung weisen die Diskussionen innerhalb der außerparlamentarischen Linken um das Thema „Globale Soziale Rechte“. NGOs, Graswurzelbewegungen und Gewerkschaften versuchen sich daran, gemeinsame Ansatzpunkte dafür zu finden, wie demokratische und soziale Rechte im transnationalen Maßstab verankert werden können.*⁵ Die Nationalkeynesianer halten dagegen: Alles Spinnifax, die Musik der EU-Politik wird nicht in Brüssel, sondern in den Nationalstaaten gemacht und der Alltagsverstand der Bevölkerung ist mit so viel Europa auf einmal überfordert. Sie übersehen, dass es nicht nur um die jeweilige politische Ebene geht, sondern auch darum, wie politische Forderungen in einen Zusammenhang gebracht werden. Es wäre nämlich auch möglich, politische Forderungen, die sich auf einen Politikwechsel im Nationalstaat richten, als Einstieg in einen europaweiten Politikwechsel zu thematisieren: Geht es in der Steuerpolitik einzig um die Einführung einer nationalen Vermögenssteuer oder darum, mit einer Vermögenssteuer in eine andere, europaweite Steuerpolitik einzusteigen? Ist das Zukunftsinvestitionsprogramm der LINKEN Teil einer europaweiten Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge oder dient es einzig der Produktion deutscher Spritschleudern?

Im Übrigen sollte man den Alltagsverstand nicht leichtfertig unterschätzen. Für viele ist Europa bereits heute eine unmittelbare Kooperationserfahrung — sei es am Arbeitsplatz, im Urlaub, über den schulischen Austausch, in Internet-Portalen oder bei Europäischen Sozialforen. Eine offensive, euro-optimistische Strategie der Linken ist nicht nur eine adäquate Antwort auf die kapitalistischen Realitäten, sie findet auch Anknüpfungspunkte
im Alltagsverstand — womöglich gerade bei denjenigen, die eine europäische Linke erreichen muss, wenn sie die Kräfteverhältnisse nachhaltig verändern will.

Zitate:
*¹ Ernest Mandel, Die EWG und Konkurrenz Europa-Amerika, Frankfurt Köln 1968, 99.
*² Jean-Jacques Servan-Schreiber, amerikanische Herausforderung, Hamburg
*³ André Gorz, Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus, Main 1967.
*⁴ Der Beitrag ist in der Rubrik unter www.prager-fruehling-magazin. veröffentlicht.
*⁵ siehe dazu z.B. das Internet-globale-soziale-rechte.de.

Should I say ...

geschrieben am 20.10.2011

Stimmen Schweigende zu oder lässt, wer unter Toren schweigt, Vernunft vermuten? Peter Ullrich meint, dass Schweigen in der schwelenden Debatten um Antisemtismus in der LINKEN manchmal schlicht Unsicherheit bedeutet und hat vernünftiger Weise nicht geschwiegen, sondern geschrieben. Zu seinem Aufsatz im aktuellen Heft, gibt es nun auch eine ausführliche Langfassung, mit Fußnoten und Anmerkungen, die als Lektüreanregung für noch Unsichere dienen kann.

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