Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog

Nachdenken übers Höchsteinkommen

Beitrag von Christiane Graf und Jörg Schindler, geschrieben am 03.02.2013

Schlagworte:

höchsteinkommen, linke

Knapp eine Woche, nachdem WELT ONLINE als Erste über den vorläufigen Entwurf des Wahlprogramms der Linkspartei berichtete und nichts anderes zu skandalisieren wusste als die Forderung nach einem Tempolimit von 120 km/h auf deutschen Autobahnen, gelang einem Lokalredakteur der Mitteldeutschen Zeitung der ganz große Coup.

Der beschränke bürgerliche Horizont ...

Auf Seite 24 stieß er im zunächst nur für den Parteivorstand bestimmten Rohentwurf des Wahlprogramms der Parteivorsitzenden auf folgende Passage, die ihm noch kommunistischer schien als der versteckte Hinweis auf das historisch belastete Verhältnis der LINKEN zur Reisefreiheit, den das intellektuelle Flaggschiff des Springerkonzerns ausgemacht hatte:

“Unserer Forderung nach Mindestlöhnen stellen wir die nach einer Obergrenze von Einkommen zur Seite: Es ist nicht gerecht, wenn der (meist männliche) Vorstand eines DAX-30 Unternehmens im Durchschnitt das 54-fache dessen erhält, was seine Angestellten verdienen. Wir schlagen vor, dass niemand mehr als 40-mal so viel verdienen sollte, wie das gesellschaftliche Minimum – bei der derzeitigen Verteilung wären das immer noch 40.000 Euro im Monat.”

Nun wollen wir uns an dieser Stelle nicht über einen Provinzjournalisten lustig machen, der in seiner politischen Begrenztheit die realpolitische Umsetzung dieses Passus nur als 100%-Steuer denken konnte. Aber merkwürdig ist es schon, wurde doch nur eine Seite zuvor das Steuerkonzept sehr konkret dargestellt:

“Geringe und mittlere Einkommen sollen entlastet werden, indem der Grundfreibetrag auf 9 300 Euro erhöht wird. Monatliche Bruttoeinkommen bis 6 000 Euro werden entlastet, indem die ‘kalte Progression’ im Tarifverlauf der Einkommenssteuer geglättet wird. Der Spitzensteuersatz soll ab einem Einkommen von 65 000 Euro pro Jahr wieder auf 53 Prozent erhöht werden. Jeder Euro Einkommen über einer Million jährlich wollen wir mit einer Reichensteuer von 75 Prozent besteuert.”

Vielleicht hätte dem Journalisten dieser Widerspruch gar nicht auffallen können, weil ihm nur die erste zitierte Passage zugespielt wurde. Kannte er aber den Absatz zum Steuerkonzept, hätte er sich fragen müssen, ob eventuell auch andere Möglichkeiten bestehen, hohe Einkommen zu unterbinden, als durch eine Änderung des Einkommensteuergesetzes, denn es gibt durchaus verschiedene Varianten. Für die politisch Unkreativen hier ein paar Ideen:

1.) Das bürgerliche Gesetzbuch regelt die Sittenwidrigkeit von Verträgen. Wäre es nicht möglich, gesetzlich zu verbieten, dass UnternehmenseigentümerInnen, Beschäftigte und KundInnen von ManagerInnen durch zu hohe Gehälter, Boni und Sondervergütungen übers Ohr gehauen werden? Hin und wieder wird in der aktuellen Diskussion diesbezüglich zu bedenken gegeben, dass derartige gesetzliche Regelungen nicht verfassungskonform seien. JuristInnen werden sich gegebenenfalls sicherlich damit beschäftigen. Aber wenn sich sogar Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) über eine Verselbstständigung der Gehaltsfindung von ManagerInnen beschwert, die den Verdacht der Selbstbedienung nahelege und selbst er gesetzliche Regelungen als letzte Konsequenz nicht ausschließt, sollte man doch zunächst von der grundsätzlichen Möglichkeit einer verfassungskonformen Einkommensbegrenzung ausgehen dürfen - abgesehen davon, dass dies bei der Bankenrettung etwa der Commerzbank durch Gesetz sogar praktisch umgesetzt wurde, und zwar - Überraschung! - auf 500.000 Euro jährlich.

2.) In der Regel stimmen die GewerkschaftsvertreterInnen in Aufsichtsräten den absurd hohen Gehältern von ManagerInnen zu. DGB-Chef Michael Sommer, der selbst im Aufsichtsrat der Telekom sitzt, gab im März 2012 folgende Rechtfertigung zu Protokoll: “Jeder Fernmelde-Techniker im Konzern weiß, was Obermann verdient, der gönnt es ihm auch.” Im Jahr 2011 waren es übrigens 3,27 Mill. Euro, die er dem Telekom-Chef gönnte. Und IG-Metall-Chef Berthold Huber, Mitglied im VW-Aufsichtsrat, findet die 17 Millionen für VW-Chef Martin Winterkorn innerhalb des bestehenden Vergütungssystems bei VW auch irgendwie in Ordnung. Eine weitere Interpretationsmöglichkeit wäre also, dass sich die Forderung im Entwurf des Wahlprogramms an die Aufsichtsräte der ArbeitnehmerInnenseite richtet, ManagerInnengehältern über 500.000 Euro nicht zuzustimmen.

3.) Eine Gehaltsgrenze für ManagerInnen von Staatsunternehmen, wie sie François Hollande, der sozialdemokratische Staatspräsident Frankreichs, für französische Staatsunternehmen vorgeschlagen hat, könnte auch für Unternehmen eingeführt werden, an denen der deutsche Staat beteiligt ist. Auch diese Interpretation wäre zulässig.

4.) Auch wenn Linke in der Regel Moral zu Recht für kein gutes Instrument zur Gestaltung marktförmiger Prozesse halten, wäre der Passus durchaus auch als moralischer Appell interpretierbar. Dafür spricht, dass er nicht mit konkreten politischen Forderungen untersetzt war. Und DIE LINKE wäre mit diesem moralischen Appell sogar in ausgesprochen guter Gesellschaft: “Wir müssten in unserer Zeit des Überflusses und des Bewusstseins für die Grenzen des Wachstums auch Überlegungen anstellen, wie Obergrenzen von Einkommen aussehen sollen. Sonst droht die Gefahr, dass die Gesellschaft durch soziale Spannungen auseinandergerissen wird. Zudem trägt die Konzentration von Marktmacht auf einige wenige Multis zur Ungleichverteilung von Einkommen bei.” Wer sagt dies? CDU-General Hermann Gröhe würde vermutlich auf Kim Jong Un tippen. Aber es war Bischof Stephan Ackermann aus Trier, der diese Worte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung am 31.12.2012 wählte.

... ist manchmal genauso weit wie der linkskeynesianische.

Kaum machte die Meldung über die 100%-Steuer der Mitteldeutschen Zeitung die Runde, hieb auch ein gewisser Jens Berger in die Tasten, seines Zeichens Autor der in linken Kreisen zu Recht geschätzten Nachdenkseiten. Der Nachdenker jedoch bestärkte die Vorsitzenden der LINKEN keineswegs darin, eine gesellschaftlich notwendige Debatte über Einkommensgerechtigkeit angestoßen zu haben, wie man hätte annehmen können. Schließlich war die durchschnittliche Einkommensspreizung in den Unternehmen in den 1970er Jahren 1:10, während die ManagerInnen sich heute auch schon mal das 100-fache eines Durchschnittslohns genehmigen.

Offensichtlich nicht ganz so gut aus Parteikreisen versorgt wie sein mitteldeutscher Kollege, fiel ihm nichts Besseres ein, als in das gleiche beschränkte Horn zu stoßen, und titelte ungeprüft: “100% Spitzensteuersatz? Was für eine Schnapsidee!” Dann rechnet der Autor vor, wie wichtig das Einkommen des Spitzenfußballers Zlatan Ibrahimović vom französischen Spitzenreiter FC Paris Saint-Germain für den französischen Sozialstaat sei: 56 Millionen Euro brutto - finanziert durch einen Ölscheich. Schließlich könnten allein dank des Einkommens des von Jens Berger zum Ballartisten hochgejubelten Stürmers im fortgeschrittenen Fußballalter für 42 Millionen Euro soziale Wohltaten finanziert werden. Wäre der Vorschlag hingegen Wirklichkeit, den er - wegen der Verletzung der ersten Journalistenpflicht (Recherche!, Recherche!, Recherche!) - fälschlicherweise der LINKEN zuschrieb, so bestünde kein Anreiz mehr für Vertragsabschlüsse über ein Einkommen, das eine halbe Millionen Euro übersteigt. Da der Nachdenker offenbar Fußball mag, präsentiert er folgendes Beispiel für Deutschland: Bayern-Star Sebastian Schweinsteiger würde sich im Fall der 100%- Einkommenssteuer wohl kaum ein Einkommen vom deutschen Rekordmeister zusichern lassen, das so hoch ist, dass er davon 4,7 Millionen Euro Steuern zu zahlen habe. Vielmehr würde das Brutto-Einkommen von Schweinsteiger nur noch 500.000 Euro betragen, weil sowohl der Spieler als auch sein Arbeitgeber keinen Anreiz mehr hätten, ein höheres Einkommen zu vereinbaren, weil der Staat jeden Euro darüber hinaus sowieso wegbesteuern würde. Vulgo - so der linkskeynesianische Kurzschluss - sei die LINKE dafür verantwortlich, wenn die Steuereinnahmen um 4,45 Million auf ca. 250.000 Euro zurückgingen. Es ist tatsächlich eine Schnapsidee, der LINKEN ein Interesse an einer Politik sinkender Steuereinnahmen zu unterstellen, welche auch Kürzungen im sozialen Bereich zur Folge hätte. Auch wenn er es sich dann doch nicht explizit zu schreiben traut, suggeriert Jens Berger hier auf perfide Weise, dass die LINKE letztlich für Sozialkürzungen verantwortlich zu zeichnen wäre. Seine Empfehlung wäre offenbar, höhere Millioneneinkommen für ManagerInnen und Fußballer zur Rettung des Sozialstaats ins Wahlprogramm aufzunehmen.

Aber mal angenommen, es gäbe die geforderte Einkommensbegrenzung, weil die LINKE entgegen Jens Bergers Erwartung bei den nächsten oder übernächsten Wahlen so stark geworden ist, dass sie eine Begrenzung der Einkommen durchsetzen konnte. Was würde geschehen? Da sehr gut verdienende Fußballspieler aufgrund ihrer relativ geringen Zahl volkswirtschaftlich kaum relevant sein dürften, möchten wir an dieser Stelle das Beispiel des Vorstands eines DAX-Konzerns nennen: Vorstände in DAX-Konzernen verdienen durchschnittlich ca. 3,2 Millionen Euro. Was passiert, wenn - sagen wir fünf - Vorstandsmitglieder eines DAX-Konzerns “nur” noch 500.000 Euro statt 3,2 Millionen Euro erhalten? Dann hätte der Konzern auf einen Schlag 13,5 Millionen Euro eingespart (wohlgemerkt, bei einer Gehaltskürzung, die nur fünf Beschäftigte betrifft). In unserem Beispiel sind mehrere Varianten möglich:

1.) Das Geld wird investiert, was zur Belebung der Wirtschaft führt, was wiederum die Erwerbslosen, die auf eine Belebung des Arbeitsmarktes hoffen, erfreuen dürfte. Die Sozialausgaben sinken, die Steuern steigen - das wäre gut für den Staatshaushalt. Möglicherweise wird das Geld sogar für die Entwicklung ökologisch nachhaltiger Produkte verwendet. Das muss zwar nicht sein, wäre aber für alle schön.

2.) Das Geld wird an die Beschäftigten verteilt. Nun führt die Verteilung von 13,5 Millionen Euro bei 100.000 oder mehr Beschäftigten zu keinem großen Gehaltssprung, aber immerhin würde in diesem Fall jeder zusätzliche Cent, der an normal oder gering verdienende Beschäftigte geht, nachfragerelevant.

3.) Das Geld wird an die KundInnen verteilt: Wenn Autos, Telefongebühren oder Turnschuhe billiger werden, entsteht auch hier ein nachfragerelevanter Effekt.

4.) Das Geld wird an die AktionärInnen als Dividende verteilt: In dieser Fall wird sicherlich auch das Einkommen des einen oder anderen superreichen Kapitalbesitzers vermehrt. Aber dort, wo andere Unternehmen Anteile halten, wird deren Gewinn gesteigert, der nicht über absurde Vorstandsgehälter privatisiert werden kann. Da auch Lebensversicherungen und Pensionskassen an Unternehmen beteiligt sind, würden letztlich Renten und Pensionen aufgebessert - was sich wiederum als nachfragerelevantes Einkommen darstellen würde.

Im Fall einer Umsetzung der von der LINKEN geforderten Einkommensbegrenzung würden also die eingesparten Millionen mit hoher Wahrscheinlichkeit investiert, für höhere Löhne verwendet, zur Preissenkung genutzt und an die Aktionäre verteilt. Jeder Keynesianer und jede Keynesianerin - außer Jens Berger von den Nachdenkseiten - wäre hoch erfreut, sähe er ja seine Annahme bestätigt, dass eine höhere Nachfrage zu einer blühenden und krisenfreieren Volkswirtschaft führt. Warum Jens Berger nun aber die sekundäre Verteilung über Steuern der primären Verteilung der Einkommen direkt im Produktionsprozess vorzieht, bleibt sein Geheimnis. Als Fan des Grundeinkommens, die konsequenteste Form der sekundären Einkommensverteilung, ist er bisher zumindest noch nicht aufgefallen.

Im Übrigen: Nur die Einfältigen unter den Wirtschaftsweisen meinen, dass das Geld, das der benannte Ölscheich nun nicht mehr in Fußballer-Gehälter oberhalb der Halbmillionen-Jahresgrenze investiert, plötzlich weg - sprich: steuerlich nicht verfügbar - sei. Tatsache ist vielmehr: Das Geld hat jetzt halt ein anderer. Wohlgemerkt, es handelt sich hier um Geld, das, worauf der LINKEN-Vorsitzende Bernd Riexinger bereits richtigerweise hinwies, für dringend notwendige gesellschaftliche Investitionen gebraucht wird. Oder sollen etwa die Energiewende, die notwendige Bildungsoffensive zur Dynamisierung der dritten industriellen Revolution, aber auch die notwendigen Infrastrukturmaßnahmen in Städten und Gemeinden durch ein bisschen Steuerschrauberei zwischen 45% und 49% reingeholt werden? Mit anderen Worten: Wer derartige Extremgehälter weiterhin zulassen will, lässt auch zu, dass hohe Summen gesellschaftlich nutzlos geparkt werden beziehungsweise mittels Spekulation auf den Finanzmärkten Staaten ruinieren oder Nahrungsmittelpreise explodieren lassen und damit vernünftige wirtschaftliche Entscheidungen blockieren - so drastisch muss man das angesichts der drängenden Probleme nennen.

Wir sehen also, ein Höchsteinkommen ist eine tolle Sache, wenn man seinen Kopf zum Denken benutzt, statt ihn auf linkskeynesianischen Dogmatismus zu reduzieren. Schade eigentlich, dass die ebenso prägnante Forderung im Entwurf des Wahlprogramms der LINKEN, die Forderung nach einem unternehmensbezogenen Höchstlohn - wie ihn die LINKE übrigens auch in ihrem Erfurter Parteiprogramm fordert - dadurch etwas untergegangen ist. In Partei- wie Wahlprogramm heißt es nämlich:

“Die Einkommen von Managern sollen fest an die Einkommen einfacher Beschäftigter gebunden werden. Deshalb fordert DIE LINKE, dass ein Managereinkommen das Zwanzigfache eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in der untersten Gehaltsgruppe nicht überschreiten darf.”

Ob sich Jens Berger von den Nachdenkseiten traut, diese von Oskar Lafontaine durchgesetzte Formulierung auch so durch den Kakao zu ziehen, wie die imaginäre 100%-Steuer-Forderung? Zlatan jedenfalls könnte nach dieser Regel nur dann 56 Millionen Euro verdienen, wenn der Platzwart des Stadions 2,8 Millionen erhält. Diese Schnapsidee gilt es doch bestimmt auch zu bekämpfen, oder, Jens Berger? Also, hau in die Tasten!

So isses.

Beitrag von Thomas Lohmeier und Jörg Schindler, geschrieben am 28.01.2013

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linke

Das Ergebnis der LINKEN mit 3,1 % in Niedersachsen ist wahrlich kein Grund zur Freude und auch nicht schönzureden. Aber es ist auch nicht überraschend. DIE LINKE ist eine Partei links von der Sozialdemokratie. Sie hat von der Rechtsentwicklung bei Rot-Grün in der Zeit um die Agenda 2010 profitiert und war das Medium, in dem sich Protest gegen die neoliberale Politik artikulierte. Sie hatte prominente ÜberläuferInnen aus SPD und Gewerkschaften gewonnen und konnte glaubhaft suggerieren: Wer links wählt, wählt eigentlich die SPD. Christoph Spehr hat das schön zusammengefasst, indem er die Parteistrategie so beschrieben hat, das sie eine “imaginäre SPD” errichtet.

Jetzt ist die Situation anders. Die Eurokrise hat das Feld massiv verändert, leichte Kurskorrekturen bei SPD und Grünen haben dazu geführt, dass bei unterschiedlichen Landtagswahlen wieder “Lagerkonstellationen” entstanden sind, in denen DIE LINKE und ihre Funktion als linkes Korrektiv schwer zur Geltung kommen konnten. DIE LINKE ist auf dem Boden der Tatsachen angekommen: Sie kann das Spiel mit der imaginären SPD nicht mehr so wirkungsvoll betreiben, wie es in der Agenda-Zeit der Fall war. Proteststimmungen gegen die Krisenpolitik bleiben bisher weitgehend aus, von der DIE LINKE politisch profitieren könnte. Und insbesondere im Westen zeigt sich, dass der Parteiaufbau “von oben” - sowohl strukturell wie auch von den (fast ausschließlich bundespolitisch geprägten) Inhalten -, wie er vielerorts durchgeführt wurde, zwar kurzfristig effizient war, langfristig aber kaum Substanz und Ausstrahlungskraft entfaltet. Wiederum sollte man sich nicht wundern: Dass sich das irgendwann rächt, war abzusehen.

Die positive Nachricht der Landtagswahl in Niedersachsen besteht darin, dass DIE LINKE mit ihren 3,1% ein Stammwählerpotential aufweist, das weit über das der ehemaligen PDS und andere Formationen links der SPD hinausreicht (siehe Analyse Horst Kahrs ersten Analyse für die Rosa-Luxemburg-Stiftung ). Und wenn man in Rechnung stellt, dass die Mobilisierung zur Bundestagswahl besser läuft und DIE LINKE noch eine Schippe drauflegt, wäre das eine gute Grundlage, um den aktuellen Stand der bundesweiten Umfragen (7-8%) auch real zu erreichen und eventuell noch auszuweiten.

Nur zur Erinnerung: Im Umfeld des Göttinger Parteitags krebste die LINKE bei 5% in den Umfragen. Darauf hin wurde eine Parteiführung gewählt, die sich selbst die Aufgabe gestellt hat, wieder einen Aufwärtstrend auf die Beine zu stellen, die Partei zu stabilisieren und einen systematischen Parteiaufbau zu entwickeln – nicht Rekordwahlergebnisse bei Landtags- und Kommunalwahlen einzufahren.

Das Landtagswahlergebnis sollte also Anlass sein, darüber nachzudenken, wie es weitergehen soll – verwunderte Enttäuschung allerdings ist fehl am Platze. Als demokratisch-sozialistische Partei links von SPD und Grünen wachsen die Bäume gegenwärtig nicht in den Himmel. Das gilt für uns genauso, wie unsere GenossInnen und Genossen in anderen europäischen Ländern, die auch immer wieder Erfahrungen wahlpolitischer Achterbahnfahrten gemacht haben.

Kärnerabeit ist angesagt.

Doch damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Das Ergebnis ist weder zufriedenstellend noch wollen wir es uns schön rechnen. Der Kampf um die Etablierung der Partei im Westen hat eigentlich jetzt erst begonnen - und zwar zurecht gestutzt auf Normalmaß, ohne Mitglieder-Größenfantasien, Marktschreierpolitik und Plattform persönlicher Siegesgewissheiten auf plötzlich ganz großer Schaubühne. Normalmaß heißt Kärnerarbeit vor Ort, heißt eine Verstetigung der politischen Präsenz, heißt praktische und plausible Angebote für BürgerInnen und Bürger, soziales Gewissen für und Diskursort der Anliegen der Ausgegrenzten selbst, aktive Mitarbeit in Vereinen, Gewerkschaften und Initiativen, heißt, Räume für Widerständigkeit und Selbstdenken statt Angepasstheit und Marktgängigkeit zu schaffen, heißt Zuhören und integrierend wirken in der Partei und in Bündnissen statt aufgeregter Skandalhuberei und Schlachten ums kalte Parteibuffett. Dieser Aufgabe muss sich die Partei nun insbesondere im Westen zuwenden. Erfolge bei Landestagwahlen im Westen mögen sich kurzfristig einmal aus einer Empörung über die Politik der SPD hier und da ergeben - langfristig geht der Westaufbau allerdings nur über eine sozial engagierte und verwurzelte Politik in der Gesellschaft und mit landespolitischen und lokalen Bezügen. Sich in soziale Milieus einzuschreiben ist aber leider ein Prozess, der in Jahren, vielleicht Jahrzehnten zu denken ist.

Auch wenn die Etablierung der LINKEN im Westen in eine nachhaltige Krise geraten ist, ist dieses Wahlergebnis nicht mehr Ausdruck einer tiefen politischen Krise der LINKEN als Partei insgesamt, wie es die Wahlniederlagen in NRW oder Schleswig-Holstein waren. Das Ergebnis ist letztlich Ausdruck einer Stabilisierung der Partei im Westen auf niedrigen Niveau. Das ist zwar nicht befriedigend, aber immerhin - um eine charttechnische Metapher aus der Finanzwirtschaft einzuführen - ein Boden, von dem aus der eigentliche Parteiaufbau im Westen angegangen werden kann und muss. Die Westverbände dabei zu unterstützen ist daher die prioritäre Arbeit der Parteiführung und der gesamten Partei. Hier neue Konzepte zu erproben und Zielgruppen zu erschließen – daran führt kein Weg vorbei. Man kann eine linke Partei des 21. Jahrhunderts nicht mit den Methoden und Organisationsformen des 20. Jahrhunderts auf Dauer erfolgreich betreiben.

Weder Regierungs- noch Wahrheitsfetisch

Bei Lichte betrachtet kann die LINKE die Regierungsfrage nicht einfach zurückweisen: Denn überall dort, wo rot-rot oder rot-rot-grüne Regierungsoptionen entstehen, muss sich die LINKE zur Regierungsbildung verhalten und sie hat dies in der Vergangenheit auch immer getan. Selbst in besonders “linken” Landesverbänden, wie in NRW und Hessen, hat die Konstellation bisher nie die kategorische Zurückweisung einer Regierungsoption hergegeben. Der “Regierungsfetischismus”, der von einer jüngeren Erklärung des AKL beklagt wird, ist kein subjektives Problem eines Abfalls von der reinen Lehre, sondern im politischen System, seiner symbolischen Ordnung und dem Wahlverhalten der meisten Wähler_innen angelegt. Bei Wahlen wird über die Regierungsbildung entschieden und nicht alle, aber die meisten Wähler_innen richten ihr Wahlverhalten dahingehend aus. Das mag man kritisch sehen, ist aber nicht von heute auf morgen und erst recht nicht durch politische Entscheidungen irgendwelcher Parteigremien zu verändern. Die Angst des kleinen sozialistischen Kaninchens vor der bösen rot-grünen Schlange, bei zu nahem Kontakt sofort gefressen zu werden, hat die Partei überwunden.
Dabei kann es nicht darum gehen, SPD und Grüne einfach nur propagandistisch vorzuführen, sondern diese Forderungen bis in die Mitte der Gesellschaft hinein zu popularisieren. Vielmehr muss das, was unter einem Politikwechsel zu verstehen ist, nicht im Ungefähren, Abstrakt-Grundsätzlichen, Bekenntnishaften gelassen werden (ein Gestus, der bei WählerInnen wegen seiner Hölzernheit ungefähr so erwünscht ist wie ein Hausbesuch der Zeugen Jehovas), sondern es gilt die Regierungsfrage dadurch zu politisieren, dass sie an konkrete Forderungen angebunden wird: Der Stopp von Rüstungsexporten, die Ablehnung von Kampfeinsätzen im Ausland, eine armutsfeste solidarische Mindestrente und eine sanktionsfreie Mindestsicherung, die sicherstellt, dass kein Mensch unter die Armutsrisikogrenze fällt und ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn sowie eine couragierte Besteuerung von Reichtum verhindern, dass die Regierungsfrage zum Fetisch wird. Wer die Bedingungen hoch oder runter schrauben will, soll das konkret sagen. Das wäre ein politischer Beitrag zu dieser Debatte.

Biss nach oben und soziale Sensibilität statt rot-grüner Mittelstandschauvinismus

Das Versprechen der LINKEN eine neue soziale Idee zu entwickeln, die Antworten auf die gesellschaftlichen Problemlagen der Gegenwart enthält, wäre darüber hinaus zu unterfüttern. Erste Eckpunkte dafür bieten etwa die Forderung nach einem Einkommenskorridor (wenigstens 1000 – max. 40 000 Euro bzw. dass das höchste Einkommen in einem Unternehmen das niedrigste nicht um das zwanzigfache Überschreiten darf) einer Arbeitswelt, in der Arbeitsverdichtung, Prekarisierung und Depression zurückgedrängt wird. Ein Erzählstrang ist nötig, der den Gegensatz zwischen einer klassischen Linken, die ihre Erfahrungen aus den Kämpfen in der fordistischen Erwerbsarbeit zieht, einerseits, und andererseits einer, die auf individuell formulierte soziale (Grund-)Rechte setzt, klug zu verbindet.

Dazu muss auch die Differenz zwischen SPD/Grünen und der LINKEN präziser beschrieben und bestimmt werden. Unseres Erachtens macht sich der spezifische Unterschied zwischen der LINKEN und Rot-Grün daran fest, dass LINKE auch “Biss nach oben” hat. Während die SPD Solidarität zu einem Privileg der Mittelschichten mache, versucht DIE LINKE ein Bündnis gegen die oberen Klassen aus der Mittelschicht und denen Schichten zu schmieden, deren Löhne niedrig sind oder die von Arbeitslosengeld, niedrigen Renten oder Hartz IV lebten. Im Gegensatz dazu ist die Strategie der SPD, die sozial ausgegrenzten Schichten “ganz unten” auszublenden und die oberen Klassen aus ihrer Solidaritätsverpflichtung zu entlassen. So wird die SPD wird immer dann ganz zaghaft, wenn es um die Besteuerung von Konzernen und Superreichen geht. Aber letztlich wird ohne die Umverteilung der Vermögen der Superreichen und die Beendigung des Druck auf die mittleren Löhne und die Arbeitsbedingungen der Kernbelegschaften durch Hartz-IV das Lebensniveau der Mittelschicht nicht zu halten sein. Die Politik der SPD wird deshalb selbst für die Mittelschichten zum Desaster. Auch dies gilt es zu verdeutlichen, statt sich in der Rolle der Interessenvertreterung der Ausgegrenzen und Prekarisierten einzurichten.

So isses.

Beitrag von Thomas Lohmeier und Jörg Schindler, geschrieben am 28.01.2013

Das Ergebnis der LINKEN mit 3,1 % in Niedersachsen ist wahrlich kein Grund zur Freude und auch nicht schönzureden. Aber es ist auch nicht überraschend. DIE LINKE ist eine Partei links von der Sozialdemokratie. Sie hat von der Rechtsentwicklung bei Rot-Grün in der Zeit um die Agenda 2010 profitiert und war das Medium, in dem sich Protest gegen die neoliberale Politik artikulierte. Sie hatte prominente ÜberläuferInnen aus SPD und Gewerkschaften gewonnen und konnte glaubhaft suggerieren: Wer links wählt, wählt eigentlich die SPD. Christoph Spehr hat das schön zusammengefasst, indem er die Parteistrategie so beschrieben hat, das sie eine “imaginäre SPD” errichtet.

Weiter: https://www.prager-fruehling-magazin.de/article/946.so-isses-die-kaerrnerarbeit-beginnt.html

Aufstand, Ärger und Authentizität: Jugendkulturen als Mode

Beitrag von Bernd Hüttner, geschrieben am 22.01.2013

Das Archiv der Jugendkulturen in Berlin ist das größte Archiv zur bunten und verschachtelten Welt der Jugendkulturen und –stile. Seine Bibliothek und seine Zeitschriften- und Fanzine-Bestände dürften in Europa einzigartig sein. Im dem Archiv zugeordneten Verlag ist nun ein farbiges und ambitioniert gestaltetes Buch zu „Mode und Jugendkulturen“ erschienen.

„Jugend“ wurde erst im Boom der Nachkriegszeit zu einer kaufkräftigen Gruppe und als solche markiert und angesprochen. Dieser Trend wurde durch die 1968er Jahre und ihre Folgen beschleunigt. Heute reicht die Zielgruppe der Jugendlichen nicht nur im Werbe- und Konsumbereich bis zu den gut 50-jährigen. Selbstverständlich war und ist Jugend nicht nur ein Objekt der Konsumindustrie, sondern drückt sich auch immer selbst auf vielerlei Art und Weise aus, z.B. in und mit der schwarzen Lederjacke, einem der Symbole für Dissidenz in den 1950er Jahren. Viele weitere Arten, sich mit Mode im Fordismus und im heutigen Differenzkapitalismus von anderen abzuheben, werden in den zwei Dutzend Artikeln untersucht und vorgestellt: Mods, Punks, Techno, Skins, Riot Grrrls, bzw. konkreter Jeans, Heavy-Metal-Kutten oder selbstgestaltete Mode in der DDR. Mode bedeutet in allen Beispielen immer auch „Kultur“. Schuhe, Haare, Schmuck, Kleidung, eben das komplette Aussehen stehen für etwas, das nur manchmal für „Außenstehende“ sofort erkennbar ist.

Es werden nicht nur sich progressiv dünkende Stile beschrieben, sondern auch Popper, Dandys, Pali-Tuch-Träger*innen, oder die Gothic-, Punk- und Classic-Lolitas aus Japan. Das Buch zeigt nebenbei, wie durch Kritik an Bekanntem und am „Alten“ Neues entsteht, das dann wiederum „Mode“ und Bestandteil neuer Konsummuster und –normen wird. Spannend sind die gelegentlich eingestreuten historischen Dokumente, alte BRAVO-Cover oder Ausrisse aus anderen Zeitschriften. Sie zeigen, wie der Mainstream – egal ob in den 1950ern oder den 1990ern Jahren - im Moment des Geschehens seine Minderheiten sieht und wie er mit ihnen umgeht.

Insgesamt wirkt „Cool aussehen“ mehr wie ein coffee-table-book, und ist dies in gewissem Sinne auch. Es beinhaltet jedoch, durch die akademische Herkunft der meisten Autor*innen, viele kulturwissenschaftlich und jugendsoziologisch informierte Analysen, die der Leserin den Blick für die Vielzahl und vor allem die Ausdifferenziertheit heutiger und historischer Jugendkulturen weiten. Es ist kein Buch über das Ping-Pong zwischen „Straße“ und „Industrie“, keines über die Ausverkaufsdebatte, eher ein bisschen eines über „Style“; es lebt durch seine Bilder, ganz wie klassische Modemagazine.

Blog zum Buch: www.coolaussehen.de

Video zum Buch: www.youtube.com/watch?v=vPO3frIucGU

Zwei Videos von 2010 zum Archiv der Jugendkulturen: http://www.youtube.com/watch?v=0C4gElDIv7M // http://www.youtube.com/watch?v=09y1Mnuvrxk

Schernikau lesen!

Beitrag von Bodo Niendel, geschrieben am 07.01.2013

Schernikau war eine schillernde Figur der deutsch-deutschen Literatur. Er schrieb über die Liebe, seine Mutter und über seine Heimat, die DDR. Als (westdeutscher) Schüler schrieb er die wohl noch immer schönste deutsche Coming-Out Geschichte, die „Kleinstadtnovelle“. Sein Leben ist durch die Veröffentlichung seiner Biographie, „Der letzte Kommunist“ von Matthias Frings im Jahr 2009, in das Licht der Öffentlichkeit gerückt worden. Doch sein Werk harrt weiter der Veröffentlichung. Erfreulich, dass nun der Verbrecherverlag mit „So schön“ einen weiteren Teil seines Oeuvres zugänglich macht. Zwischen WG-Leben, schwuler Westberliner Subkultur, dem Engagement für die Sozialistische Einheitspartei Westberlins (SEW), dem Schwulenblock bei den fast täglichen Demos, berichtet Schernikau in einem lakonischen, niemals zynischen, sondern fröhlichem Ton über die Liebe unter Männern. Alltägliches und Besonderes bilden die Melange für das Porträt über die untergegangene Schwulenbewegung der 1980er Jahre. Hier schrieb Einer, der über das schrieb, was er sah, lebte: „im jetzt der erzählung wohnt er in der großen stadt und braucht keine bewegung mehr. er ist die bewegung. er hat gehabt, was er haben konnte und macht weiter. helmut tut die pullover in die hosen, weil man das jetzt so trägt, helmut hat eine proletarische sozialisation und sehr viel mut. helmut wäre ein guter kommunist.“

Dem/der Leser/in wird etwas erschlossen, das heute so schwer verständlich ist, weil die Protagonisten dieser Zeit fast alle tot sind. Auch Schernikau starb 1991 in Ostberlin als Bürger der DDR — als einer der letzten Eingebürgerten — an der Immunschwäche AIDS. Doch „So schön“ ist in der Prä-Aids-Ära geschrieben, 1982, als das Treiben in den Saunen, Klappen und Parks noch so unbeschwert schien. Es ist ein Werk mit vier Hauptfiguren, die in ihrem gegenseitigem lieben, verlieben und entlieben eine sehr konkrete Utopie leben, etwas das Michel Foucault als Heterotopie bezeichnet hätte, ein realisierter Ort des Lebens, der Liebe, weshalb der Titel bar jeder Ironie ist.

Man muss Schernikau einiges verzeihen. Wie konnte dieser Dandy nur so in die DDR verliebt sein? Seine Liebe zu mehr als einem Mann gleichzeitig, sein manierierter Schreibstil, sein romantisches Weltbild, sein positivistisch-kritisches Denken, all dies wäre in DDR dauerhaft angeeckt. Doch sein Werk ist Literatur - mit Peter Hacks und Elfriede Jelinek war er befreundet und tauschte sich regelmäßig aus, er hielt eine prophetische Rede auf dem letzten DDR-Schriftstellerkongress - die man nicht in eine Nische stellen darf. Es bleibt zu hoffen, dass auch sein Hauptwerk, die fast 1.000-seitige „Legende“, die er auf dem Sterbebett in noch so jungen Jahren verfasste, bald wieder lieferbar ist und Leser/innen findet.

„A beautiful and simple idea?“

Beitrag von sg, geschrieben am 10.12.2012

Die Diskussion über das bedingungslose Grundeinkommen gehört zu den spannendsten politischen Debatten der Gegenwart. In diesem Jahr gab es im deutschsprachigen Raum neben dutzenden Aufsätzen allein sieben Neuerscheinungen, die sich dem bedingungslosen Grundeinkommen widmen. (1) Die Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen ist jedoch auch eine unübersichtliche Debatte. Denn unter diesem Schlagwort werden sehr unterschiedliche Konzepte verhandelt. Zwei Bücher versprechen einen Überblick.

A beautiful and simple idea ...

Karl Reitters im Wiener Mandelbaum Verlag veröffentlichter Band versteht sich explizit als Einführung. Auf nur hundert Seiten umreißt Reitter Idee, Begründung und Finanzierbarkeit des Grundeinkommens. In einem Kapitel geht er auf verschiedene Einwände und Kritiken ein und schildert abschließend Modellprojekte mit der Auszahlung von Grundeinkommen.

... or a beautiful and simple book?

Bei der Bestimmung seines Gegenstandes macht es sich Reitter einfach. Das Grundeinkommen sei nach einem Zitat des Philosophen Phillippe Van Parijs, „a beautiful and simple idea“, eine schöne und einfache Idee. Ein bedingungsloses Grundeinkommen müsse allgemein und existenzsichernd sein und personenbezogen ausbezahlt werden. Alles andere seien nur verwässerte Konzeptionen. Für eine Einführung ist dies ein legitimer Kunstgriff, schließlich finden sich die selben Kriterien bei emanzipatorischen GrundeinkommensbefürworterInnen wie dem Netzwerk Grundeinkommen. Der Nachteil: Sehr viele Konzepte, die all diese Kriterien nicht erfüllen, firmieren in der öffentlichen Debatte ebenfalls unter dem Begriff Grundeinkommen. Missverständnisse sind also programmiert. Denn so schön und einfach Ideen sein können, die Ideen zu ihrer Umsetzung sind meist nicht mehr so simpel zu beurteilen. So kommt Reitter in die Verlegenheit, dass keines der Experimente die er benennt, den drei Kriterien entspricht. Auch das bei ihm im Kapitel Finanzierbarkeit vorgestellte Modell des Grünen Wolfgang Strengmann-Kuhn, das auf Zahlen von 2007 basiert., also nicht gerade taufrisch ist, lag knapp unter damaligen Armutsrisikogrenze. Ob dieses Modell also als existenzsichernd anzusehen ist, mag dahingestellt sein.

Die Stärken des Buches liegen anderswo. Prägnant schildert Reitter den Umbau des alten fordistischen Wohlfahrtsstaates zum neoliberalen workfare state und des Wandels des zugehörigen Arbeitsregimes. Er skizziert die Ungleichverteilung des Reichtums in westlichen Industriestaaten und fasst feministische Debatten zu unbezahlter Reproduktionsarbeit zusammen. Vor dem Hintergrund dieses Szenarios argumentiert er, auf welche sich daraus ergebenden Widersprüche das Grundeinkommen überzeugende Antworten geben kann. Als Sicherung gegen den Zwang jede unzumutbare Tätigkeit anzunehmen, als Form der Ermöglichung von Selbstbestimmung und sinnvoller Tätigkeit. Gleichzeitig benennt er offen, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht die Lösung aller gesellschaftlichen Widersprüche bedeutet und hebt sich damit wohltuend von manchen ab, die das bedingungslose Grundeinkommen als Allheilmittel versprechen.

Das Buch von Reitter ist flüssig geschrieben und setzt wenige Vorkenntnisse voraus. Komplexe Grundlagen, wie Marx‘ Kritik an der klassischen Arbeitswerttheorie werden von ihm mit simplen Beispielen erklärt. Derartige Vereinfachungen mögen nicht jedermanns Geschmack sein, zumal Reitter auf manch arg moralisierendes Klischee nicht verzichten zu können meint. (2) Für eine Einführung zum Grundeinkommen sind sie zumeist aber durchaus legitim. Für zehn Euro bietet Reitters Buch eine gute und kurze Einführung in die Idee des Grundeinkommens und eine breite Übersicht über die gesellschaftlichen Zustände, die es als politische Forderung plausibel machen. Zusätzlich zum Glossar, hätte man sich eine umfangreichere Literaturliste zum Weiterlesen gewünscht.

Der Sammelband „Grundeinkommen – Von der Idee zu einer europäischen politischen Bewegung“ des Trios Ronald Blaschke, Adeline Otto und Norbert Schepers ergänzt einige der skizzierten Leerstellen von Reitters Buch. Ronald Blaschke grenzt in seinem Beitrag „Grundeinkommen was ist das“ das bedingungslose Grundeinkommen gegen andere, auf den ersten Blick ähnlich erscheinende Konzepte ab und zeigt in übersichtlichen Schaubildern, welche verschiedenen Konzepte sich hinter dem Begriff 'Bürgergeld' verbergen können. In einem bereits vor zwei Jahren erschienenen, aber gründlich aktualisierten Beitrag stellt Blaschke alle in Deutschland diskutierten Grundeinkommensmodelle vor. (3) Darüber hinaus diskutiert er die unterschiedlichen Ansätze das Kriterium „existenzsichernd“ (bzw. in der Erweiterung existenz- und teilhabesichernd) zu bestimmen. In einer tabellarischen Übersicht wird dargestellt, welche Umverteilungswirkung die verschiedenen Grundeinkommenskonzepte haben. Dabei wird sehr deutlich wie unterschiedlich die Grundeinkommenskonzepte von z.B. Bündnis/90 Die Grünen, BAG Grundeinkommen von DIE LINKE und von Dieter Althaus sind.

Der Anspruch des Buches ist allerdings weitgehender. Es soll einerseits europäische politische Bewegung vorstellen und Anschlüsse weiteren gesellschaftlichen Debatten herstellen. Hierzu bietet das Buch verschiedene Anstöße. Sowohl Blaschke, als auch Werner Rätz versuchen das Grundeinkommen und die Debatte um eine Postwachstums-Ökonomie zusammen zu denken. Blaschke meint, dass die Einführung eines Grundeinkommens eine nachhaltigere Produktion nahelege, weil kooperative Produktionsprozesse auch jenseits kurzfristiger Profiterwägungen einfacher zu realisieren seien. Werner Rätz meint im Widerspruch dazu, in seinem Beitrag „Bedingungsloses Grundeinkommen und Krise“, dass die Einführung eines Grundeinkommens zunächst eine stärkere Konsumption bewirken würde. Es wäre daher also im Gegenteil wachstumsfördernd und käme einem gigantischen Konjunkturprogramm gleich. Erst auf lange Sicht würde durch die Umverteilung aus dem gesellschaftlichen Investionsfonds in den Konsumptionsfonds ökonomisches Wachstum gedämpft. Diese eröffne Perspektiven auf eine ressourcenschonendere, nachhaltigere Ökonomie. In dieser Hinsicht offenbart das Buch also eher mögliche Perspektiven für zukünftige Diskussionen, als dass das Buch eindeutige Antworten zu geben, in der Lage wäre.

Der Teil des Buches zur europäischen Dimension der Grundeinkommensbewegung besteht aus einer Übersicht über die Grundeinkommensidee in Europa und den USA, die von einer Darstellung einzelner Grundeinkommensakteure in Frankreich, in Finnland und einer Zusammenstellung von grundeinkommensrelevanten Entschließungen des Europäischen Parlaments sowie die Darstellung der Europäischen Bürgerinitiative für ein Grundeinkommen gefolgt iwrd. Letztere ist eine Art Bürgerbegehren auf europäischer Ebene, das im April 2012 eingeführt wurde. Warum gerade die französische Grundeinkommensszene so detailliert dargestellt wird nicht ganz klar. Hierfür wäre wie bei einigen anderen Beiträgen auch, ein einführendes Kapitel bei der Lektüre hilfreich gewesen.

Anders als die Einführung von Karl Reitter wird man den Band von Blaschke, Otto und Schepers sicher nicht von vorn bis zum Ende lesen. Einige der Beiträge haben durchaus einführenden Charakter und sind mit Schaubildern und Tabellen sehr übersichtlich gestaltet. Teilweise sind die Texte allerdings auch durch umfangreiche Textanhänge aufgebläht. Den dokumentarischen Wert, hätte man an verschiedenen Stellen sicher auch mit einem Link erreichen können. Dennoch ist der Band uneingeschränkt empfehlenswert für alle, die an der Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen teilnehmen wollen. Die gründliche Diskussion der verschiedenen Modelle, ermöglicht es Lesenden unabhängig von deren politischem Standpunkt zu beurteilen, was von den jeweiligen Modellen zu halten ist.

Ronald Blaschke, Adeline Otto, Norbert Schepers (Hrsg.): Grundeinkommen : von der Idee zu einer europäischen politischen Bewegung kostet 16,80 Euro und kann hier bestellt werden.

Karl Reitter: BedingungslosesGrundeinkommen – Intro – Eine Einführung kostet 10 Euro und kann hier bestellt werden.

(1) Nils Adamo: Bedingungsloses Grundeinkommen : Sozialromantik oder Zukunft des Sozialstaats?, Darmstadt 2012

Ronald Blaschke, Adeline Otto, Norbert Schepers (Hrsg.): Grundeinkommen : von der Idee zu einer europäischen politischen Bewegung, Hamburg 2012

Heiner Flassbeck: Irrweg Grundeinkommen : die große Umverteilung von unten nach oben muss beendet werden, Frankfurt am Main 2012

Dirk Jacobi, Wolfgang Strengmann-Kuhn (Hrsg): Wege zum Grundeinkommen, Berlin 2012

Christian Müller, Daniel Straub: Die Befreiung der Schweiz über das bedingungslose Grundeinkommen, Zürich 2012

Karl Reitter: Bedingungsloses Grundeinkommen – Intro – Eine Einführung, Wien 2012

Götz W. Werner (Hrsg.): Das Grundeinkommen : Würdigung - Wertungen – Wege, Karlsruhe 2012

Darüber hinaus sind, insbesondere in Österreich verschiedene Diplomarbeiten erschienen, z. B.

Béla Hollós: Ist ein bedingungsloses Grundeinkommen in Österreich realisierbar?, Dipl. Arbeit Universität Wien 2012

David Thaler: Bedingungsloses Grundeinkommen als Antwort auf die Krise der Erwerbsarbeit: theoretische Zugänge und empirische Befunde, Dipl. Arbeit Universität Wien 2012

(2) So muss für den simplen Gedanken, dass nicht jede Lohnarbeit automatisch gesellschaftlich nützlich ist, ein amerikanischer CIA-Agent herhalten, der in einem Geheimgefängnis foltert. Solche Ausrutscher sind glücklicherweise die Ausnahme.

(3) Besagter Beitrag erschien in: Ronald Blaschke, Adeline Otto, Norbert Schepers (Hrsg.): Grundeinkommen. Geschichte – Modelle – Debatten, Berlin 2010 (auch online abrufbar unter: www.rosalux.de/publication/36006/grundeinkommen.html)

„A beautiful and simple idea?“

geschrieben am 10.12.2012

Schlagworte:

grundeinkommen

Wie zwei neue Bücher zum kontrovers diskutierten Konzept bedingungsloses Grundeinkommen ... wir haben sie gelesen und verraten Euch, ob sie etwas taugen. Hier!

TrinkerInnen fragen ExpertInnen

geschrieben am 03.12.2012

Schlagworte:

alkohol

Die Welt ist schlecht und Alkohol ein Mittel, mit ihr umzugehen. Manchmal ist die Welt auch ganz schön und Alkohol ein Mittel , sie noch schöner zu machen. Ob der Schnaps die Arbeiter von der Revolution abhält oder ob in der Kneipe der revolutionäre Funke von der einen zum anderen springt, ist schon im vorletzten Jahrhundert heißt diskutiert worden.

Die Neuköllner Kollektivkneipte Tristeza veranstaltet eine fünftägige Expertinnentagung zum Thema Alkohol und Gesellschaft. Mit dabei sind der prager frühling-Autor und früherer Stadtschreiber Klagenfurts, Karsten Krampitz, und einer unserer Redakteure, der gleichzeitig Mitglied der Anonymen Alkoholforscher (AA) ist.

Karsten Krampitz liest am kommenden Donnerstag (6.12.) um 20 Uhr aus seinem Buch über Jörg Haider. Am kommenden Freitag (7.12.) trägt unser Redakteur um 19:30 Uhr mit einem Kollegen neueste Erkenntnisse aus der sozial- und wirtschaftshistorischen Erforschung der Leipziger Sternburg-Brauerei vor. (Natürlich unter Pseudonym) Neben Skurilitäten wie Pfarrern, die für den Erhalt der Brauerei beten, wird es auch um Zwangsarbeit und Brauereigeschichte im NS geben

Das Programm der Konferenz

Das Programmheft zum Download

Jenseits von Aufzählungen

geschrieben am 28.11.2012
Auf dem Weg nach Süden.

Jeden Winter ist ein besonderes Schauspiel zu beobachten. Die Redakteurinnen des prager frühling ziehen nach Süden – zur sogenannten „Dialektik-Woche“ bei Frigga Haug. Keine Februar-Ausgabe des prager frühling, die nicht unter großen Terminschwierigkeiten entsteht, weil der Beginn des Januars für diesen politischen und intellektuellen Austausch gesperrt ist. Das geschilderte Phänomen zeigt wohl am eindrücklichsten das politische und intellektuelle Kraftfeld, das Frigga Haug schafft. Heute wird Frigga Haug 75. Sie ist über die vielen Jahrzehnte Feministin und Marxistin geblieben. Früher war es ein Verdienst beides gleichzeitig zu sein. Heutzutage ist es Verdienst eines von beiden geblieben zu sein.

Doch wie würdigt man eine Frigga Haug? Wäre es ihr 35. Geburtstag, man würde ihre Verdienste in den frühen Jahren der Zeitschrift „Das Argument“ erwähnen. Vielleicht würde man auf die wichtigen Anstöße des 1968 gegründeten „Rates zur Befreiung der Frau“ eingehen, in dem sich Frigga Haug engagierte. Bereits bei einem Geburtstagsgruß zu ihrem 45. Geburtstag hätte man die Vielzahl ihrer Schriften zu Automation, zur Rollentheorie und zu weiblicher Alltagserfahrung lediglich erwähnen können. Ihre Gastprofessuren hätte man aufzählen müssen. … und das zu einer Zeit als Professorinnen noch eine größere Ausnahme waren, als sie es leider immer noch sind. Zu ihrem 55. und 65. hat man schon nicht mehr gewusst, wo anfangen.

Die Rezeptionsschwellen, die sie mit der Herausgabe der Schriften von Erwin Goffman oder Donna Harraway überwunden hat, die Anstöße, die sie mit ihren Schriften zu Zeitsouveränität und Vier-in-einem-Perspektive der Linken und der LINKEN gegeben hat, all diese Verdienste im Einzelnen aufzuzählen wäre eine stupide Fleißarbeit. Sie wird in den vielen Geburtstagsgrüßen, die parallel zu diesem erscheinen vermutlich nur annähernd geleistet.

Wir wollen uns heut auf das Wesentliche beschränken: Alles gute Frigga. Auf die nächsten Jahre, mit vielen klugen Gedanken von Dir und weiteren stressigen Februar-Ausgaben des prager frühling.

Texte von und über Frigga Haug im prager frühling:

Nicht wie das Veilchen im Moose ... Sieben Thesen für ein feministisches Profil der LINKEN

Utopische Räume erobern: Eingreifende Populärliteratur am Beispiel der Ariadne Krimis

Gretchenfrage: Wie hältst Du es mit der Treue?

Teilzeit für Alle : Zu Frigga Haugs Buch „Die Vier-in-einem-Perspektive - Politik von Frauen für eine neue Linke“

DER UNHEILIGE

Beitrag von Alexander Wallasch, geschrieben am 21.11.2012
DJ Dosenpfand reibt sich die Hände. Gleich.

Jürgen Trittin, diese optische Schnittmenge – schauen Sie mal genau hin – aus Willy Brandt und Heiner Geißler, steht breitbeinig hinterm Rednerpult auf dem Grünen-Parteitag in Hannover. Unübersehbar: auf diesen grünen Schultern lastet was. Und was die Schultern nicht mehr zu tragen vermögen, reiben die Hände zum Sieg: fünfundzwanzig Minuten lang ein großes Händereiben. Psychologen schreiben diese große Geste gerne Sündern als „Waschen in Unschuld“ ins Stammbuch. Mal sehen.

Die Revers seines Jacketts treffen exakt über dem Schriftzug am Rednerpult „Zusammen hält besser“ zusammen. Sonst geht wenig zusammen. Wie schon vor 32 Jahren – damals, als Trittin vom Dunkelroten ins Grüne konvertierte und sich dort zunächst einem heute entsorgten fundamentalistischen Flügel der Partei zuordnete – reaktiviert der Grüne auch in Hannover wieder dieses ungute Urgefühl: Falscher Hund. Jedes Wort, vorgetragen mit der Stimme von Biene Majas Freund Willi, jeder Satz im Sound schon ein Alarmsignal. Schüler kennen das Phänomen überall auf der Welt: So klingt der ungeliebte Oberlehrer. Antrainierte lakonische Hintergründigkeit ohne Tiefgang. Routine ohne dialektische Hygiene. Die personifizierte Blasiertheit.

Glasklare Gewissheit: Da quatscht einer wider besseren Wissens. Da dödelt sich einer durchs Parteitagsprogramm, dem nichts mehr heilig ist. Ein Unheiliger. Mein persönlicher Eindruck: So treten Prahlhänse auf, die sich ihrer Prahlerei unsagbar sicher sind. Die längst wissen, wie sie ihre Schäfchen ins Trockene bringen und die nur noch pro Forma jenen Millionen gut zureden, die sie in Zukunft in einem zweiten noch gründlicheren Durchgang eiskalt im Regen stehen lassen wollen. Parteikader-Verlogenheit und ex-bundesministeriale Vollzeitarroganz.

Sie finden das jetzt polemisch? Dann hören Sie mal auszugsweise, was der Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen – einer der beiden Spitzenkandidaten für seine Partei bei der Bundestagswahl 2013 – seinen Delegierten in einem platten Festzelt-Vortrag in Hannover so zu sagen hat:

„Wir wollen den grünen Wandel, weil der Klimawandel ungebremst voranschreitet.“ „Noch nie war so wenig Eis am Nordpol, wie in diesem Sommer. Das schreit nicht nach Zurücklehnen, das schreit doch nach Veränderung. Nach dem grünen Wandel! Wir wollen den grünen Wandel, weil aus der Finanzkrise von 2008 nichts gelernt wurde. Noch immer halten sich Banken Staaten als Geiseln.“

Ja Himmel noch eins, geht’s noch naiver, noch willkürlicher populistisch zusammengewürfelt? Kaum, denn Trittins Beliebigkeit ist der Sound der Populisten überall auf der Welt. Wer einmal den so gerne als Populisten gescholtenen Linken Oskar Lafontaine auf irgendeinem deutschen Marktplatz zugehört hat, der weiß zumindest, wie so etwas besser geht.

Und wer will sich eigentlich „zurücklehnen“? Wer hätte einen Grund dazu? Was hat die Wahl der Grünen mit dem Eis am Nordpol zu tun? Und was für eine öde Déjà-Vu-Willensbekundung ist das denn, wo die Grünen schon in ihrem Parteiprogramm 2009 an vorderster Stelle festschrieben: „Begrenzung der Erderwärmung auf höchstens 2 Grad“ und davon heute kein Grad abrücken. Ungenießbarer Ausstellungs-Zuckerguss.

Oder glaubt man ernsthaft eine Außen- und Wirtschaftspolitik betreiben zu können, die den Chinesen, den Indern, den Russen uns sonst wem vorschreiben könnte, wie viel CO2 maximal verdampft werden darf, während die europäische Autoindustrie hinter der „Großen Mauer“ jene schwarzen Zahlen schreibt, die überhaupt erst garantieren, das wir hier in relativem Wohlstand politisch debattieren können?

Nein, da lassen die Grünen ihren Direktmandats-Altersrebellen Ströbele im Deutschlandfunk ein paar beschwichtigende Worte zu den Menschenrechten in China sagen, von denen man sowieso weiß, das sie Minuten später im Äther gnädig dem kollektiven Vergessen anheimfallen: „... man muss hin und wieder auch bereit sein, in einen Konflikt zu gehen, also zum Beispiel, wenn es darum geht, etwa Menschen aufzunehmen, die in China um ihr Leben fürchten müssen, die dort verfolgt werden.“ Ach herrje.

Aber zurück zu Trittin, der ja gerade seine 25 Minuten hat. Wir erleben die mediale Inszenierung einer grünen Aufbruchsstimmung:

„Wir wollen den grünen Wandel, weil Wohlstand in dieser Gesellschaft noch nie so ungerecht verteilt war.“ „Wir wollen den grünen Wandel, weil das historische Friedensprojekt Europa in ernster Gefahr ist.“

Ja Mensch Jürgen, das wolltet Ihr doch 1998 schon! „Wir wollen den Grünen Wandel“ ist zudem eine madige und unattraktive Coverversion von „I have a dream“ oder von „Yes we can“.

Mal polemisch und lautstark zurückgebrüllt: „Alter Junge! Bei 13 (plus-minus) Prozent für die Grünen, da wird’s wenn überhaupt, dann wohl eher ein ziemlich mickriger Wandel. Grüngestreifter Steinbrück. Wie soll das gehen? Denn so wenig rot wie rot heute bei der SPD ein Purpur ist (für den Menschen) ist grün heute noch grün (für die Umwelt). Das wissen Trittins Delegierte natürlich auch.

Aber das könnten auch die Bürger vor dem Fernseher wissen, wenn sie sich nur genau erinnern wollen. An die Regierungsarbeit der Grünen/SPD von 1998-2005. Diese sieben Jahre und 26 Tage endeten in einer großen Enttäuschung und einem unrühmlichen Abgang sogar ein Jahr vor der Verfallszeit. Daran sollten sich die ebenso erinnern, die in Lohn und Arbeit stehen, wie die Agenda-2010-Geschädigten, die Hartz4ler, die Selbstständigen, die Stromabgestellten, die Zwangsprivatisierten, usw.

Ja, Trittin baut 2012 aufs kollektive Vergessen. Aber das sollten wir ihm in diesem x-ten Durchgang nicht mehr durchgehen lassen. Klartext: Die Neuversion der Farce vom Neuanfang heißt dieses Mal „Grüner Wandel“.

Nordpol-eisiges Marketing ist das. Die Sarotti-Mohr-Taktik „Stückchen für Stückchen“ wird vorübergehend zum Füllhorn gemorpht. Zum Interims-Füllhorn des guten Willens: Ja, „Wir wollen ...“.

Aber weiter in Hannover: Übergangslos von den grotesk hohen Arbeitslosenzahlen der Jugendlichen in Europa wird von Trittin der nächste Themablog mit letzter Luft rausgehechelt:

„Und ich sage auch, ein gemeinsames Europa, das muss auf den arabischen Frühling eine andere Antwort haben, als Frontex („Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit“), Abschottung und Panzer nach Bahrain. (Jubel). Wir wollen den Grünen Wandel, weil wir 'ne offene Gesellschaft wollen.“

Also braucht der „arabischen Frühling“ den „Grünen Wandel“ aus Hannover? Da kann man den Arabern nur wünschen, Allah möge den arabischen Frühling vor diesem grünen Spätherbst beschützen.

Nach dem 178sten Händereiben:

„Dieser Grüne Wandel braucht ein Ziel. Wir können das benennen: Wir wollen eine Gesellschaft, die 100% Ihrer Energie aus erneuerbaren Energien dezentral und zentral gewinnt.“ „Wir treten dafür ein, dass die Klassenherkunft nicht länger das Klassenziel bestimmt, damit alle eine gute Bildung haben. Wir wollen, dass Familie da ist, wo Kinder sind, egal ob die Eltern hetero, schwul oder lesbisch sind. Wir wollen ein europäisches Deutschland. Und nicht ein Europa das Deutsch spricht, wie sich das der Herr Kauder vorstellt (jubel).“

Was hier wie ein heilloses Durcheinander klingt, ist eines. Reinste Mitnahmementalität. Und weil sich das selbst dechiffriert, muss eine Stringenz her:

„Das hat uns übrigens schon immer ausgemacht, dass wir wussten, wo wir in den nächsten Jahren hingehen wollen.“

Beamen wir uns kurz wider dem Vergessen zurück ins Jahr 1998 und stellen uns mal vor, die Grünen hätten damals tatsächlich gewollt, was sie bis 2005 angerichtet haben. Nein, der fleißige Händereiber hinterm Rednerpult muss 2012 auf eine kollektiven Amnesie hoffen.

Hofft er am Ende zu Recht? Ist unser Langzeitgedächtnis schon so irreparabel sediert? Trittin scheint davon auszugehen, denn er liefert das Erinnern gleich mit:

„Wir waren schon für Vollkornläden, als Supermärkte (…) noch nicht ganze Regale dafür freigeräumt haben. Und wir waren für die Homo-Ehe, als noch die ganze Gesellschaft gegen uns stand. Wir waren schon für eine Frauenquote, als bei der CDU Frauen nur zum Servieren an die Tische kamen. Ja, (händereib) wir haben dabei einen langen Atem bewiesen, aber am Ende lagen wir richtig. Mit unserer Beharrlichkeit haben wir die Mitte dieser Gesellschaft verändert.“

Das allerdings wage ich zu bezweifeln, denn viel offensichtlicher ist doch, wie elementar die Gesellschaft die Grünen verändert hat. „Gigni de nihilo nihil, in nihilum nil posse reverti“ (Nichts wird aus dem Nichts geboren, und nichts kann ins nichts zurückgeführt werden.)

Eine Erkenntnis bleibt allerdings doch am Ende dieses Ein-Mann-Händereibens für alle: Jürgen Trittin hat in Hannover eindrucksvoll Jutta Ditfurth wiederlegt, denn die sagte mal: "Die Wähler der Grünen sind schlimmer als die Grünen.“

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