Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog

Beschädigt

Beitrag von sg, geschrieben am 19.11.2013

Alice Schwarzer ist es zu verdanken, dass endlich eine wichtige Debatte geführt wird. Eine Debatte über Menschen, die nicht über ihren Körper und nicht über ihren Aufenthaltsort selbst bestimmen können. Menschen, die sich nicht aussuchen können, wo sie wohnen. Die jederzeit von ihren „Chefs“ tausende Kilometer weit weg geschickt werden können, um zu arbeiten. Viele sind an Körper und Seele beschädigt, wenn sie zurückkommen. Kaum eine, die ohne Traumatisierung zurückkehrt. Deswegen reden wir nicht über einen normalen Beruf.

Die lautesten Stimmen, die von Freiwilligkeit reden, kommen von Menschen, die niemals gezwungen sein werden, den „Beruf“ auszuüben. Diejenigen, die den „Beruf“, um den es hier geht, ausüben müssen, sind oft Menschen, die kaum Alternativen haben. Die großen Lobbygruppen, die sich als Stellvertreter aufspielen, arbeiten oftmals nicht oder nicht mehr in dem „Beruf“. Sie gehören zu den Profiteuren des Systems. Deswegen sollten nicht die Menschen stigmatisiert und bestraft werden, die diesem Beruf nachgehen, sondern die Menschenhändler die viele Männer und einige wenige Frauen … Oh. Halt! Ich lese gerade … es geht garnicht um SoldatInnen und den Bundeswehrverband!? Ich entschuldige mich für diesen moralisierenden Kommentar und gebe zurück nach Köln.

Auf der richtigen Seite?

Beitrag von Bodo Niendel, geschrieben am 18.11.2013

Marty Huber hat einen spannenden Beitrag zu Sinn und Unsinn von Christopher Street Days vorgelegt. Sie beleuchtet die CSDs bzw. Gay Prides (CSDs werden international als Gay Prides bezeichnet) in Amsterdam, Wien, Budapest und Belgrad. Die Autorin hat einen hohen Anspruch, sie setzt die Demonstrationen/Paraden in den theoretischen Bezug zur Queer Theorie und dem neoliberalen Umbruch der letzten Jahrzehnte. Bis man zum Konkreten, der Analyse der Gay Prides, gelangt, wird Theorie produziert und die hat es in sich. Die ersten 120 Seiten sind ein Parforceritt durch die queere Theorie und dieser gehört zum Besten, das ich in diesem Zusammenhang gelesen habe. Butler, Deleuze, Althusser, Derrida und Foucault werden abgeklopft. Was haben die theoretischen Schwergewichte zum Subjekt, zu Ideologie und den Bedingungen von Anerkennung, die einen Raum für eine nichtheteronormative Praxis eröffnen, zu sagen? Hier entwickelt sie ihre Hypothese, dass „single-issue politics“ in eine Sackgasse führen wird, da Macht nicht in der Vielfältigkeit der Herrschaftsverhältnisse reflektiert wird. Erst zum letzten Drittel des Buchs wird sich den Gay Prides zugewandt.

Hubers Beschreibungen der osteuropäischen Demonstrationen in Belgrad und Budapest sind bedrückend. Dort finden die Gay Prides, soweit sie von der Polizei nicht untersagt werden, unter einer massiven Abschottung von der Öffentlichkeit statt. Polizeikordons, weiträumige Absperrungen, Verbannung in Außenbezirke und die Bedrohung durch Rechtsextremisten sowie Polizei- und Behördenwillkür lassen erschauern. Huber zeigt, dass sich keine westlichen Modelle, ein Gay Pride als Melange aus Party und (manchmal nur halbgarer) Politik, nach Belgrad oder Budapest exportierten lassen. Die Bedingungen sind vollkommen unterschiedlich. In Osteuropa sind die AktivistInnen gezwungen eigene und neue Strategien zu entwickeln, um Öffentlichkeit herzustellen und um Anerkennung zu ringen. Trotz der Widrigkeiten entstehen so auch Chancen, die eingetretenen Pfade der (westlichen) Identitätspolitik zu verlassen. Hier entstehen neue performative Praxen, die zum Nachdenken anregen, weil sie eben nicht nur auf ein „single issue“, ein einzelnes Thema setzen.

Huber kritisiert scharf ein paternalistisches Verhalten von westlichen Gay Pride Organisatoren (zumeist sind es schwule Männer), die lediglich ihre westlichen Modelle exportieren wollen. Hubers Buch ist eine anspruchsvolle und anregende Lektüre die vielen CSD-OrganisatorInnen geraten sei, um die eigenen Politiken zu hinterfragen, dabei fasse ich mir als Vorstandsmitglied des Berliner CSD auch an die eigene Nase. Befremdlich finde ich hingegen die vereinfachende Bezugnahme zu Butlers Berliner CSD Eklat, weil Hintergründe des Eklats nicht beleuchtet werden und zum No-Homonationalism-Konzept von Jasbir Puar, weil grobschlächtig, im Gegensatz zur sonst sehr präzisen Ausarbeitung, argumentiert wird. Beide Aspekte firmieren in den neueren Queer-Theorie-Arbeiten als Chiffre: Man steht auf der richtigen Seite. Abgesehen davon ist die voraussetzungsvolle Arbeit von Huber ein gelungener Beitrag zu einer reflektierenden Praxis. Man muss die Argumente nicht teilen, aber man sollte sie abwägen.

Bodo Niendel, Referent für queer- und Gleichstellungspolitik der Bundestagsfraktion DIE LINKE.

Jede_r verständlich?

Beitrag von Bodo Niendel, geschrieben am 07.11.2013

„Mind the gap“ versammelt Kurzbiographien und Texte lesbischer, schwuler und trans* KünstlerInnen, Begriffserläuterungen und Dokumente queerer Geschichte. Doch hier beginnt bereits das Problem die/der LeserIn erfährt nicht, was die Grundlage der Auswahl ist. Warum wird die Schriftstellerin Gertrude Stein, der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, die Revolutionärin Rosa Luxemburg und der Regisseur Rosa von Praunheim in eine (Vor-)Geschichte von Queer subsummiert? Die unterschiedlichen Wege zu der heutigen queeren Theorie und Praxis bleiben im Nebel, da hinreichende Erläuterungen fehlen bzw. lediglich die subjektive Haltung der Herausgeberin spiegeln. Zudem wird gleich ein Manko offensichtlich, ein akademisch verbrämter Avantgardismus. So heißt es in einem Dokument: „Jede heterosexuelle Person mit einer einigermaßen kritischen Meinung versteht das Wort Heteronormativität.“ Vor fast einem Vierteljahrhundert erschien das Grundlagenwerk der Queer Theorie, Judith Butlers „Gender Trouble“ 1990, (Dt. „Das Unbehagen der Geschlechter“ 1991), das zur Initialzündung für eine kreative Theorie und Praxis wurde. Der Blick zurück tut deshalb not. Unbenommen meiner Kritik zeugt dieser Reader von dem sinnvollen Versuch einer Historisierung queerer Theorie und Praxis, der durchaus spannende Einblicke liefert. Denn Marie-Christina Latsch hilft viele weniger bekannte, zumeist lesbische Schrifstellerinnen und Künstlerinnen zu entdecken.

Zur Verlagsankündigung geht es hier entlang.

Vattenfall den Stecker ziehen

geschrieben am 27.10.2013

Schlagworte:

Berlin, energiewende, Vattenfall, Volksentscheid

Zieh Vattenfall den Stecker: Beim Energiewende-Volksentscheid @Berlin

Noch eine Woche bis zum Volksentscheid über das Berliner Stromnetz. Es kommt auf jede Stimme an - Campact! hat ein schönes Mobilisierungstool entwickelt, mit dem man Freund*innen aufmerksam machen kann ... es geht JETZT gerade online ... sei dabei!

Wie viel ist genug?

geschrieben am 25.10.2013

Schlagworte:

Katja Kipping, ökologie, Postwachstum, Robert Skidelsky

Lord Robert Skidelsky / Katja Kipping - Wie viel ist genug?

2012 veröffentlichte der wichtigste Keynesbiograf und Ökonom Sir Robert Skidelsky gemeinsam mit seinem Sohn, dem Philosophen Edward Skidelsky, ein Buch, das schnell Furore machte: «Wie viel ist genug? -- Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens.» Ausgehend von Keynes berühmtem Vortrag «Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder» fragen sie, warum der Ausstieg aus dem «Hexensabbat» des Kapitalismus nicht gelang und der Übergang zu einer Gesellschaft des Genug, des Anders und der Muße so ungeheuer schwer ist. Robert und Edward Skidelsky zeigen auf, wie führende Denker von der Antike bis ins 21. Jahrhundert über Entstehung und Gebrauch des Reichtums, aber auch über ein erfülltes Leben jenseits der Arbeit nachgedacht haben. Sie benennen sieben «Basisgüter» wie Sicherheit, Respekt, Muße und Harmonie mit der Natur, auf denen eine Ökonomie des guten Lebens aufbauen muss. Vor allem aber machen sie Mut, Wirtschaft wieder neu zu denken: als moralisches Handeln von Menschen, die in Gemeinschaften leben.

Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. Die Videoaufzeichnung der "Luxemburg Lecture" mit Lord Robert Skidelsky und unserer Redakteurin Katja Kipping ist online.

Die Lust zur Kritik

Beitrag von Bodo Niendel, geschrieben am 22.10.2013

Der Marxismus galt lange Zeit als toter Hund. Heutzutage ist er ein tiefgefrorenes Organlager, dem einzelne Elemente entnommen werden, um wissenschaftlichen Arbeiten Würze zu verleihen. An den Kern des Marxismus wagen sich wenige WissenschaftlerInnen. Stefan Kalmring will die Aktualität des Marxismus mit seinem politisch-theoretischen Potential aufzeigen. Geschult an einem Marxverständnis, dass sich in der akademischen Linken der 1970er Jahre in Westeuropa herausbildete, plädiert er für einen kritischen Marxismus, der vom Leninismus und der wissenschaftlichen Marxtradition des untergangenen Staatssozialismus sowie den dazugehörigen Dogmen der moskauhörigen Kommunistischen Parteien Westeuropas entkleidet ist. In der kaum zu überschauenden Literatur des neuerlichen Marxrevivals sticht Kalmrings Arbeit mit einer kenntnisreichen Auseinandersetzung der verschiedenen Marxschulen hervor. Kalmring versucht das Potential für eine aktuelle Ökonomiekritik offenzulegen, die ihre Kraft gerade aus den Kämpfen unserer Zeit zieht und Theorie und Praxis als Einheit versteht. Trotz seiner manchmal sehr giftigen Kritik gegen Wertkritiker wie Michal Heinrich und die Tübingen/Berlin/La Palma-Achse von Wolfgang Fritz und Frigga Haug gelten ihm gerade ihre Arbeiten als Munition für seine Hauptgegner, die Dogmen des Marxismus-Leninismus. Dieser Marxismus-Leninismus mit seinen versteinerten Analysen und Rechtfertigungen der Verbrechen staatssozialitischer Regime macht es heute schwer, das Potential der marxschen Ökonomiekritik offenzulegen. In Kalmrings kritischer und kenntnisreicher Auseinandersetzung mit dem bedingungslosen Grundeinkommen, der (Anti-)Globalisierungsbewegung oder den Keynesianern kann Kalmring zeigen, dass Marx ein moralferner Analytiker war, mit dessen Analysewerkzeugen man trefflich gegen Liberale wie Rorty und Habermas argumentieren kann.

Doch muss man auch die Prämissen des Autors mit all ihren Schwächen teilen: Das Primat der Ökonomie, sein romantischer Hang für die „andere“ Arbeiterbewegung und seine theoretischen Setzungen von Klassen und Subjekten, um die Arbeit als kohärente Handlungsanweisung zu lesen.

Es hätte Kalmrings Arbeit gut getan, theoretische Schwergewichte wie Foucault, Derrida, Mouffe und Laclau stärker zu berücksichtigen, um Brücken zu aktuellen emanzipatorischen Diskussionen herstellen zu können. Der theoretische Rahmen des „westlichen Marxismus“ wirkt hier begrenzend. Trotzdem: Kalmring hat eine lesenswerte und im besten Sinne belehrende Arbeit zur Aktualität des Marxismus vorgelegt. Hier schreibt ein profunder Marxkenner. Man muss seine Ansichten nicht teilen, doch das Lesen dieser Arbeit bildet und regt an.

„Die Lust zur Kritik“ ist als digitale Version auf den Seiten der Rosa-Luxemburg-Stiftung verfügbar.

Das Handeln der Einzelnen

Beitrag von Bernd Hüttner, geschrieben am 22.10.2013

Der 1930 geborene Reinhard Strecker organisierte 1958 aus dem SDS heraus eine Petition an den Bundestag, in der eine Verfolgung der Straftaten von Richtern, Ärzten und Staatsanwälten während des Nationalsozialismus gefordert wurde. Aus den dafür mühsam zusammengetragenen Materialien erstellte er zusammen mit anderen eine Ausstellung, die erstmals – eher halböffentlich – im Mai 1959 im Rahmen einer Konferenz des SDS in Frankfurt/Main gezeigt wurde. Thema der Konferenz war der zehnte Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes. Größere Resonanz erzielte sie allerdings erst als sie unter dem Titel „Ungesühnte Nazijustiz[1] im November 1959 in einem Lokal (!) in Karlsruhe gezeigt wurde und erste Fürsprecher wie den damaligen Generalbundesanwalt und späteren CDU-Bundestagsabgeordneten Max Güde fand. Er bestätigte die Echtheit aller in der Ausstellung gezeigten Dokumente. Die Ausstellung nannte Namen und Nachkriegskarrieren und verwies ebenso auf die strukturelle Untätigkeit bei der Verfolgung von NS-Tätern. Sie wurde danach an weiteren Orten, auch im Ausland, gezeigt.

Im ersten Drittel des Buches findet sich ein Interview mit Strecker, das im Herbst 2011 geführt wurde. Es enthält viele Einzelinformationen, liefert aber kein wirkliches Bild der Biografie von Strecker, will dies vielleicht auch nicht. Der Leserin fällt es aber schwer, aus dem Interview ein einigermaßen kohärentes Bild von Strecker zu erzeugen, etliches bleibt unverständlich, wie etwa die mehrmals angesprochene finanzielle Dimension des Ausstellungsvorhabens. Das Interview zeigt aber, was rund um die Ausstellung hinter den Kulissen passierte und gibt Einblicke in das Privatleben des dann ab 1970 beim Goethe-Institut in Berlin arbeitenden Strecker.

Der zweite Teil des Buches, ein Essay von Gottfried Oy, skizziert die theoretischen Debatten und Aktivitäten der neuen Linken zum Antisemitismus und zum Umgang mit dem Nationalsozialismus vor »1968 «. Oy kann anhand des Wirkens von Margarete von Brentano eine auf der Rezeption der Kritischen Theorie beruhende wissenschaftliche Debatte nachweisen, die jenseits der Totalitarismustheorie und der ökonomistisch-verkürzten Faschismusdefinition liegt.

Der Essay von Christoph Schneider schließt den Band ab. Er geht auf die mentale und ökonomische Situation des wirtschaftlich aufblühenden, postfaschistischen Deutschlands der 1950er und 1960er Jahre ein. Die Forschung geht heute von 250.000 TäterInnen als Beteiligte alleine bei der Ermordung der europäischen Juden aus, von denen nur circa 6.500 verurteilt wurden. Die Täter waren Ende der 1950er Jahre längst wieder integriert und akzeptiert. Viele Taten waren juristisch verjährt, der Antisemitismus, den es freilich weiterhin gab, vom Antikommunismus überformt und abgelöst. Die antifaschistische Kritik, wie sie vom SDS, von Strecker und anderen vorgebracht wurde, erschien deshalb so anachronistisch. »Verantwortung zu übernehmen«, wovon dann so gerne in den 1980er und den darauffolgenden Jahren gesprochen wurde, hätte damals personelle Konsequenzen bedeutet.

Oy und Schneider haben mit ihrem Buch das Wirken von Strecker und anderen Einzelpersonen gewürdigt. Neben der lesenswerten Gesellschaftsdiagnose liefern sie ein eindrückliches Beispiel dafür, dass das engagierte Handeln von einzelnen Menschen sehr wohl Bedeutung und Folgen hat.

[1] Vgl. Stephan Alexander Glienke 2008: Die Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« (1959–1962). Zur Geschichte der Aufarbeitung nationalsozialistischer Justizverbrechen, Baden-Baden.

Zum Weiterlesen: Diskussionsrunde „Die Bedeutung der Faschismusdiskussion in den 60er Jahren“ mit Wolfgang Lefèvre und Reinhard Strecker.

Anarchismus? Eher Mühsam

Beitrag von Bernd Hüttner, geschrieben am 11.09.2013

Schlagworte:

Anarchismus, Erich Mühsam

Mühsams Anarchismus hat jedenfalls keinen Bart. Er selbst schon.

Angesichts von Occupy wird in der einschlägigen Literatur gelegentlich von einer „Renaissance des Anarchismus“ gesprochen. Die Produktion von Blogbeiträgen, Broschüren und Büchern des anarchistischen Spektrums sprießt jedenfalls munter vor sich hin. Doch was ist heute genau gemeint, wenn von „Anarchismus“ die Rede ist? Der Anarchismus eines Landauer oder Bakunin des vorvorletzten Jahrhunderts, derjenige des spanischen Bürgerkrieges, ein moderner oder gar „postmoderner“ des beginnenden 21. Jahrhunderts? Sicher sind auch heute noch Kooperation, Föderalismus, Räte und vor allem Selbstermächtigung integrale Bestandteile anarchistischer Theorie und Praxis.

Der kürzlich mit dem Erich-Mühsam-Preis 2013 ausgezeichnete Verlag Edition AV im hessischen Lich versucht in seinen vielen Publikationen den Spagat zwischen älteren Positionen und neuen, etwa von Jürgen Mümken vertretenen Lesarten. Philippe Kellermann wiederum darf als einer der besten Kenner und rührigsten AutorInnen des Anarchismus gelten. Er streitet unermüdlich gegen die Geschichtslosigkeit des Anarchismus und für einen Dialog anderer linker Theorietraditionen mit dem Anarchismus. In seinem neusten Buch hat er zehn Männer und eine Frau interviewt, die für einen modernen, reflektierten Anarchismus stehen – und nicht zuletzt entscheidend dazu beitragen, diesen herauszubilden. Der zur Arbeiterbewegung forschende Torsten Bewernitz etwa hält die „gegenseitige Hilfe für den Kern“ des Anarchismus. Der wie Bewernitz in der Münsteraner Anarcho-Szene sozialisierte und jetzt in Wien lebende Jens Kastner sagt, Politik sei das Aufbrechen des Gewohnten und der Umstand, dass Menschen sprechen und agieren, die sonst stumm sind.

Gabriel Kuhn weist darauf hin, dass „Anarchie“ nicht bedeutet, keine Gesetze zu haben, sondern heute heißen müsse, keine Gesetze zu benötigen. Der schon erwähnte Kastner macht noch einmal die postmoderne Kritik an einem vorgestellten „Wir“ stark. Die vielzitierten „99 Prozent“ hätten eben nicht zwangsläufig auch nur tendenziell gleiche Interessen. Fraglich ist, und diese Debatte ist noch nicht entschieden, ob mit der Entdeckung immer neuer Differenzen, die sonst, auch von Kastner, scharf kritisierte neoliberale Weltsicht, es gebe nur noch Individuen, übernommen wird. Offen ist also, wie der Anarchismus auf die Herausforderungen durch die Postmoderne reagiert. Also mit der These umgeht, dass es kein objektives Wissen gäbe. Was bedeutet es eigentlich, wenn festgestellt wird, dass der Staat der Gesellschaft nicht äußerlich ist, sondern die gesamte Ordnung der Gesellschaft staatlich organisiert ist? Reicht es dann noch den Staat mit Kategorien wie „Ausbeutung“ und Unterdrückung“ zu kritisieren, oder muss nicht vielmehr die Frage nach der „freiwilligen Knechtschaft“ aufgeworfen werden? Die Frage, die bei demokratischen SozialistInnen die komplexe nach der Bedeutung von Hegemonie ist.

Bestandteil dieser Debatte ist zweitens die Neubewertung historischer Vorgänge, etwa im Verhalten der spanischen anarchistischen Gewerkschaft CNT. Dabei stößt man schnell auf die Tatsache, dass auch im Anarchismus Mythen existieren, die eine kritische Beschäftigung erschweren. Stellenweise ist das Buch zu detailverliebt und dann etwas weitschweifig. Das Layout mit zu wenig Zeilenabstand erschwert leider die grundsätzlich lohnende Lektüre. Das Buch reizt also auf den ersten Blick zum abgedroschenen Bonmot „Anarchismus? – Eher Mühsam!“. Bei einer gründlicheren Beschäftigung zeigt es, dass sich in einem anstrengenden Prozess durchaus ein zeitgemäßer Anarchismus herausbildet. Mit dem dann auch andere linke Traditionen in einen fruchtbaren Dialog treten könnten – und sollten. Einen Dialog, durch den dann alle Beteiligten etwas lernen könnten.

Jenseits der Zwei-Geschlechter-Ordnung

Beitrag von Bodo Niendel, geschrieben am 09.09.2013

Clara Morgens Buch ist ein beeindruckender Bericht der Mutter eines intersexuellen Kindes. Intersexuell. Was ist das? Ja, genau diese Frage stellen sich Eltern, wenn sie direkt nach der Geburt oder nach dem Besuch eines Kindesarztes damit konfrontiert sind, dass ihr Kind weder männlich noch weiblich ist. Das Kind weist beide Geschlechtsmerkmale auf: Ein Kind jenseits unserer Vorstellungen der Geschlechter. Clara Morgen schockierte dies, genauso wie viele andere Eltern. Sie bekam das Kind 1984. Bücher und Filme konnten ihr keine Informationen bieten. Die Ärzte präsentierten ihr nach gängiger Lehrmeinung eine Lösung. Sie rieten zur Operation, um ein weibliches Geschlecht herzustellen, denn dies sei auch im Interesse des Kindes. Die Mutter willigte ein, um „klare Verhältnisse“ zu schaffen. „Dass ich mit dieser Einstellung damals genau die gesellschaftlichen Erwartungen nach Eindeutigkeit im Geschlecht erfüllte, das ist mir erst viel später, nach und nach klar geworden.“ Und man muss hinzufügen, es tut ihr leid. Denn ihrem Kind wurde ein Teil der Geschlechtsorgane irreversibel entnommen und damit auch ein Teil der Sexualität für immer geraubt. Später konfrontierte sie ihr nun erwachsenes Kind mit dem Vorwurf der Kastration. Doch Clara Morgen handelte so, wie es ihre die Ärzte rieten. Wie sollte sie es damals besser gewusst haben?

Clara Morgens Buch ist ein Plädoyer gegen ein Denken in nur zwei Geschlechtern und für die Vielfalt der Geschlechter. Abgerundet wird der Bericht durch kurze prägnante Interviews mit Betroffenen und ExpertInnen. Clara Morgen möchte aufrütteln und Intersexuellen und ihren Angehörigen Mut machen, dass auch ein Leben zwischen den Geschlechtern möglich ist. Dieses Buch erscheint zum richtigen Zeitpunkt und tut Not. Denn die Lehrmeinung, dass es für das Kind besser sei, wenn frühkindlich ein Geschlecht operativ hergestellt wird, ist noch nicht völlig ad acta gelegt. Es gibt weiterhin Ärzte, die diese Operationen durchführen. Betroffene und Expertinnen sind sich heute überwiegend einig, die geschlechtsnormierenden Operationen im Kindesalter müssen unterbunden werden. Das Personenstandsgesetz muss geändert, die Selbsthilfe gefördert werden und in Kitas und Schulen soll die Akzeptanz der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt vermittelt werden. Clara Morgen bringt es auf den Punkt: „Alles, was das starre männlich/weiblich-Schema in den Köpfen der Bevölkerung aufweicht und in Frage stellt, ist wichtig und nötig.“ Dies würde nicht nur Intersexuellen helfen.

Das Buch berührt auch eine aktuelle Diskussion. In Folge des im Februar 2012 veröffentlichten Ethikratsberichts und der ersten Öffentlichen Anhörung im Deutschen Bundestag zum Thema Intersexualität im Juni 2012, ist die skandalöse Menschenrechtsverletzung endlich auch auf die politische Agenda gerückt. Bemerkenswerter Weise bildete sich eine intrafraktionelle Arbeitsgruppe unter Beteiligung aller Fraktionen des deutschen Bundestags. CDU/CSU und FDP verabschiedeten sich früh, sie waren der Meinung, dass eine kleine Änderung im Personenstandsgesetz, die am 1. November diesen Jahres in Kraft tritt, bereits die Probleme lösen würde. DIE LINKE, SPD und Grüne waren anderer Meinung und einigten sich auf einen gemeinsamen Antrag, der unter anderem ein Verbot der geschlechtsnormierenden Operationen vor der Einwilligungsfähigkeit vorsieht, wie es DIE LINKE in den Beratungen stark machte. Allerdings wurde der Antrag von der Fraktionsspitze der Grünen und der SPD gestoppt, da man kurz vor der Bundestagswahl keinesfalls einen gemeinsamen Antrag mit der LINKEN machen wollte. So brachten DIE LINKE, Grüne und SPD eigene Anträge im Juni diesen Jahres in den Bundestag ein, die sich nur in Nuancen unterschieden. Eine parteipolitische Posse.

Bodo Niendel, Referent für Gleichstellungs- und queerpolitik der Bundestagsfraktion DIE LINKE

Was auf dem Spiel steht

Beitrag von Tobias Schulze, geschrieben am 27.08.2013

Schlagworte:

bundestagswahl, wahlen

Waren auch gegens Wählen ... aber nur von anderen. Nicht sehr subtiles Anti-Suffragetten-Plakat.

Viele, etwa der Soziologe Christoph Butterwegge, rechnen mit der schlechtesten Wahlbeteiligung bei einer Bundestagswahl seit dem letzten Weltkrieg.

Schon die letzte Wahl gab genug Aufschluss darüber, dass sich eine wachsende Zahl von Menschen von ihrer Mitwirkung an der parlamentarischen Demokratie weitgehend verabschiedet. Dies betraf, wie auch Butterwegge feststellt, vor allem sozial Benachteiligte. Wer Sozialstruktur und Wahlbeteiligungskarten übereinander legt, wird in der Tat eine erschreckende Übereinstimmung feststellen. Wer die Demokratie retten will, muss die soziale Spaltung überwinden – so könnte eine Lehre aus diesen Studien lauten.

Bei dieser Wahl könnte noch ein Phänomen hinzutreten: das massenhafte Nichtwählen politisch interessierter Mittelschichtsangehöriger. Die Anzeichen dafür mehren sich auf der Rechten (etwa mit Gertrud Höhler oder Peter Sloterdijk), aber auch in linkeren Kreisen. Die großbürgerlich-konservative Kritik entzündet sich in der Regel am vermeintlichen Einknicken Merkels – etwa bei der Eurorettung, dem Mindestlohn, Steuersenkungen oder der Frauenquote. Überall müssten, so die Kritiker, viel härtere Maßnahmen ergriffen werden.

Nichtwählende des linken Spektrums äußern sich ebenfalls. Zumeist sind mangelnde Alternativen zur herrschenden Politik das entscheidende Argument. Es fehle die Wechselstimmung, schreibt Ulrich Horn. Das Fehlen klarer Alternativen zum Bestehenden bemängeln selbst Parteimitglieder, wie die Grüne Katrin Rönicke. Aber auch das Fehlen zukünftiger Herausforderungen wie Wachstumskritik oder Ökologie im Wahlkampf wird angemahnt, z.B. durch den schillernden Professor Harald Welzer.

Rot-Grün zuist kein mobilisierendes Projekt. Einerseits haben die Regierungsjahre dieser beiden Parteien langwährende Spuren im Wähler_innengedächtnis hinterlassen, andererseits wirkt der aktuelle Zustand der alten Tante SPD auf viele nicht vertrauenerweckend.

Denn erwartet wird von vielen ein großer Wurf, eine umfassende Reformperspektive, ein radikaler Schnitt für praktisch alle Lebensbereiche. Trotzdem: unter diesem Entwurf macht man es nicht. Unterhalb dieses Entwurfs, in den ermüdenden Details und Zwängen widerstrebender Interessen, wird Politik für viele fade, beliebig, austauschbar und technokratisch.

Dieser Widerspruch zieht sich auch durch den derzeitigen Wahlkampf: der große Aufbruch, der erwartet wird, der in den Augen vieler einfach notwendig und „dran“ ist, auf der einen Seite; die Lethargie, die grundlegende Veränderungen in einer komplexen, vermachteten Gesellschaft als aussichtlos erscheinen lässt, auf der anderen. Und dann diese Parteien: sinnlos in den Augen vieler, weil vor allem auf die eigenen Interessen bedacht, unflexibel, altbacken und mit immer geringeren Spielräumen. Parteien, so denken viele Politikinteressierte, sind eher Teil des Problems, als Teil der Lösung. Warum, so fragen sie sich, sollte man die auch noch durch eine Wahl legitimieren?

Ja, was denn sonst? Ist es völlig egal, wie Parlamente zusammengesetzt sind?

Die Kritik ist berechtigt: Die Spielräume der Parteien werden immer enger, und trotz vieler Fortschritte besteht immer noch genug innerer Modernisierungsbedarf, etwa im Hinblick auf Mitbestimmungsmöglichkeiten und Kommunikationswege. Eine Partei ist aber nur eine unter vielen Gruppen gesellschaftlicher Akteure. Wer sich für ein politisches Ziel engagieren will, kann das heute an vielen Stellen tun: in NGOs, Verbänden, Gewerkschaften, Kirchen, Jugendverbänden, Bürgerinitiativen, als NetzaktivistIn …

Parteien sind mehr denn je in ein Geflecht von Interessengruppen eingebunden. Angesichts ihrer sinkenden mitgliedschaftlichen Verankerung sind sie sogar darauf angewiesen, Input, Informationen und Expertise von außen zu bekommen. Zivilgesellschaft und politische Öffentlichkeit differenzieren sich aus, manche sagen, sie zersplittert. Dazu kommt die immer stärkere Verflechtung der politischen Ebenen, von der Kommune bis zu den Vereinten Nationen. Die großen Kämpfe unserer Zeit finden nicht mehr im Kontext des Nationalstaats statt. Keine gute Zeit für große Entwürfe, die dann auch praktisch umgesetzt werden sollen.

Auf der anderen Seite begrenzen Verwaltungen und Bürokratien die Handlungsmöglichkeiten: Sie besitzen in der Regel das Wissen und die Erfahrung, die Parteien und Fraktionen aus vielerlei Gründen nicht haben können. Oftmals ist die Frage, wer eigentlich wen im Griff hat.

Das verweist auf die immer noch bestehende substanzielle Funktion von Parteien, ihren Fraktionen und Amtsträgerinnen und –trägern: sie sitzen an einer entscheidenden Stelle. Sie bilden das Scharnier zwischen Zivilgesellschaft und staatlicher Verwaltung. Sie legen die großen Linien des öffentlichen Geldeinnehmens und Geldausgebens fest. Ihre Kompetenz besteht im besten Fall darin, verschiedene Interessen anhand von Werten gegeneinander abzuwägen und zu Kompromissen zu gelangen. Dies gilt auch für SPD, LINKE und Grüne, von denen besonders die ersten beiden eine äußerst heterogene Wählerschaft haben.

Parteien als Scharnier sind nicht mehr die Plattform für große, alles umfassende, detaillierte Zukunftsentwürfe und radikale Lösungen. Diese bleiben Sachbuchautorinnen und –autoren überlassen – anregend, aber zumeist unterkomplex und nicht selten interessengeleitet.

Parteien hingegen sollen glaubwürdig Werte vertreten und diese in praktische Politik in Gesetzgebung und Verwaltung umsetzen. Je nach Situation sind hier mal kleinere und mal größere Schritte möglich, mal radikalere und mal weniger radikale. Parteien sollten dabei sicher mutiger und ehrlicher sein. Sie könnten umfassender und weiter in die Zukunft gerichtet denken. Sie sollten mehr gestalten wollen und Machtauseinandersetzungen mit Interessengruppen nicht scheuen. Und sie sollten eigene Wege erdenken, die sonst niemand auf dem Schirm hat. Es gilt aber auch: je mehr Bewegung in der Gesellschaft, umso mehr Bewegung in der (Partei-)Politik.

Klare Konfliktlinien würden viele Wählerinnen und Wähler wahrscheinlich honorieren, weil sie die Unterschiede deutlicher machen. Andererseits dürfen sie es aber auch nicht übertreiben, denn lauter Parteienstreit liegt beim Politikzuschauer auf der Wegzappskala ganz weit oben.

Wählerinnen und Wähler haben die Möglichkeit, alle vier Jahre diese Schnittstelle zwischen Staat und Gesellschaft mit Personal zu besetzen. Das ist nicht die einzige, aber eine Möglichkeit, die Gesellschaft zu gestalten und zu verändern. Wahlentscheidungen sind schwierig, weil die Wählenden auch sich selbst begegnen, wie Benjamin Stuckrad-Barre das schön beschreibt:

„Wenn man darüber nachdenkt: Was meine ich eigentlich mit meiner Stimme? Was ist besser für das Land? Was ist besser für mich: 38 Jahre alt, eine Frau, ein Kind? Und kann, was schlecht für mich ist, gut fürs Land sein – und umgekehrt?“


Der alte Kalauer, „Wahlen ändern nichts, sonst wären sie verboten“, stimmt insofern, als dass erst die durch Wahlen Legitimierten in den entsprechenden Mandaten und Ämtern etwas ändern können. Und dass diese auch nicht alles, sondern nur das in ihrem Einflussbereich liegende ändern können. Sie vertreten Interessen, manche von Arbeitslosen, manche von Konzernen, manche von Frauen, manche von Männern, manche von Anlegern, manche von Niedriglöhnern. Diese Interessenvertretung ist dann ein Prozess, in dem es nicht nur auf Überzeugung und Glaubwürdigkeit, sondern auch auf Kompetenzen öffentlicher Kommunikation, die Bildung von Netzwerken und den Austausch mit ebenjener Zivilgesellschaft ankommt – das berühmte Webersche „Bohren dicker Bretter“.

Niemand setzt sich heute auf ein Fahrrad namens Mehrheit und kann vollkommen in die andere Richtung fahren. An diesem Fahrrad zerren ganz verschiedene Kräfte. Wer das Ganze praktisch durchspielen will, verfolge die Debatte zum Thema Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Oder den Lernprozess der neuen Piratenfraktionen in den Landtagen.

Die Begrenzungen des Parlamentarismus, große Gesellschaftsentwürfe zu entwerfen und umzusetzen, sind also bekannt, auch und besonders denjenigen, die in ihm arbeiten. Aber rechtfertigen sie eine Wahlenthaltung? Würden wir nicht auch für viel kleinere Veränderungen in unserem Umfeld etwas tun? Würden wir nicht Nachbarn helfen, vielleicht eine Initiative unterstützen, Zeitung lesen, Petitionen mitzeichnen oder den Müll trennen? Aber ausgerechnet das Wahlkreuzchen würden wir zur Disposition stellen?

Es ist doch für jeden und jede was im Parteienspektrum dabei: Newcomer, die alles anders machen wollen, genauso wie Etablierte, die gar nichts anders machen wollen. Parteien, die für Geld, und Parteien, die für Menschen Politik machen. In den Positionen und Programmen ist das Spektrum sehr weit gestreut. Manchen wollen Dauerregierung sein, andere das Salz in der Suppe der Herrschenden.

Nichtwählen wird faktisch, egal wie es gemeint ist, als Zustimmung zur herrschenden Politik wirken. Die Merkelsche CDU setzt geradezu auf Postdemokratie als Wahlkampfstrategie. Sie hat kein mobilisierendes Element im Wahlkampf. Die CDU spricht nicht über die vor uns liegenden Herausforderungen und Entscheidungen. Aber sollte man ihr das durchgehen lassen? Wer nicht wählen geht, trifft keine Aussage, wie sich Partei X oder Y verändern sollte, damit sie wieder wählbar ist.

Auf dem Spiel steht dabei, dass die Veränderungsfähigkeit des Gemeinwesens von den gegenseitigen Impulsen lebt. Reißt der Lernprozess ab, den Parteien durch gute Wahlergebnisse anderer Parteien („Abstrafen“) durchmachen, geht es auch nicht vorwärts.

Oder es geht sogar rückwärts. Die Ablehnung des „Systems“ ist heute vom organisierten neofaschistischen Spektrum in die Mitte gerückt. Sarrazins Pamphlet „Deutschland schafft sich ab“ ist eines der meistverkauften Sachbücher seit 1945, die rechtspopulistische „Alternative für Deutschland“ die aktivste Partei bei Facebook. Der anfangs angesprochene rechte Reflex erstreckt sich nicht nur auf Euro-Kritik, sondern zieht sich über die von Sarrazin und anderen befeuerten deutschtümelnden Grundmotive durch die ganze Gesellschaft. Diese Entsolidarisierung der Mittelschichten ist vielfach untersucht – auch in ihren Ursachen in der wirtschaftsliberalen Politik der letzten Bundesregierungen.

Hier geht es um eine Kehrtwende. Demokratische Wahlen und die Debatten um die Zukunft der Gesellschaft, die in ihrem Umfeld geführt werden sollten, sind ein Fanal gegen die Ohnmacht, die Verängstigung und den Hass aus der Mitte der Gesellschaft.

Ein echtes Umsteuern, ein Politikwechsel, eine Stärkung von sozialstaatlichen Ausgleichsmechanismen, direkter Demokratie und ihre Modernisierung für eine heterogene Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, ein soziales Europa wird ohne progressive und reformierte Parteien kaum möglich sein. Neben der lange fälligen Ausweitung direkter Demokratie und der zu forcierenden Entwicklung und Nutzung digitaler Partizipationsmöglichkeiten bleibt ein großer Raum zu gestalten. Parteien werden weiter Macht abgeben, aber sie werden nicht überflüssig. Sie werden gebraucht zur Vermittlung und zum konkreten, institutionellen Handeln.

Parteien, wenn sie unter gesellschaftlichem Druck stehen, könnten ein Korrektiv zu den Kapitalanlegern und den Märkten auf der einen und den Bürokraten auf der anderen Seite sein, die „anderen“ Herrscher in unserer Gesellschaft. Durch Nichtwählen wird dieser Prozess des Umsteuerns und Unter-Druck-Setzens von Parteien jedoch nicht eröffnet, sondern beendet. Politik, die nicht gewählt wurde, aber handelt – eine beängstigende Vorstellung.


Der Text unseres Redakteurs Tobias Schulze erschien bei Carta.

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