Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog

Today is Steal something from Work – Day

geschrieben am 15.04.2014

Unser Video der Woche ist diesmal ganz aktuell. Heute ist „Steal something from Work“ – Day. Zu deutsch: „Klau etwas am Arbeitsplatz“ – Tag. Damit auch alle davon erfahren: Bitte weitersagen! Spezielle Fragen wie: „Ich bin Renter, kann ich auch am „Steal someting from work“ – Day teilnehmen?“, werden hier beantwortet.

Linke Parteien leben nicht vom Protest

Beitrag von Horst Kahrs, geschrieben am 11.04.2014

Schlagworte:

linke, reformpolitik

Die „Thesen zur Dialektik von Renitenz und Regierung“ der Ausgabe #18 wurden im Netz heiß diskutiert. Verschiedene Autor_innen haben begonnen die Thesen mal kritisch, mal zustimmend zu kommentieren. Die entstandenen Texte werden hier in loser Folge veröffentlicht. Den ersten Aufschlag machte Jasmini Siri mit ihrem Beitrag „Die (Un-)Möglichkeit kritischer Organisation“. Ihr folgte Mario Candeias mit „Linksparteien – multiple Persönlichkeiten oder lebendige Organismen?“ und Joachim Bischoff und Björn Radke mit Parteien links der Sozialdemokratie.
Im aktuellen Beitrag reagiert Horst Karhs, Mitarbeiter am Institut für Gesellschaftsanalyse der RLS, auf die fortlaufende Diskussion.

1.) Unterbestimmung des politischen »Existenzrechts« von linken Parteien

Die angebliche »Zwitterrolle« von Parteien links der Sozialdemokratie - machtpolitisch den linken Flügel besetzen, als Protestpartei gesellschaftlichen Unmut bündeln und wirkungsvoll artikulieren – legt gleich zu Beginn eine Fährte, der ich schwerlich folgen kann. Nicht, weil ich sie für falsch hielte, sondern weil ich darin eine Unterbestimmung des politischen »Existenzrechts« von linken Parteien sehe. Denn Parteien links von der Sozialdemokratie, die sich auf die Alternative »Regieren und Renitenz« beschränken, werden auf Dauer für linke Politik überflüssig und hinderlich. »Protest« ist bekanntlich ein wankelmütiger Zeitgenosse. Linke Parteien beziehen ihre Substanz immer noch aus der Fähigkeit, die herrschenden Verhältnisse mit den unterdrückten besseren Möglichkeiten zu konfrontieren. Die Produktivkräfte sind derart entwickelt, dass kein Mensch auf der Welt hungern müsste, eine Grundversorgung mit Wasser und Energie garantiert werden könnte, zudem Bildung für jedes Kind. Wenn die Produktivkräfte sich (mit allen negativen Konsequenzen) von Zufälligkeiten der Natur emanzipiert haben, so ist z.B. Hunger eben kein Naturereignis, dem die Menschheit schutzlos ausgeliefert ist, sondern von Menschenhand gemacht. Linke Politik lebte und lebt immer davon, den bestehenden Verhältnissen das Andere, Bessere, was sie als Potential in sich tragen, entgegenzusetzen, in der technologischen, sozialen Entwicklung die emanzipatorischen Potentiale zu identifizieren und stark zu machen, die Widersprüche offenzulegen, in Bewegung zu setzen und – ja, darüber müssen wir reden: zivilisatorischen Fortschritt zu erreichen. Jeder Mensch hat die gleichen Rechte, sozial, politisch-rechtlich, ökologisch, Demokratie und Gleichheit – eine wohlverstandene Mischung aus Werten und Analysen macht die Stärke linker Parteien aus. Sozialdemokratische Parteien haben die gleiche Quelle, sind im historischen Verlauf aber zu der Einsicht gelangt, dass »der Kapitalismus« nicht zu besiegen und abzuschaffen sei und es deshalb der erfolgversprechendere Weg sei, einen möglichst großen Anteil seiner Produktivitätsgewinne in den gesellschaftliche, lohnpolitische und wohlfahrtsstaatliche Verteilung umzulenken. Dafür waren und sind sie bereit, die Maschine der Kapitalverwertung zu ölen; mit dem Keynesianismus rückte die Frage der Realisierung des produzierten Mehrwerts in den Mittelpunkt. Parteien links von der Sozialdemokratie haben sich diesem Weg nie verschlossen, aber immer darauf bestanden, dass es eine Welt jenseits der Kapitalverwertung geben muss, dass Reformen dann festen Grund haben, wenn die Option der Empörung, der Revolte und der Revolution nicht a priori ausgeschlossen wird. Die Dialektik von Reform und Revolution lässt sich nicht auf eine Dialektik von Renitenz und Regierung zusammenstauchen.

2.) Wie ist das Verhältnis von »roten Haltelinien« zu machtpolitischen Herausforderungen?

Eine linke Reformpolitik, die eine Alternative zum Neoliberalismus auf den Weg bringt, heißt es, sei vom Nationalstaat aus im gegenwärtigen Kapitalismus kaum möglich und im übrigen seit Jahren regelmäßig und grandios gescheitert. Verwiesen wird auf die aktuellen französischen Erfahrungen; andere Verweise wären möglich und gegen die Feststellung ist nichts sagen. Aber warum ist das so, was ließe sich mal anders machen? Was heißt es, eine »Alternative zum Neoliberalismus« auf den Weg zu bringen? Im reformistischen wie revolutionären Sinne kann es nur bedeuten, die Risse in den dominanten politischen und gesellschaftlichen Kräftebündnissen, die Linke gerne mit dem Stichwort „Neoliberalismus“ homogenisieren und kleinreden, im Nationalstaat und darüber hinaus in Bewegung zu setzen. Auf die Schwächen des Gegners schauen bringt mehr als nur auf seine Stärken zu schauen. Nehmen wir zum Beispiel Syriza. Griechenland ist das schwächste Glied in der Kette, sagen unsere linken Analysen zur EU-Politik. Wenn es bricht, dann geht den Hauptquartieren entgegen... Syriza will die Kette brechen – und wie verhält sich die deutsche, die europäische Linke bei einer Regierungsübernahme durch Syriza? Ist die Linke darauf vorbereitet, spätestens dann die Große Koalition ablösen zu wollen? Oder erschöpft sich die Solidarität in guten Worten? In welchem Verhältnis stehen die »roten Haltelinien« zu diesen machtpolitischen Herausforderungen? So betrachtet, würde die Gegenthese lauten: Die Gegenwart des Reformismus ist europäisch. Die Linke im Krisengewinnler-Land Deutschland, wo gerade ein paar sozialdemokratische Reformen mit diesen Krisengewinnen, nicht zuletzt den 40 Mrd. Euro ersparten Schuldzinsen, finanziert werden, scheut diesen Schritt ins unsichere Gelände und begibt sich stattdessen in politischen Widerspruch zu den eigenen politökonomischen Analysen. Die Linke, so wäre das Ausgangsproblem zu spezifizieren, denkt und handelt eben nicht mit europäischer Perspektive. Welche Gefahren und Chancen hier liegen, offenbarte der Widerhall, den Bernd Riexinger erfuhr, als er in Athen im Oktober 2012 an einer Demonstration gegen unsere Kanzlerin teilnahm.

3.) Die Schwäche von Reformismus und Protest liegt in der anhaltenden Unfähigkeit angemessene positive Selbstdeutungen zu formulieren.

Die im Zusammenhang der Widerstände, auf die eine linke Reformpolitik treffen würde, ebenfalls angesprochene Macht der Sparer und der Rating-Agenturen basiert auf der Hegemonie ihres Klassenstandpunktes, des Standpunktes der arbeitslosen, mühelosen Aneignung von Mehrwert und der Spekulation auf deren Zukunft. Zu den größten Erfolgen der neoliberalen strategischen Kommunikation zählte das öffentliche Framing von »Steuern« als »Last« und die Vertreibung der »Arbeit« aus den öffentlichen Diskursen der Wirtschaft. In keynesianischen Hochzeiten produzierten »Arbeit und Kapital« den gesellschaftlichen Reichtum, mittlerweile hindern zu hohe Kosten der Arbeit das Kapital an seinem segensreichen Wirken für die Gesellschaft. Wenn mit der »linkspopulistischen Option« die Leerstelle strategischer linker Kommunikationslinien gemeint ist, dann wäre ich einverstanden. Ginge es dann doch um die Frage der Deutungen und Frames. Marx war ein genialer strategischer Kommunikator: die vor aller Augen entfesselten Produktivkräfte ermöglichen ein Reich der Freiheit, der freien Assoziation, der Demokratie und Gleichheit; die Arbeiterklasse als neue Klasse produziert nicht nur diesen Reichtum, sondern wird den Laden auch mal übernehmen können. Hat sie dann aber nicht gemacht, die Arbeiterklasse. Und: Der Stolz, ein Arbeiter zu sein, ist perdu. Seitdem verfügt die Linke über kein Subjekt ihrer Politik mehr. Die »Einkommensschwachen«, die »Bildungsschwachen«, die »Ärmsten der Armen« sind an seine Stelle gerückt worden. Mit diesen eher christlich konnotierten Begriffen bezeichnet sich selbst niemand, macht sich auch kaum jemand zugehörig oder fühlt sich angesprochen. Es sind Begriffe, in denen Politik und Medien untereinander über die Gesellschaft kommunizieren. Die Schwäche von Reformismus und Protest liegt in der anhaltenden Unfähigkeit von linker Politik und Wissenschaft, angemessene positive Selbstdeutungen der eigenen Lage aus sozialen Schichten der Gesellschaft aufzunehmen und als Deutungsangebote für Zugehörigkeiten zurückzuspiegeln. Oder irdischer formuliert: Die Not des Protestes spiegelt sich in der weitgehend kritiklosen Existenz der gebührenfinanzierten Werbesendung für das Spielcasino, der »Börse vor acht«, in der Aufmerksamkeit für den »ifo-index« und anderem mehr einerseits, und dem völligen Fehlen entsprechender Aufmerksamkeit und Indikatoren für »Arbeit«, sieht man von den Mühen des »Index Gute Arbeit« ab, andererseits.

4.) Die Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie verstellen den Zugang zu Fragen strategischer Kommunikation

Mit der linkspopulistischen Option ist, fürchte ich, indes das Spiel des politisch-medialen Komplexes mit »Stimmungen« gemeint. Die kleine Konjunktur des Adjektivs »popular« statt »populär« oder »populistisch« deutet auf eine entsprechende Anpassungsleistung hin. Die Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie verstellen allzu leicht den Zugang zu Fragen strategischer Kommunikation und alternativer Deutungen, die letztlich zu einem konfrontativen, konfliktfähigen Standpunkt werden können, durch den viele auf die Gesellschaft blicken und ihre eigene Lage interpretieren. Aufmerksamkeitsökonomie im Zeitalter der modernen, digitalisierten Massenkommunikation ist Echtzeit-Journalismus, also immer auch politische Intervention. Wo Medien als Gatekeeper zur Öffentlichkeit fungieren, wird der Gebrauch ihrer Spielregeln zu einer vermeintlichen politischen Überlebensfrage. Politik und Medien gehen eine Symbiose zum wechselseitigen Nutzen ein, die authentische Kommunikation zwischen Politik und Gesellschaft bleibt auf der Strecke. Die medial vermittelte Welt der Politik, die das politische Feld als ein von der Gesellschaft abgetrenntes exklusives Feld darstellt, hat an vielen Stellen den Kontakt zu Alltagswelten und Alltagsbewusstsein verloren. Politik existiert als Welt mit der eigener Sprache und eigenen Regeln, die man am besten den professionellen Experten überlässt. So soll es, zumindest aus Sicht der meisten selbsternannten Experten und Medienvertreter, zumindest sein. Auf diesen Mechanismen basiert wiederum das beliebte Politikerbashing. Doch es gibt auch eine andere Welt, die Welt der lokalen und regionalen Zeitungen und Kanäle, einer Welt von an Alltagswelten angeschmiegten Aufmerksamkeitsrhythmen, eine »soziale Nahwelt«, in der, so fand jüngst Allensbach heraus, das Ansehen der dort präsenten Politiker_innen umgekehrt proportional zu demjenigen der nur über Medien bekannten ist.

5.) Das politische Eigenleben der lokalen Parteiorganisation entwickeln.

Vor diesem Hintergrund ist die These von der »Priorität des Parteiaufbaus«, von »Stabilisierung« und »Substanzgewinn« nur zu verständlich, notwendig und richtig und die Frage, »wie eine linke (!) Linkspartei im 21. Jahrhundert aussehen soll«, zentral. Theoretisch kämen die Option »Wahlpartei«, »Medienpartei« und »Mitgliederpartei« als normative Orientierungen in Frage. Unter »Mitgliederpartei« in einem normativen Sinn wäre zu verstehen eine Partei, die primär über ihre Mitglieder mit der Gesellschaft kommuniziert. Mitglieder, die in verschiedenen sozialen Nahwelten (Betrieb, Familie, Kiez, Verein, ...) präsent sind und die vielfältigen sozialen Erfahrungen, Argumentationen, Sprachbilder in die Parteidiskussion tragen, wo sie zu möglichst gemeinsamen politischen Anliegen verdichtet und in das politische Feld mit seinen institutionellen Ebenen transportiert wird und wo es auch den umgekehrten Weg gibt: Mitglieder also als »gatekeeper« zur sozialen Wirklichkeit, dem Alltagswelten der Menschen, die die Partei repräsentieren will, die durch sie repräsentiert werden wollen; Zentralität der Partei vor Ort, ihres Eigenlebens, ihrer lokalen Politik. Zweifellos wird diese Norm immer wieder durch die große Politik, medial vermittelte Machtspielchen usw. hintertrieben. Gleichwohl zeigt sich in der Geschichte, dass Parteien, die sich eine Milieuverankerung erarbeitet haben, eine deutlich kritischere Distanz (und eben nicht: Abschottung mit Tendenzen zum Sektierertum) zur medialen Aufmerksamkeitsökonomie entwickeln konnten. Nun ist ein solcher Weg nicht zu haben ohne das eine »kritische Masse« an sozial verankerten Mitgliedern in der Partei vorhanden ist und in Parteiorganisationen, in der »Partei als sozialen Organismus« mittun will. Vielerorts ist das nicht der Fall. Eine entsprechende Bestandsaufnahme hätte herauszufinden, wo ein solches Parteimodell erfolgversprechend zu verfolgen wäre, und wo neue Formen der Organisation, mit Hilfe moderner Technologien, überhaupt erst wieder Parteileben hervorbringen müssten (»Parteimapping«). Denn es könnte dafür bereits zu spät sein. Man sagt zwar gerne, dass der Fisch vom Kopf her zu stinken beginnt, aber dennoch stände eine Veränderung der Parteitagskultur erst am Ende eines solchen Prozesses (es sei denn, die Parteielite veränderte ihr Auftreten freiwillig selbst). Viel wichtiger erscheint es mir, dass im Parteileben selbst Raum geschaffen und gelassen wird, damit die Mitglieder ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Unsicherheiten solidarisch miteinander diskutieren und politisch verdichten können. Die Entwicklung des politischen Eigenlebens der lokalen Parteiorganisation – selbstverständlich im Rahmen des Grundsatzprogramms – stände in Fragen des Parteiaufbaus vor zentralen Aktivierungs- und Kampagnenprojekten. Aber auch dieser Grundsatz wird, angesichts des heterogenen Zustandes der Parteiorganisationen und daraus entspringender Ansatzpunkte für Mitgliedergewinnung und Parteiaufbau nicht geradlinig durchzuhalten sein.

Horst Kahrs, geb. 1956, Sozialwissenschaftler, Mitarbeiter am Institut für Gesellschaftsanalyse der RLS mit den Themenschwerpunkten Wahl- und Klassenanalyse, Demokratie und Gleichheit. Der Kommentar gibt seine persönliche Auffassung wieder. www.horstkahrs.de

Parteien links der Sozialdemokratie …

Beitrag von Joachim Bischoff und Björn Radke, geschrieben am 28.03.2014

Die „Thesen zur Dialektik von Renitenz und Regierung“ der Ausgabe #18 wurden im Netz heiß diskutiert. Verschiedene Autor_innen haben begonnen die Thesen mal kritisch, mal zustimmend zu kommentieren. Die entstandenen Texte werden hier in loser Folge veröffentlicht. Den ersten Aufschlag machte Jasmini Siri mit ihrem Beitrag „Die (Un-)Möglichkeit kritischer Organisation“. Ihr folgte Mario Candeias mit „Linksparteien – multiple Persönlichkeiten oder lebendige Organismen?

Wenige Wochen vor dem 4. Parteitag der Linkspartei im Mai, in dessen Mittelpunkt Diskussionen über Modelle eines emanzipatorischen Grundeinkommens und die Wahl des Parteivorstandes stehen, bescheinigen die letzten Umfragen der LINKEN einen stabilen Bundeswert zwischen 9 und 10%, also eine leichte Steigerung gegenüber dem Ergebnis der Bundestagswahlen vom September 2013. Im Vorfeld des kommenden Parteitages steht die Diskussion nach der Strategie einer Partei links von der Sozialdemokratie im Raum, wie sie u.a. schon im November 2013 von den Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger[1] eröffnet und nun im »prager frühling« aufgenommen wurde.[2]

Die Redaktion des »prager frühling« geht von einer wenig optimistischen Entwicklungsperspektive aus: Bei der Debatte über die Funktion von Linksparteien sollten wir uns »nicht über das gerne ausgeblendete grundsätzliche Problem hinwegtäuschen, dass linke Reformpolitik, die eine Alternative zum Neoliberalismus auf den Weg bringt, vom Nationalstaat aus im gegenwärtigen Kapitalismus kaum möglich ist und im Übrigen seit Jahren regelmäßig und grandios scheitert.«

Zum regelmäßigen Scheitern komme hinzu: »Gesellschaftliches Protestpotential ist nicht immer schon links. Die Piraten und die AfD sind ein Ausdruck davon, dass sich Protest durchaus auch rechts und sozialliberal-mittig artikulieren kann. Eine zeitgemäße Variante der Protestpartei wird an der Aktualisierung einer explizit ›linkspopulistischen‹ Option arbeiten müssen. Sie unterscheidet sich von ›rechtspopulistischen‹ und ›mittig-populistischen‹ dadurch, dass sie grundsätzliche andere Thematisierungen und Forderungen wählt: Weder führt sie die aktuelle Krise des Euro-Kapitalismus auf schmarotzende Südeuropäer zurück und betont die nationale Abgrenzung (AfD) noch kritisiert sie einzig mangelnde Transparenz politischer Verfahrensweisen und Techniken (Piraten). Sie entwickelt ›populare‹ Thematisierungen, Forderungen und Kampagnen, die an gesellschaftlichen Realwidersprüchen und emanzipatorischen Standards orientiert sind.«

Der Versuch einer Verständigung über die aktuellen Aufgaben und Widersprüche einer Partei links von der Sozialdemokratie muss aus unserer Sicht die Ausgangslage genauer eingrenzen. Die Sozialdemokratie ist in Deutschland an der Regierung beteiligt. Noch krasser sehen die Redakteure des »prager frühling« den Fall Frankreich und die Alleinregierung der Sozialisten: »Es ist eine offene Frage, wie damit umzugehen ist, dass linke Reformpolitik nicht nur auf Widerstände von Lobby-Gruppen stoßen wird, sondern auch vor dem Tribunal von Rating-Agenturen steht (siehe auch hier die Entwicklung in Frankreich), die allein schon mit der Androhung einer Abstufung der Bonitätsbewertung für die BRD jede linke Reformpolitik zu Fall bringen können«. Welche Aufgaben hat eine Linkspartei, wenn sie linke Reformpolitik gegen parteiinterne Widerstände in den sozialdemokratisch/sozialistischen Regierungsparteien und gegen die bestehenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse auf den Weg bringen will?

Der sozialdemokratische Abwärtstrend

Nicht übersehen werden darf die Entwicklung der politischen Linken und der Sozialdemokratie bzw. Sozialistischen Parteien außerhalb Deutschlands, nicht nur in den Krisenregionen des Südens. Die SPD erzielte 2013 bei der Bundestagswahl ihr zweitschlechtestes Ergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik, die britische Labour-Party 2010 das zweitschlechteste Ergebnis der letzten 70 Jahre. Und selbst in Schweden, Musterland der Linken, kamen die Sozialisten zuletzt auf eines der schlechtesten Ergebnisse ihrer Parteigeschichte. Der Niedergang der europäischen Sozialdemokratie ist als Trend unbestreitbar. Von dem Verlust an gesellschaftlicher Akzeptanz des gewerkschaftlich-sozialdemokratischen Milieus erwächst keine Stärkung einer Linken jenseits der Trümmer der überlieferten Parteien der Arbeit.

In Frankreich profitieren von der rapide sinkenden Popularität der sozialistischen Regierung von Präsident Hollande die Konservativen (UMP) und der rechtsextreme Front National (FN). Die Sozialdemokraten sind bei den Kommunalwahlen landesweit mit 37,7% hinter die Konservativen (46,5%) zurückgefallen. Die Ergebnisse des Front National haben sich gegenüber den letzten Kommunalwahlen 2008 verfünffacht. Die linke Linke ist in Frankreich ebenso zerstritten wie in Italien. Die Sozialisten der Parti de Gauche um Jean-Luc Mélenchon und die Kommunisten (PCF) erzielten in Amiens, wo um die Schließung der Goodyear-Reifenwerke erbitterte Arbeitskämpfe geführt wurden, enttäuschende Ergebnisse (UMP 46%, PS/PCF 24,5%, FN 15%, Front de Gauche 9%).

Allerdings gibt es auch eine Ausnahme: In Griechenland führt das Linksbündnis SYRIZA die Umfragen als stärkste Partei an. In einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Public Issue vom Januar 2014 käme das Bündnis auf 31,5% der Wählerstimmen. Es folgt die konservative ND mit 28%. Dritte Partei ist nach wie vor die faschistische Chryssi Avgi (10%). Die sozialdemokratische PASOK ist auf 6,5% abgestürzt und gleichauf mit der kommunistischen KKE. Bei der Frage, wer die beste Arbeit als Oppositionspartei leistet, liegt SYRIZA mit 27% an der Spitze.

Es gibt viele länderspezifische Gründe für den Abwärtstrend der Sozialdemokratie, aber in einem Punkt hat sich die europäische Sozialdemokratie den Vorstellungen der deutschen Brüder und Schwestern angeschlossen: Das angestrebte nachhaltige Wohlstandsmodell entsteht in der Fortführung von Deregulierung und Flexibilisierung. Es gelte, die durch die Staatsinterventionen (Umschuldung, Bankenrettung) gewonnene Zeit zu nutzen und die angestiegene öffentliche Schuldenlast zurückzuführen, auch um den Preis, dass sich die soziale Spaltung in der Gesellschaft vertieft.

Der Abwärtstrend der Sozialdemokratie hat sich seit über einem Jahrzehnt in kleineren Schwankungen kontinuierlich fortgesetzt. Zum einen sind Sozialdemokraten sowohl in der Regierung als auch in der Opposition kräftig abgestraft worden, und das, obwohl der neoliberale Glaube an das Laisser-faire als Richtlinie für die Organisation der Märkte zusammengebrochen war. Zum anderen – und das ist noch wichtiger: Der Niedergang kommt nicht aus heiterem Himmel. Seit Jahren gelingt es keiner sozialdemokratischen Partei mehr, überzeugend Wahlen zu gewinnen. Dass Europas Mitte-Links-Parteien tief in der Krise stecken, ist also nicht zu leugnen. Jedoch wird über die Gründe, die Reichweite und die Ernsthaftigkeit dieser ideologischen Krise viel zu wenig debattiert. Fest steht jedoch: Das linke Spektrum jenseits der Sozialdemokratie profitiert nicht vom Niedergang der großen Reformpartei.

Modell Deutschland?

Deutschland hat die Große Krise seit 2007 gerade im Unterschied zu den andern westeuropäischen Metropolen Frankreich und Italien und erst recht zu den südeuropäischen Ländern ohne größere ökonomische Verwerfungen oder gar Einbrüche bewältigt. Das Land wirkt wie eine Insel in einem Meer von Unsicherheit und ökonomischen Verwerfungen. Deutschland war mit der Agenda-Politik Vorreiter auf dem Weg zur »Stabilitätsinsel« und hat in kurzer Zeit seinen Arbeitsmarkt und das Normalarbeitsverhältnis dereguliert, seinen Niedriglohnsektor expandiert, fiskalische Austerität festgeschrieben und damit seine Wettbewerbsfähigkeit gegenüber seinen europäischen Nachbarn und Handelspartnern gestärkt.

Es ist politisch ehrlich, wenn die Sozialdemokratie ihr aktuelles Regierungsprojekt in die zeithistorische Verlängerung der Agenda 2010 einordnet. Durch die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die Neujustierung der sozialen Sicherungssysteme (vor allem Alterssicherung und Gesundheit) sowie die Entfesselung des Kapitalmarktes und des Finanzsektors konnte die Deutschland AG mit ihren Regularien der organisierten Lohnarbeit und korporatistisch geprägten Machtverhältnissen für den Turbokapitalismus geöffnet werden. Es ist damit auch dokumentiert, dass das sozialdemokratische »Flüstern« von einer erneuten, zweiten Bändigung des entfesselten Kapitalismus bloßes Sonntagsgerede ist. Eine wirksame arbeits- und sozialpolitische Korrektur der Agenda 2010 war nicht das Projekt der oppositionellen Sozialdemokratie.

Nicht etwa die Einkommens- und Vermögensunterschiede sowie die Finanzialisierung der Akkumulation werden für die Widersprüche des Raubtierkapitalismus verantwortlich gemacht, sondern die Fehlentwicklung der öffentlichen Finanzen. Fakt ist: Selbst bei optimaler Umsetzung des Regierungsprogramms der Großen Koalition wird für die kleinen Leute wenig rüberkommen.

Viele der »kleinen Leute« haben sich bei den zurückliegenden Wahlen von der SPD abgewandt, von der Politik überhaupt. Die »Verlierer« fühlen sich nicht mehr vertreten – und sie werden auch nicht vertreten. 17,6 Millionen Deutsche schlugen ihr Wahlrecht aus. Diese neue soziale Spaltung der Demokratie belegt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung: Untersucht wird zum einen das Wahlverhalten in 28 deutschen Großstädten und zum anderen eine genaue Betrachtung der Abstimmung in 640 Stimmbezirken, die repräsentativ sind und auch für die Prognosen am Wahltag genutzt wurden. Es wurden faktisch die Nichtwähler genauer betrachtet. Ergebnis: Je prekärer die soziale Situation in einem Stadtviertel, desto niedriger die Wahlbeteiligung. Und je niedriger der Status, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass ein Wähler zu Hause bleibt. Die Autoren der Studie sprechen von einer »sozial prekären« Wahl.

Gleichwohl läuft das politische Geschäft oberflächlich wie gehabt. Mit reichlich Klientelismus, etlichen Haushaltstricks, Umverteilung und Symbolaktionen ist eine Regierungsmehrheit zusammengebastelt worden, die selbst im eigenen Lager keinen Enthusiasmus, keine Aufbruchstimmung zu erzeugen vermag. Dabei steht nicht nur die Bewältigung einer ökonomischen Jahrhundertkrise an. Denn über die Parteien selbst ist ein politischer Tsunami hinweggegangen: Die neue Bundesregierung repräsentiert nur noch ein Drittel der Wahlbevölkerung. Die beiden großen Parteien, die die politische Nachkriegsgeschichte des 20. Jahrhunderts in Deutschland bestimmt haben, bringen es heute nicht einmal annäherungsweise zu einer einfachen Mehrheit.

Ein Blick zurück nach vorn …

Allerdings ist die Zurückdrängung oder gar Überwindung des neoliberal umgebauten Kapitalismus ohne ein breites gesellschaftlich-politisches Bündnis – unter Beteiligung der europäischen Sozialdemokratie – nicht zu haben. Aber tief im kollektiven Gedächtnis sitzt auch die Erinnerung an das europaweite Scheitern vermeintlich »dritter Wege«. Blair, Schröder, Zapatero, Papandreou, Socrates, aber auch Jospin, D'Alema und Bersani akzeptierten und beförderten den Übergang zum finanzgetriebenen Kapitalismus. Hat die Sozialdemokratie eingesehen, dass sie eine Mitverantwortung an der Entfesselung des Kapitalismus trägt? Die Zweifel an einer selbstkritischen Korrektur der europäischen Sozialdemokratie sitzen tief. Denn: 1973 begann die Welt der alten Sozialdemokratie unterzugehen. Es versiegte der Nachkriegsboom mit seinen historisch einzigartigen wirtschaftlichen Wachstumsraten. Und diese Tendenz hält bis heute an.

Die Differenz liegt mithin auf dem Terrain der Gestaltung von Kapitalakkumulation und der gesellschaftlichen Ökonomie. Die herkömmliche Sozialdemokratie stemmt sich gegen Maßnahmen der »aktiven Wohlfahrt«, weil sie durch die Absenkung eine weitere Destabilisierung der Kapitalakkumulation und keine Freisetzung von Kreativität und Initiative erwarten. Die Leistungen des Sozialsektors haben in der Tat einen komplementären Charakter: Sie sind zunächst vom kapitalistischen Reproduktionssektor abhängig, weil sie durch Abzüge vom Arbeitseinkommen und Beiträge seitens der Unternehmen finanziert werden; sie tragen andererseits zur konjunkturellen Stabilität und Verstetigung der Kapitalakkumulation bei.

Das Scheitern der »Neuen Mitte«

Auf die spannende Frage, wie denn die Akkumulations- und Wachstumsschwäche des entwickelten Kapitalismus überwunden werden kann, verkünden die Vertreter der alten Sozialdemokratie die bekannte Botschaft einer neokeynesiansichen Regulierung (Ausweitung der Masseneinkommen, öffentliche Investitionen, Ausbau human-kultureller Dienstleistungen). Unbeantwortet bleibt, wie eine solche Konzeption in der Sozialdemokratie und letztlich auch in der aktiven Wahlbevölkerung mehrheitsfähig werden kann.

Eine Einbeziehung der Kapital- und Vermögenseinkommen wird von den Modernisierern der Sozialdemokratie als politisch nicht durchsetzbar und ökonomisch kontraproduktiv abgelehnt. Gleichermaßen lehnen sie eine Demokratisierung der Unternehmensverfassungen, wie den Ausbau eines Sektors zwischen Kapitalverwertung und Staat (Dritter Sektor, Nonprofit- Organisationen), ab. Die Logik jedoch, durch Reduktion von Sozialleistungen und Sozialabgaben eine Revitalisierung der Kapitalakkumulation erzwingen zu wollen, muss scheitern.

Die Politiker der »neuen Mitte« haben damals akzeptiert, dass aktive Wohlfahrt nicht nur mehr soziale Ungleichheit bedeutet, sondern – entgegen der eigenen Programmatik – die Vertiefung sozialer Spaltung und Ausweitung von Ausgrenzung hingenommen. Ein Durchbruch zu höheren Akkumulationsraten war mit der Einschränkung des sozialen Ausgleichs gleichfalls nicht verbunden. Sicherlich gab es auch weiterhin soziale Ausgleichsmaßnahmen, aber die Auffächerung der Gesellschaft war programmiert. Innerhalb weniger Jahrzehnte ist die soziale Zerklüftung der europäischen Gesellschaften bei anhaltender Wachstumsschwäche Realität geworden. Heute stellt sich also die Frage: Kann diese Entwicklung unter Beteiligung der Sozialdemokratie rückgängig gemacht werden?

Linke Alternative stärken – aber wie?

Die vereinigte Linke war 2005 mit dem den Anspruch angetreten, den BürgerInnen jenseits des neoliberalen Einheitsbreis eine sozial-ökologische und friedenspolitische Alternative anzubieten. Von diesen Ansprüchen, mit der DIE LINKE sich in den nachfolgenden Jahren in sieben westdeutsche Parlamente hinein gekämpft hat, ist wenig übrig geblieben. DIE LINKE ist dabei, parlamentarisch die Erweiterung in die alten Bundesländer zu verlieren. Dieser Abwärtstrend setzte mit den Bundestagswahlen 2009 ein. Auch die Mitgliederverluste der Vergangenheit sprechen eine eindeutige Sprache.

Wie kann DIE LINKE ihre systemkritische Sicht auf die anhaltende Große Krise des Kapitalismus in einen größeren politischen Einfluss umsetzen? Die erste Voraussetzung dafür ist, dass die anstehenden Herausforderungen sowohl in der Gesellschaft wie im Bundestag aufgegriffen und dafür – auch in Kontroversen – Antworten entwickelt werden.

Dabei geht es u.a. um Alternativen zum europäischen Fiskalpakt, der den Staaten Europas unter Führung der schwarz-gelben Bundesregierung die »griechische Rosskur« verschreibt, und eine massive Verschärfung der gesellschaftlichen Spaltung (prekäre Beschäftigung, Armut und Einkommenspolarisierung) billigend in Kauf nimmt Wir brauchen ein breites Bündnis gesellschaftlicher Kräfte für einen Politikwechsel. SPD und Grüne fordern für ihre Zustimmung Wachstumsprogramme und die Einführung einer Finanztransaktionssteuer. Beide betonen, mit einem Fiskalpakt allein komme Europa nicht aus der Krise. Aber die konkreten Schritte bleiben offen und das Ziel einer solchen »Ergänzung« unbestimmt. Hier hat die politische Linke jenseits der europäischen Sozialdemokratie ein klares Aktionsfeld, das sie allerdings mit mehr als bloßem »Post-Wachstum« oder »No-Growth« bespielen müsste.

Die Formierung der Linkspartei erfolgte vor dem Hintergrund einer beispiellosen Neujustierung aller sozialen Sicherungssysteme und einer durch die rot-grüne Regierungspolitik tief verunsicherten sozialdemokratischen Partei. Dies ist heute anders. Die Sozialdemokratie hat in der Opposition politisches Terrain und damit auch Teile der früher kritischen BürgerInnen zurückerobert. Mindestlohn und Kampf gegen Altersarmut sind keine allein bei der Linkspartei angebundenen Mobilisierungsthemen mehr. Mit der Abschaffung der Wehrpflicht, dem angekündigten Abzug von NATO und Bundeswehr aus Afghanistan sowie dem Ausstieg aus der Kernenergie sind auch in anderen lange Zeit strittigen Bereichen erhebliche politische Änderungen eingeleitet worden.

Veränderte Rahmenbedingungen aufgreifen

Für DIE LINKE kann das nur heißen: Wir müssen diese Veränderungen aufgreifen. Da der Sozialdemokratie europaweit strategische Konzepte zu einem Ausweg aus der Großen Krise fehlen, sollte die Linkspartei dieses Strukturdefizit in den Mittelpunkt der Politik rücken. Positiv geht es um ein Europa, das Prekarisierung, Armut und soziale Spaltungen überwindet, neue gesellschaftliche Entwicklungshorizonte eröffnet und neue politische Handlungsfelder erschließt.

Die Alternative zum finanzmarktgetriebenen Kapitalismus ist also nicht einfach nur die Verstaatlichung etwa des Banken- oder Finanzsystems, sondern unterstellt einen weitreichenden Prozess gesellschaftlicher Reformen. Die Linke muss dieses thematisieren und zugleich Vorschläge zur Lösung der angesprochenen Probleme und zur Reorganisation sozialer Sicherheit sowie eines Übergangs zur Überflussgesellschaft entwickeln. Dies kann dazu beitragen, die Grünen und die Sozialdemokratie zu stellen, der Forderung nach einem Politikwechsel eine Kontur zu geben und den BürgerInnen die Notwendigkeit eines Korrektivs von Seiten der Partei DIE LINKE plausibel zu machen.

»Viele Wähler immunisieren sich gegen die Krisengefahr, indem sie sich mehr und mehr in ihren Alltag zurückziehen, ihre privaten Interessen pflegen und sich von der undurchschaubar gewordenen Welt der Politik abkapseln«, so die Diagnose der Studie des rheingold instituts kurz vor der Bundestagswahl 2013. Dies impliziert im Übrigen auch: Sie erwarten von Parteien und ihren Abgeordneten eine professionelle Herangehensweise und Arbeit, weil neben dem stressigen Alltag auch die Zivilgesellschaft einen hohen zeitlichen Tribut von vielen BürgerInnen abfordert, so dass für ein politisches Engagement höhere Hürden aufzulösen sind.

Um einen Politikwechsel in der Gegenwart und für die Zukunft glaubwürdig vertreten zu können, muss eine moderne sozialistische Partei – zumal in Deutschland – die Niederlagen im 20. Jahrhundert und insbesondere den gescheiterten Sozialismus-Versuch als politisches Erbe annehmen und im kollektiven Gedächtnis wach halten. Die Parteimitglieder müssen die zentralen Konstruktionsfehler des staatssozialistischen Entwicklungsweges im 20. Jahrhundert verstehen und deuten können, um eine seriöse und verantwortliche Diskussion um einen Sozialismus im 21. Jahrhundert führen zu können. Ohne eine derart selbstkritische Haltung wäre ein Plädoyer für eine grundlegende Gesellschaftsveränderung nicht überzeugend und das Ausblenden der »kommunistischen Hypothek« würde den aktuellen Kampf um andere Hegemoniekonstellationen immer wieder gefährden oder gar konterkarieren.

Heute führt das europäische Projekt einer krisengeschüttelten und tief sozial gespaltenen Währungsunion – wenn sie nicht durch das Projekt einer demokratisch legitimierten Wirtschaftsregierung, geschweige denn das einer Sozialunion ergänzt wird – zu einer fortschreitenden Zerstörung und in Südeuropa direkt zur Aushöhlung von nationalstaatlich schon einmal erreichten Befestigungen demokratischer und sozialer Bürgerrechte. Soziale Sicherheit und Teilhabe aller sind Voraussetzungen ihrer aktiven politischen Beteiligung. Sie werden faktisch mehr und mehr ausgesetzt. Schon einmal erkämpfte Formen sozialen Ausgleichs werden beiseite geräumt. Eine tiefe Krise der sozialen Bürgerschaft und eine Schwächung der parlamentarischen Demokratie sind die Folge. Aus dieser Einschätzung ergeben sich zwei zentrale Probleme auch für die deutsche LINKE.

Erstens: Ökonomisch produziert der Finanzmarktkapitalismus – erst recht bei seiner Krisenbewältigung durch Austerität – systembedingt Prekarität und damit vielfältige Formen sozialer Exklusion, die nur noch wenig mit früheren Formen konjunkturell bedingter Arbeitslosigkeit oder »industrieller Reservearmee« zu tun haben. Dies wiederum belastet dauerhaft durch Abgaben und Umverteilung die ebenfalls unter Druck geratenen Einkommens- und Vermögenspositionen der gesellschaftlichen »Mitte«, um deren Stabilisierung als bevorzugtes Wählerklientel sich derzeit sowohl SPD wie Grüne vorrangig bemühen. Dies wirft ein krasses Licht auf das zweite Problem.

Zweitens: Die ökonomisch bedingte Exklusion produziert eine Erosion politischer Willensbildung und Repräsentation und führt trotz gelegentlicher Schwankungen zu einem hohen und sozial verfestigten Nichtwählerniveau gerade bei Menschen in prekären Lebensverhältnissen, vornehmlich in sozial gespaltenen Wohngebieten. Die Wahlbeteiligung im September 2013 betrug 70%. Bei den prekären Bevölkerungsschichten – hohe Arbeitslosigkeit, geringes Einkommen, hoher Anteil von Sozialtransfers, Bildungsferne u.a. – war sie extrem niedrig: »Hinter der zunehmenden Ungleichheit der Wahlbeteiligung verbirgt sich eine soziale Spaltung der Wählerschaft. Deutschland ist längst zu einer sozial gespaltenen Demokratie der oberen zwei Drittel unserer Gesellschaft geworden.« (Armin Schäfer/Robert Vehrkamp/Jérémie Felix Gagné: Prekäre Wahlen. Milieus und soziale Selektivität der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013, Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2013)

Beide Aspekte erhielten in dem Strategiepapier der beiden LINKEN-Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger »Verankern, verbreiten, verbinden« vom November 2013 nicht die unserer Auffassung nach erforderliche Aufmerksamkeit. Unter Berücksichtigung der genannten Probleme ist ihnen aber zuzustimmen, wenn sie schreiben: »Die Verweigerung von SPD und Grünen gegen einen tatsächlichen Politikwechsel war auch möglich, weil es keinen gesellschaftlichen Druck gab, der eine Zusammenarbeit mit der LINKEN hätte erzwingen können. Aus dieser Konstellation ergeben sich für die nächsten Jahre verschiedene Aufgaben, um die strategische Sackgasse aufzulösen und die Möglichkeiten für linke, gegenhegemoniale Politik zu verbessern: vor allem die Formierung eines gesellschaftlichen gegenhegemonialen Projekts oder Blocks; die Notwendigkeit, an einer Plattform zu arbeiten, die Druck für einen Politikwechsel entfalten kann, so dass parlamentarische Spielräume genutzt werden (müssen).«

Oder um die Schlussbemerkung der Redaktion des »prager frühling« aufzugreifen: Wenn schon (konkrete) Utopie, dann muss sie aber auch genügend konkret werden, um die benannten Probleme bei der Ausarbeitung einer gesellschaftlichen Alternative und der (Wieder)Gewinnung der Ausgegrenzten anzugehen.

[1] Vgl. dazu:http://www.die-linke.de/partei/parteientwicklung/projekt-parteientwicklung/texte/verankern-verbreiten-verbinden/

[2] https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1121.protest-ist-kein-taschenmesser.html

Finger weg!

geschrieben am 25.03.2014
Gefährliche Heteropropaganda

Vor knapp zwei Monaten hat der evangelikale Lehrer Gabriele Stängle gegen die Akzeptanz sexueller Vielfalt in baden-württembergischen Lehrplänen mehr als 190.000 Unterschriften eingesammelt. Von Umerziehung war die Rede, von ideologischen Kampfbegriffen und Theoriekonstrukten. LGBT-Gruppen propagieren, so Stängle „verschiedene Sexualpraktiken […] als neue Normalität“. Das Abendland war in größter Gefahr. (Vgl. Kontroverse um den Bildungsplan 2015)

Wie verunsichert die Christenheit wirklich ist, erkennt man am katholischen Gegenschlag.

Mit einem unsichtbaren Ausrufezeichen hinter jedem Wort poltert es vom Deckblatt der „Neuen Caritas“: Sexualität muss gelernt werden! Und weil man Heterosexualität nicht früh genug lernen kann, sehen wir zwei vielleicht vierjährige Vorschulkinder. Der Junge geschlechtlich markiert durch Hut, Hemd, Hose, Kurzhaarschnitt übernimmt rollengerecht den aktiven Part. Mit beiden Händen packt er das passive Mädchen, markiert durch Kleidchen, Haarreif, langes Haar, mit Zangengriff am Kopf und drückt seinen Mund gegen den ihren. Das Kleid des Mädchens in der Farbe der Unschuld wird durch eine ebenfalls weiße Hochzeitsrose noch betont.

Kein Herz hat, wer sich von dieser gewalttätigen Heteropropaganda nicht mit Schaudern abwendet. Finger weg von unseren Kindern!, stammeln fassungslos die perversen Säue der prager frühling Redaktion.

Verankern, verbreitern, verbinden

Beitrag von Von Jörg Schindler, geschrieben am 23.03.2014

Schlagworte:

linke

Katja Kipping redet auf dem Parteitag in Hamburg

Die mediale Bewertung des Hamburger Parteitags lässt die sogenannten Reformer als Punktsieger vom Parteitag der Partei DIE LINKE gehen, der Mitte Februar 2014 stattfand. Beleg für ihre These: Die Formulierung, dass die EU eine »neoliberale, militärische und weithin undemokratische Macht« sei, findet sich im Wahlprogramm nicht wieder. Die EU-Kritik wurde entschärft, und auch bei der Liste hätten sich die KandidatInnen mit proeuropäischen Positionen durchgesetzt. Nun soll man aber nicht alles glauben, was in der Zeitung steht.

Der Europaparteitag in Hamburg war wenig spektakulär - vor allem im Vergleich zu den Parteitagen in Essen 2009 und Göttingen 2012. Die teilweise bis ins Denunziatorische geratene Form innerparteilicher Auseinandersetzung in der an die Gründung der LINKEN 2007 anschließenden Zeit war allerdings nicht Ursache, sondern Ausdruck einer tieferen politischen Krise der Partei selbst: ämlich, wie man aus dem verbindenden Anti-Neoliberalismus ein produktives, nach vorne weisendes politisches Projekt vorantreibt. Die »neue soziale Idee« der LINKEN blieb ein uneingelöstes Versprechen.

Während die einen vor allem in der Abgrenzung zur SPD das Glück der LINKEN suchten, sinnierte der andere Teil über Bündnisoptionen, die trotz der partiellen Preisgabe der neoliberalen Glaubensbekenntnisse durch die SPD-Führung keine programmatische Basis hatte. Beide Optionen gerieten - auch vor dem Hintergrund einer Hegemoniekrise des Neoliberalismus infolge der Krise - an ihre Grenzen.

Die Politik des »Kurshaltens« innerhalb der LINKEN trotz veränderter politischer Großwetterlage und strategischer Umorientierungen von SPD und Grünen kulminierte schließlich auf dem Parteitag 2012 in Göttingen in der Kampfkandidatur um den Parteivorsitz und in den Reden von Gysi und Lafontaine. In Göttingen setzten sich aber schließlich nicht die exponierten VertreterInnen des einen oder des anderen Flügels durch, sondern mit Katja Kipping und Bernd Riexinger als Parteivorsitzende und mit Jan van Aken, Caren Lay und Axel Troost als stellvertretende Vorsitzende Personen, die nicht als jeweilige FlügelexponentInnen galten, sondern den Anspruch erhoben, mit einem neuen Stil, aber auch der Suche nach modernisierten Politikinhalten die Partei aus der Krise zu führen. Nicht ohne Erfolg: Unter dem Team Kipping/Riexinger gelang der Partei, sich selbst am Schopf aus der Krise zu ziehen, sich zu stabilisieren und zur Konstruktivität zurückzufinden - innerparteilich wie in der öffentlichen Wahrnehmung. Und nicht zuletzt: Es gelang, 2013 mit einem achtbaren Ergebnis erneut in den Bundestag einzuziehen.

Falsche Rechts-Links-Dichotomie

Warum diese lange Vorgeschichte zum Hamburger Parteitag? Es gibt zwei - gleichermaßen überzeichnete und damit falsche - Erzählungen über die Partei im allgemeinen und über die Europapolitik der LINKEN im besonderen. Im allgemeinen werden die politischen Flügelauseinandersetzungen mit Begriffen verhandelt, die sich zur Beschreibung der Flügelkämpfe der Grünen in den 1980er Jahren medial durchgesetzt haben: »Realos« und »Fundis«. Aber auch hier gilt, man soll nicht immer alles glauben, was in der Zeitung steht. Unbestreitbar ist zwar, dass es in den Flügeln eine unterschiedliche Bereitschaft zum Regieren gibt. Insbesondere ist strittig, welche Kompromisse man dafür einzugehen bereit ist. Aber im Gegensatz zu den Grünen der 1980er ist die Regierungsbeteiligung in der LINKEN keine prinzipielle Frage.

Die Flügelbildung wird überdies durch einen weiteren Konflikt überlagert, der sich einer klassischen Links-Rechts-Einordnung entzieht. Es stehen sich auch traditionell orthodox-marxistische und gewerkschaftlich orientierte Ansätze einerseits und undogmatisch-radikaldemokratische Ansätze andererseits gegenüber. Der Gegensatz zwischen Interessen- und Volkspartei, wie ihn Gregor Gysi in Göttingen postuliert hat, spielt höchstens insofern eine Rolle, dass Landesverbände mit Wahlergebnissen von 20 bis 30 Prozent natürlich eine andere gesellschaftliche Verankerung haben als solche mit 3 bis 8 Prozent. Vor diesem Hintergrund wird vielleicht deutlicher, warum die Debatte um das Europawahlprogramm der LINKEN nicht einfach einer Rechts-Links-Dichotomie folgt.

Der Kern der politischen Auseinandersetzung innerhalb der Partei drehte sich bis zum Parteitag um die Frage, welche Möglichkeiten die Partei sieht, auf europäischer, supranationaler Ebene Einfluss zu nehmen. Während die traditionelleren Strömungen Antikapitalistische Linke (AKL) und Sozialistische Linke (SL) durchaus zurecht darauf verwiesen, dass die vermachteten und für Lobbyismus stark anfälligen Entscheidungsstrukturen der EU für eine progressive Reformpolitik kaum handhabbar sind, verwiesen wiederum die »Reformer« des Forum Demokratischer Sozialismus (FDS) dezidiert darauf, dass gerade diese Strukturen durch Entscheidungen der nationalen Regierungen geprägt sind und umgekehrt auch über die EU-Ebene durchaus progressive Standards, etwa im Grundrechtsbereich, Hebel für linke Politik sein können.

Demzufolge konkretisierte sich die Kontroverse innerhalb der Partei daran, ob - gerade in Zeiten der Krise der EU - Kompetenzen an europäische Institutionen zu verlagern sein sollen. Das gilt insbesondere für den Bereich der Sozialgesetzgebung, der Arbeitsmarktregulierung, aber auch in Währungsfragen. Dass sich mit Sahra Wagenknecht eine exponierte Vertreterin der »Fundis« gegen jegliche Kompetenzverlagerung wandte und zugleich die Rückkehr der EU-Länder zu einzelnen nationalen Währungen beständig in der Diskussion hielt, während dies VertreterInnen des »Reformerlagers« vehement ablehnen und auf die positiven Wirkungen von EU-Fördermitteln für bestimmte soziale oder strukturinvestive Projekte verweisen, ist praktischer Ausdruck dieser Kontroverse.

Realos gegen Fundis?

In der Debatte im Vorfeld des Parteitags in Hamburg fand die Kontroverse in der Form ihren Ausdruck, dass Diether Dehm und Wolfgang Gehrcke einen eigenen konkurrierenden Entwurf für ein Europawahlprogramm vorgelegt hatten, der sich - anders als der Entwurf des Wahlprogramms der Parteivorsitzenden - dezidiert gegen Kompetenzverlagerungen an die EU aussprach und zudem positiv Bezug nahm auf die Verteidigung »unseres guten Grundgesetzes« gegen »die EU-Bürokraten« und gegen einen »Superstaat« EU.

Auch wenn die eine oder andere argumentative Herleitung aus dem Lager der »Reformer« im Zuge des Parteitags doch sehr stark an eine Art Bekenntniszwang zur Staatsverantwortung und Wertedebatte erinnerte, bleibt richtig: Der Kampf für demokratische und soziale Rechte lässt sich heute nicht mehr allein auf der Ebene des Nationalstaates führen. Die relative Erfolglosigkeit vieler Generalstreiks in Griechenland und anderen südeuropäischen Ländern, die Art der Leichtigkeit, wie der drohende Finanzkollaps in jedem einzelnen Defizitstaat die Regierungschefs aus ihren Ämtern zu kegeln vermag, ist ein Zeichen dafür, dass der Rückzug in die nationale Kompetenz keine Perspektive hat.

Die Verflechtung der Volkswirtschaften der EU-Länder hat mittlerweile eine Tiefe erreicht, die ein Herausbrechen einzelner Staaten als kaum denkbar erscheinen lässt. Mehr noch: Es ist schon kaum denkbar, dass einzelne Staaten innerhalb der EU eine grundsätzlich andere Politik verfolgen können als jene, die EU-hegemonial ist. Wie soll etwa eine Politik der Umverteilung und der verbindlichen Mindeststandards in der Arbeitswelt als »Insellösung« innerhalb des Meeres konkurrierender nationaler EU-Wettbewerbsstaaten mit Lohn-, Sozial- und Steuerdumping durchsetzbar sein?

EU als Handlungsfeld wurde akzeptiert

Der Europaparteitag in Hamburg hat demgegenüber die Linie der beiden Parteivorsitzenden Kipping und Riexinger gestärkt. So fand der Wahlprogrammentwurf der beiden Vorsitzenden in Hamburg eine deutliche Mehrheit. Dass die Präambel letztlich »proeuropäischer« ausfiel als von den AlternativantragsstellerInnen gewünscht, war schließlich auch das Ergebnis des gescheiterten Versuchs, die Partei auf eine Politik festzulegen, die eine supranationale Reregulierung des Kapitalismus mittels der EU ablehnt. Aber das ist keine Rechtsverschiebung innerhalb der Partei DIE LINKE, sondern ein Bekenntnis für eine supranationale Re-Regulierung des Kapitalismus, statt auf diese Option zu verzichten.

Darüber hinaus beschloss der Parteitag explizit, sich für einen neuen EU-Verfassungsprozess einzusetzen, der den von den Linken abgelehnten und letztendlich in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten EU-Verfassungsentwurf mit sozialen und demokratischen Vorzeichen ersetzen soll. Das zeigt: DIE LINKE hat die EU und ihre Institutionen, aber auch die in ihr geführten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen als Handlungsfeld erkannt und akzeptiert. Weder politische Auffassungen, die einer Auflösung der EU oder aber die Rückstufung ihres Kompetenzrahmens das Wort redeten, hatten auf dem Parteitag eine Chance. Zugleich hat der Parteitag diese Linie auch personalpolitisch unterfüttert.

Gab es im Vorfeld des Parteitags noch heftigen Streit um verschiedene Listen von KandidatInnen für die ersten acht aussichtsreichen Listenplätze, so hat sich der Parteitag hier ebenfalls für Kontinuität und Konstruktivität entschieden: Mit Gabi Zimmer, Thomas, Händel, Cornelia Ernst, Helmut Scholz, Sabine Lösing und Martina Michels befinden sich immerhin sechs gegenwärtige EU-Parlamentsabgeordnete auf den vorderen Plätzen. Mit Fabio de Masi und Martin Schirdewan wiederum errangen auf Platz 6 und 8 zwei junge Kandidaten unter 40 Jahren aussichtsreiche Plätze. Auch hierbei tarierte der Parteitag offenbar sorgfältig aus: So gewann Fabio de Masi als Vertreter des »Fundiflügels« die Kampfkandidatur gegen den exponierten Kandidaten des »Reformerflügels« Dominic Heilig. Dies gelang ihm aber nur deshalb, weil zuvor der »Fundi« Tobias Pflüger in Kampfabstimmungen unterlag und nicht mehr antrat.

Mit der Wahl von Martin Schirdewan wiederum setzte sich ein eher moderater »Reformer« klar durch, der offenbar thematisch mit seinem Schwerpunkt »sozial-ökologischer Umbau« wie auch persönlich Akzeptanz genoss. Das befürchtete »Durchziehen« eines Lagers blieb damit aus; die Delegierten haben offenbar in ihrer Mehrheit gelernt, dass der 51-Prozent-Sieg im Beschlusskrieg in der Realität bereits die Vorwegnahme der gesellschaftlichen Niederlage ist. Dies will DIE LINKE offenbar zu den Europawahlen vermeiden. »Verankern, verbreitern, verbinden« heißt nicht zufällig die Strategie von Kipping und Riexinger zur Entwicklung der Partei. Auch hier hat der Parteitag bereits etwas - positiv - vorweggenommen.

Jörg Schindler ist Redakteur des Magazins prager frühling und stellvertretender Landesvorsitzender der LINKEN Sachsen-Anhalt.

Erschienen in: ak - analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 592 vom 18.3.2014

Linksparteien – multiple Persönlichkeiten oder lebendige Organismen?

Beitrag von Mario Candeias, geschrieben am 14.03.2014

Die „Thesen zur Dialektik von Renitenz und Regierung“ der Ausgabe #18 wurden im Netz heiß diskutiert. Verschiedene Autor_innen haben begonnen die Thesen mal kritisch, mal zustimmend zu kommentieren. Die entstandenen Texte werden hier in loser Folge veröffentlicht. Den ersten Aufschlag machte Jasmini Siri mit ihrem Beitrag „Die (Un-)Möglichkeit kritischer Organisation“.

Multiple Persöhnlichkeit?

Kommentare schreibt man nur zu Texten, die anregend sind, um dann in eine produktive kritische Debatte einzutreten. Daher nur einige wenige Punkte zu den Gemeinsamkeiten: Sinnvoll ist der Ansatz einer „Kritik der politischen Theologie“, die falsche Gegensätze und unproduktive Frontstellungen zu vermeiden sucht. Es gibt eben weder das eine (richtige) Parteienmodell, noch eine klare Hierarchie der Funktionen einer linken Partei. Grob wird unterschieden zwischen Funktions- (gar Regierungspartei) und Protestpartei. Diese Funktionen werden als widersprüchlich, aber eben nicht konkurrierend gedacht, sie bedingen sich vielmehr wechselseitig. Nur wie? Die Funktionen bleiben seltsam unverbunden. So wirkt die Partei als multiple Persönlichkeit, nicht als lebendiger Organismus.

Und: es scheint nur um die Partei-Partei zu gehen, ohne gesellschaftliche Partei. Ein restringierendes staatliches Institutionensystem, die veröffentlichte Meinung oder die „(Nicht)Gegenwart“ von Protest scheinen nur äußerliche Bedingungen. Die Partei ist damit nicht Teil, sondern eher Spielball gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Überhaupt bleiben die Funktionen der Partei unterkomplex und werden wenig lebendig. Dabei sollte klar sein, dass kein Teil der pluralen Linken, keine Partei, keine Gewerkschaft, keine linke Avantgarde, mehr eine Führungsrolle beanspruchen kann. Doch der Anspruch zwischen „Renitenz“ und „Regierung“ (in der kaum etwas geht) bleibt zu bescheiden. Die Partei ist innerhalb einer bunten gesellschaftlichen Linken zu verorten, die auf gesellschaftliche Veränderung zielt, aber auch fragmentiert bleibt. Daher bedarf es der Entwicklung einer Mosaiklinken (vgl. Candeias 2010, Urban 2009). Je nach politischer Konjunktur und strategischer Notwendigkeit geht die Führung des Gesamtsubjekts von einem Teil des Mosaiks auf einen anderen über, mal dominiert das Bewegungsmoment, mal der institutionelle Kampf etc. (vgl. Candeias/Völpel 2014).

Oder lebendiger Organismus?

Eine Neubestimmung der jeweiligen Funktion innerhalb eines potenziellen linken Mosaiks ist also notwendig. Dies entspricht nicht einfach einer Akzeptanz der unterschiedlichen Positionen, meint nicht einfach ein neues Bündnisprojekt, sondern den produktiven Umgang mit Fragmentierungen und Differenzen, mit Machtungleichgewichten und unterschiedlichen Funktionslogiken zwischen parlamentarischer, betrieblicher und zivilgesellschaftlicher Politik, zwischen (Selbst)Organisation und Repräsentation. Katja Kipping und Bernd Riexinger haben dazu einen Diskussionsvorschlag erarbeitet, der die unterschiedlichen Möglichkeiten einer Partei als Teil einer gesellschaftlichen Linken neu ausloten möchte. Auch dazu findet sich keinerlei Bezug in den Texten der Redaktion und von Möller/Schindler.

Als „Funktionspartei“ hat eine Partei eine klare Repräsentationsfunktion. Ihr Eigenleben scheint darüber in den vorliegenden Texten kaum hinaus zu kommen. So wichtig der soziale Bereich der Partei ist, um Individualisierung gegenzuarbeiten oder Zugehörigkeit zu produzieren. Im „Sozialbereich“ entfalten sich für die Redaktion und Möller/Schindler „assoziative Bindekräfte“, was eher sozial-kulturell gemeint zu sein scheint, nicht politisch: Dort werden „Ansprüche“ abgebildet, „Unbehagen und Protest“ in die Institutionen eingespeist, auch grundsätzliche Fragen aufgeworfen, also eigentlich wieder nur repräsentiert. Die soziale Partei als Transmissionsriemen der Funktionspartei? Das kann nicht gemeint sein. Die Partei als möglicher organisierender politischer Organismus kommt nicht vor – vielleicht nur ein Missverständnis. Eine Partei, die Interessen nicht nur repräsentiert oder einspeist, sondern sie organisiert, konkret verbindet und verallgemeinert, ohne Differenzen glatt zu bügeln, an konkreten Interventionen, Alternativen und Perspektiven arbeitet – wie geht das? Im Folgenden können nur einige Problematiken angerissen werden.

1. Verbinden. Eine Linke Partei müsste sich als Teil einer gesellschaftlichen Mosaiklinken verstehen. Ein linkes Mosaik ist durch vielfältige politische und kulturelle Eigenlogiken und unterschiedliche Funktionen geprägt. Um nur letzteres anzudeuten: Gewerkschaften müssen ihre Mitglieder vertreten, ihnen Schutz bieten, betriebliche Auseinandersetzungen führen und konkrete Abschlüsse erzielen. Linke Parteien müssen parlamentarische Arbeit leisten, von den Kommunen über Regionalparlamente bis hin zur nationalen und europäischen Ebene, um Wählerstimmen ringen, auch um zu repräsentieren. Zum Teil übernehmen sie Regierungsfunktionen. Bewegung organisieren Protest, fluide Partizipationsmöglichkeiten und direkte Einbindung. Diese feldspezifischen Praxen können auseinanderfallen und tun es häufig auch. Und doch ist klar, dass sie sich produktiv verknüpft, wechselseitig stärken können. Bürgerentscheide oder parlamentarische Initiativen haben mehr Aussicht auf Erfolg, wenn sie mit einer lebendigen Praxis von Kampagnen, Besetzungen, Massendemonstrationen, Blockaden und zivilem Ungehorsam verbunden sind, die den nötigen Druck entfalten. Bewegungspraxen können die so wichtigen kleinen Teilerfolge erzielen und weitere Mobilisierung besser sichern, wenn etwa der Schutz vor Zwangsräumungen durch kommunalpolitische Maßnahmen oder gesetzliche Regelungen verbessert wird und so unmittelbar zur Verbesserung von Lebensbedingungen beigetragen wird. Bewegungen können eine Dynamik entfalten, wie sie Institutionen kaum vergleichbar hervor bringen. Und doch ist es für Bewegungen leichter, wenn sie auf die Aktiven in Partei und Gewerkschaften und auf entsprechende Infrastrukturen zurückgreifen können, um eben diese Dynamik zu befördern.

Nun ist die Partei DIE LINKE selbst ein Mosaik. Die Stärke einer Mosaiklinken wäre es Gruppen und Strömungen zusammen zu bringen, die unterschiedliche Ziele mit unterschiedlicher Reichweite und Strategie verfolgen. Das Gemeinsame stünde im Vordergrund. Diese Arbeit am Gemeinsamen, in der bereits in die eigene Interessenformulierung die Interessen der anderen mitgedacht und verbunden werden, verschwindet in den hier diskutierten Ansätzen.

Aufgabe ist in der Auseinandersetzung das Gemeinsame nicht nur zu finden, sondern solidarisch zu produzieren. Solidarisch meint, die Interessen der unterschiedlichen Beteiligten an einem gegenhegemonialen Projekt in die Formulierung der eigenen Interessen miteinzubeziehen.[1] Die Produktion des Gemeinsamen beinhaltet neben der Reformulierung der eigenen und dem Entwickeln gemeinsamer Interessen auch die Verallgemeinerung von Erfahrungen und Anerkennung. Darüber hinaus bedarf es der Anerkennung nicht gemeinsamer – für die jeweilige Gruppe aber unverzichtbarer – Forderungen. Letzteres beinhaltet ebenso die Anerkennung unterschiedlicher (politischer) Kulturen, Organisationsformen und Logiken.

Dazu bedarf es eines Typus von Vermittlungsintellektuellen, die diese Prozesse organisieren, falsche Gegensätze auflösen, nicht, indem Differenzen zugekleistert, sondern produktiv nach vorne gewendet werden, keine (Formel)Kompromisse auf kleinstem gemeinsamen Nenner, sondern Neuverknüpfung von Positionen. Der Vorschlag der Redaktion, die Einführung von Zustimmungsquoten von mindestens 60-70% einzuführen, also stärker deliberative Elemente statt Mehrheitsprinzipien zu betonen, ist von organisierendem Nutzen. Offene Programmprozesse wie sie die Izquierda Unida und Syriza erproben, Parteikongresse stärker in AGs und im Stile von partizipativen Assambleas (Versammlungen) wären weitere experimentelle Schritte. Die meisten innerparteilichen Konflikte der letzten Jahre waren ganz überwiegend Distinktionskämpfe, Personalquerelen, Machtkämpfe. Selten ging es um eine engagierte politische Auseinandersetzung, wie bspw. in der Frage des Euroexit, wo es gelang eine offene Debatte als solche zu behandeln und jenseits identitärer Positionen eine gemeinsame zu entwickeln. Leider wurde nur ein Jahr später die Debatte auf schlechterem Niveau wieder – hoch identitär aufgeladen – aufgewärmt (vgl. Candeias, Oberndorfer, Steckner 2014). Hier gilt es insbesondere die „lebendigen Zwischenschichten“ (Gramsci) zu stärken bzw. neu auszubilden, wo sie durch Überforderung zwischen Basis und Führung und zu vielen Aufgaben bereits ausgezehrt wurden, um solche verbindenden Debatten überhaupt führen zu können. Ohne sie erstirbt die innerparteiliche Demokratie und das lebendige Band zwischen Basis und Führung.

Die Eigenlogiken der unterschiedlichen feldspezifischen Praxen (in denen DIE LINKE aktiv ist) in Betrieb, Zivilgesellschaft, Staat bzw. Parlamenten zu verstehen, die eine auf allen Ebenen minoritäre Linke zusätzlich spaltet, ist dabei unerlässlich, auch um einen Umgang mit den enormen Machtasymmetrien zwischen den Ebenen zu finden. Wichtig ist ein offener Prozess, der es erlaubt, Partikulares neu zu formulieren, Gemeinsames nach vorn zu stellen und die unterschiedlichen Funktionen – arbeitsteilig - neu zu verbinden. Um im Bild zu bleiben, es genügt nicht, die Mosaikstücke nebeneinander zu legen, sie müssen konkret verbunden werden, sonst zerbricht das Bild bei der ersten Erschütterung. Dies ist auch die Idee hinter Mimmo Porcaros Begriff der „partito connettivo“ (verbindende Partei): sie „sollte die Vorstellung der klassischen Massenpartei überwinden“ (2010, 72). Die verbindende Partei ist „die Vereinigung der unterschiedlichen (politischen) Subjekte in Formen, die die bestehenden Unterschiede nicht beseitigen wollen“ (73), sie vielmehr in einer gesellschaftlichen Partei (Gramsci) neuen Typs verbindet.

2. Verankern. Dazu gehört das stärkere verankern in Bewegungen und Gewerkschaften. Zwar fehlt es an einer Bewegungsdynamik wie in Griechenland oder Spanien. Von einer „Nicht-Gegenwart des Protests“ (Redaktion) kann jedoch kaum ausgegangen werden. Neue Streiks im Gesundheitswesen, der Pflege, im Einzelhandel, Flüchtlingsproteste, Organisierung gegen Zwangsräumungen und Vertreibung, für Rekommunalisierung von Energie- und Wasserversorgung, oder gegen Megaprojekte, Bündnisse wie Dresden Nazifrei, Blockupy, UmFairteilen etc. - überall ist DIE LINKE involviert und engagiert, in Plattformen und Kampagnen. Ihre Funktion ist häufig die eines infrastrukturellen Rückgrats über die Bereitstellung von Räumen, Geldern, Organisator_innen, auch der Mobilisierung von Mitgliedern, der Demobeobachtung und rechtlichen Absicherung mit Abgeordneten, des spezifischen Zugangs zu Medienarbeit. Es ist für Bewegungen und Initiativen selbstverständlich geworden, dass die Partei DIE LINKE hier eine wichtige Rolle einnimmt, auch wenn ihre spezifische Funktion kaum thematisiert wird, identitäre Abgrenzungsrituale Kooperation erschweren, entsprechende Machtasymmetrien und Vereinnahmungsängste zu wenig diskutiert und bearbeitet werden.

Eine politische Verankerung ist dabei nicht hinreichend. Zugleich müssen soziale und kulturelle Räume ausgebildet werden. Ganz entscheidend ist es etwa, „mit größerer Sorgfalt demokratische Verbände genossenschaftlicher Art auf den Weg zu bringen, die in der Lage sind, die unmittelbaren Bedürfnisse der Masse von Benachteiligten zu befriedigen“ (Porcaro 2010, 74) - keine „rein altruistischen“, sondern „mutualistische, also auf gegenseitiger Hilfe basierende Vereinigungen“ (2011, 33). Deren „Elementarteile sind lokale Einheiten, in denen Mitglieder nicht einfach nur über Politik diskutieren“, sondern darüber hinaus gemeinsam Alltagspraxen teilen, kollektive Kinderbetreuung organisieren, Zwangsräumungen verhindern, Mieter- oder Hartz-IV-Beratung organisieren, Arbeitskämpfe unterstützen etc. (ebd.). Dies sind Aufgaben einer „sozialen Partei“ wie sie ansatzweise bei Syriza oder linken Parteien in Spanien entwickelt werden. Eine solche soziale Partei darf sich nicht darauf beschränken, einfach Hilfe anzubieten, sondern muss selbst zu Orten politischer Aktion, Organisierung und Schulung werden. Dies macht unter anderem die Stärke des Doppelgespanns von Solidarity4all und Syriza in Griechenland aus.

Solche Orte sollten nicht mit „Vorfeldorganisationen“ einer Partei verwechselt werden, sie müssen „autonom“ agieren können (75). „Solidaritätsinitiativen können wichtige Ausgangspunkte für Kämpfe um/für den Wohlfahrtsstaat sein“. In ihnen als organisatorischen Knoten, kann „das Selbstbild der Menschen, von dem, was sie erreichen können“, verändert, „mit ihnen zusammen das Verständnis ihrer eigenen Fähigkeit zur Macht“ entfaltet werden (Wainwright 2012, 122). Sie sind damit potenziell nicht nur ein „wirksames Gegenmittel gegen (rechten) Populismus“ (Porcaro 2011, 33), sondern können auch Abhängigkeiten gegenüber einer (linken) Regierung mindern und Klientelismus vorbeugen. Sie beschränken sich nicht auf ein „bürgerschaftliches Engagement“, das die Defizite des ausgedünnten Sozialstaates kompensiert, sondern zielen mit Aktionen des zivilen Ungehorsams und der direkten Aneignung auf seine Rekonstruktion und seinen demokratischen Umbau. Ausbau und Demokratisierung des Sozialstaates sollen aus dieser Perspektive Mittel und Entscheidungsmacht in die Zivilgesellschaft umleiten. Dies wäre eine konkrete „linkspopulistische“ oder besser populare Option, wie sie die Redaktion einfordert.

Eine solche Verankerung auszubauen funktioniert nur, wo es eine ausreichende und aktive Basis von Mitgliedern gibt. Eine Mitgliederpartei muss auch die wichtige soziale Einbindung von (ansonsten andernorts inaktiven) Mitgliedern leisten. Es gilt jedoch darüber hinaus Basisstrukturen zu stabilisieren, indem sie attraktiver für (nicht nur junge) Neumitglieder und politisch Interessierte werden, einen stärkeren Plattformcharakter erhalten, statt Selbstbeschäftigung sich konkreten sozialen Problemen vor Ort widmen und eben Solidaritätsarbeit im Nahbereich mit politischer Organisierung verbinden. Die Partei sollte im kleinen wie im großen kampagnenfähig werden – gemeint ist keine von oben initiierte Propaganda, sondern im oben genannten Sinne organisierende Kampagnen – so verstehen wir den Impuls des Papiers von Kipping und Riexinger. Hingehen, wo die Probleme sind – so erhält die Partei „ein Gesicht“ und „eine gewisse Eigenständigkeit von Bundestrends“ (Redaktion). Zu diesem Zweck gilt es entsprechende Bildungsanstrengungen zu unternehmen, die bundesweit eine Verallgemeinerung von Erfahrungen auf Basisebene erlauben und diese so unterstützen. (Insgesamt sind Partei und Stiftung dabei zu wenig aktiv.)

3. Verbreitern. Auch wenn es gelingt, mehr Aktive vor Ort in konkrete Organisierung einzubeziehen wäre es ein Fehlschluss diese Stärkung als zivilgesellschaftliche verankerte Partei von Aktiven mit und ohne Parteibuch als „Ausdruck der Bevölkerung“ zu betrachten. Sie zeigen nur einen Ausschnitt, von Teilen, die Zeit und Ressourcen für politisches Engagement besitzen. Die Partei muss auch Gruppen erreichen, die Bewegungen oft nur schwer oder gar nicht erreichen, die sich von der Politik vielleicht aus gutem Grund abgewandt haben. Eine Verankerung in und Verbindung der aktiven Teile der Bevölkerung sowie allerlei linker Organisationen und Bewegungen reicht nicht aus.

Die Tendenz sich zu sehr auf die Selbstorganisation einer – durchaus wachsenden - aktivistischen Szene zu konzentrieren, geht dem Problem des Bündnisses mit den Marginaliserten und Enttäuschten, häufig formal weniger Qualifizierten aus dem Weg; dies wiederum fördert Misstrauen „gegenüber den Träger_innen spezialisierten Wissens“ (Porcaro 2011, 31). Die Spaltung behindert die Handlungsfähigkeit der popularen Klassen und lässt Teile „zum Subjekt der populistischen Revolte gegen alle gesellschaftlichen ›Vermittler‹“ (politische Klasse, Experten, linke Aktivist_innen, Intellektuelle jeglicher Art) werden (31f.) – und zwar anders als Porcaro meint, sowohl bei den formal hoch wie niedrig Qualifizierten.

Dies erfordert das Verhältnis von Selbstorganisation und Repräsentation neu zu denken. Das Mosaik müsste auch jene popularen Klassen einbeziehen, die „aus isolierten Individuen“ bestehen, „die sich nicht durch Selbstorganisation verbinden“, sondern oft auch „in Bezug auf ein politisches Ziel oder – schlimmer noch – in Bezug auf einen politischen Anführer“ (Porcaro 2013b, 145). Es sind Fraktionen, die entweder nicht über die Ressourcen (Zeit, psycho-physische Konstitution, ›kulturelles Kapital‹, räumliche Nähe etc.) verfügen, um sich selbst zu organisieren, und/oder „die traditionellen Parteien kritisieren, aber trotzdem von einer ›effizienten‹ Partei träumen, ein ›Volk‹, das den Staat kritisiert, aber trotzdem einen einflussreichen Staat will, der in der Lage ist, sie vor den Auswirkungen der Krise zu schützen“ (ebd.). Damit diese Gruppen nicht von neuen rechten oder (proto)faschistischen Parteien eingebunden werden oder diffusen neuen Formationen anschließen, müsste eine linke Partei als Teil bzw. spezifische Funktion eines Mosaiks nicht nur stärker zur Bewegungspartei werden, sondern wahrscheinlich „auch einige Wesenszüge der alten Massenpartei übernehmen“. Sie müsste repräsentieren und vielleicht auch, „mit der gebotenen Vorsicht, einige Aspekte einer Politik nutzen, die sich auf persönliches Charisma stützt“ (ebd.)[2] – ein postautoritäres Charisma einer Gruppe, das durch Überzeugung und Führung gekennzeichnet ist, mit der Durchsetzung sozialer Verbesserungen bzw. mit dem Abbau sozialer Zwänge und Nöte die Handlungsfähigkeit der Einzelnen stärkt und Möglichkeiten zur Selbstaktivierung und Selbstregierung entwickelt. Repräsentation kann so verbindend wirken – freilich – in Erinnerung an Gayatri Spivak - immer in der Gefahr, die Subalternen der eigenen Sprache zu berauben bzw. „für ihre Sprache taub zu sein“ (Kaindl/Rilling 2011, 22).[3] Repräsentation bleibt immer prekär.[4]

4. Von der Mosaik- zur Transformationslinken.

Unklar bleibt zunächst ob die Alternative zwischen „linkem Flügel der Sozialdemokratie“ und „Protestpartei“ aus Sicht des prager frühling eigentlich eine Situationsbeschreibung sein soll oder grundsätzlich gemeint ist. Letzteres wird bei Möller und Schindler nahegelegt, wenn sie mit Agnoli, Parteien als Teil des Staates betrachten, die damit „nichts wirklich Oppositionelles vertreten“ können. Sie müssten sich notwendig auf „was gemeinhin für machbar gehalten wird“ konzentrieren, „Anschluss an den Alltagsverstand“ finden. Dies schließt nicht nur aus, dass der Alltagsverstand „bizarr zusammengesetzt“ (Gramsci) ist, sich eben auch Ansprüche, Wünsche, Hoffnungen finden, die über das Gegebene hinaus reichen. Eine solche Sicht legt auch nahe, dass eine gesellschaftliche Transformation eben nicht „machbar“ ist, jedenfalls nicht mit diesem Staate. Der Staat wird hier nur noch als formierende Institution, nicht mehr als Verhältnis von Kräften und Kampfplatz verstanden. Spiegelbildlich ist der Protest oder die Protestpartei dann wohl auf die Zivilgesellschaft verwiesen, wo sie ein „Eigenleben“ entfaltet. Doch wie begreifen wir dieses Eigenleben? Offensichtlich hilft der Rückgriff auf Abendroth oder die Idee einer Partei „als Instrument“ der Arbeiter_innenbewegung nicht. Nun sind weder Agnoli noch Abendroth Parteitheoretiker. Die Abwesenheit linker Partei- und Organisationstheorie wirkt seltsam.

Schau mir in die Augen Mosaiklinke

Protest wie Regierung ohne Transformation bleibt wirkunsglos. Eben weil das Gewicht der staatlichen Institutionen so groß und die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse ungünstig sind, genügt es nicht Funktions-, Protest- oder Sozialpartei als gleichbedeutend nebeneinander zu setzen. es genügt auch nicht unterschiedliche Gruppen und Strömungen zu verbinden. Darüber hinaus gilt es (mindestens Teile der) Mosaiklinken zur Transformationslinken zu entwickeln, die zu konsequenten Schritten der Veränderung und des Bruchs treiben, immer wieder deutlich machen, wo Forderungen oder Strategien zu scheitern drohen, weil sie im gegebenen, viel zu engen Rahmen versuchen, Verbesserungen durchzusetzen, ohne die Integration und den Umbau der eigenen Positionen durch Gegenkräfte zu berücksichtigen. Die Aufgabe einer Transformationslinken bedeutet, den Rahmen selbst zu verändern, also nicht nur Reformen innerhalb der gegebenen Verhältnisse und Institutionen, sondern die Anordnung der Verhältnisse selbst zu verändern und neue Institutionen zu schaffen. Darauf zielen z.B. Bewegungen für demokratisierte öffentliche Unternehmen neuen Typs, wie der Berliner Energietisch, oder der Versuch den Verkauf von Wohnungen über die Gründung von Genossenschaften zu verhindern (z.B. TLG-FairWohnen), aber auch partizipative Haushalte (wenn sie Relevantes zu entscheiden haben). Ob der Aufbau staatsnaher Strukturen und Bastionen oder zivilgesellschaftlicher Strukturen der Selbstorganisation: Angesichts der enormen Prekarität von Lebens- und Arbeitsverhältnissen müssen die neuen Institutionen stabil und dauerhaft sein. Dies meint keinesfalls „diese schwachen Institutionen“ durch „die Partei zu ersetzen, sondern durch ›starke Institutionen‹“ (Porcaro 2013, 144).

5. Regierungspartei. Verbinden, Verbreitern, Verankern wären wichtige Voraussetzungen, die „Regierungsoption“ ernsthaft ins Auge zu fassen. Doch es gibt keine Wechselstimmung. Ohne eine gesellschaftliche Dynamik für eine gesellschaftliche Transformation (1968 ff., Lateinamerika zur Jahrtausendwende, aktuell Griechenland) oder wenigsten einen radikalen Reformismus gibt es keine Chance für eine „linke“ Regierung. Angesichts der real-existierenden SPD und Grünen wird es allenfalls eine Mitte-links-Regierung (Wolf 2014). Das heißt um einer Selbstüberforderung zu entgehen, sind vorab einige wenige, aber sehr klare Projekte zu definieren, die in einer solchen Koalitionsregierung mit ihren Zwängen durchsetzbar sind. Diese wären als Teil einer revolutionären Realpolitik zu formulieren, also nicht realistische Projekte einerseits und Utopie als „normative Ressource“ oder „Vision“ andererseits, sondern als Einstiegsprojekte, in denen die orientierende Perspektive eingeschrieben ist, die bereits Folgeschritte implizieren, bis hin zu quasi automatischen Mechanismen (wie etwa bei der Formulierung des EEG oder der Sozialkorridore, oder durch eine demokratisierende Logik, die nicht so leicht wieder zurück gedreht werden kann, etwa bei Projekten der Rekommunalisierung). Für solche Projekte wäre eine entsprechende zivilgesellschaftliche Unterstützung bzw. ein Druckpotenzial vorbereitend zu organisieren. „Was vor dem Regierungsantritt nicht getan ist, kann in Koalitionsverhandlungen nicht nachgeholt werden.“ (ebd.).

Wesentlich ist dabei auch das Verhältnis von Regierung, Fraktion und Partei, die jeweils ihre Autonomie wahren müssen. Regierungspersonal muss entsprechend ausgebildet werden, aus zwei Gründen: Die Staatsbürokratie ist mit Beamten jahrzehntelanger bürgerlicher Regierungen besetzt und hat eine starke Eigenlogik als Bastion unterschiedlicher Interessen. Die Übernahme eines Ministeriums muss also notwendig mit der Besetzung entsprechender zentraler Posten einhergehen. Bekanntermaßen wurde DIE LINKE in der Frage wie viele Posten besetzt werden dürfen schon öfter getäuscht. Es muss außerdem vermieden werden, dass das gesamte Führungspersonal der Partei in die Regierung wechselt. Die Partei muss als eigenständiger Akteur kritisches Korrektiv und Vermittler zugleich bleiben (ausführlich Wolf 2014). Die von der Redaktion formulierten praktischen Vorschläge für die Reorganisation des Parteilebens wären auch in diesem Sinne von Nutzen.

Die Übernahme der Regierungsmacht ist eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung. Ohne Infragestellung und Schaffung neuer, wenigstens ergänzender Institutionen bleibt eine linke Partei in einer Mitte-links-Regierung chancenlos. Die Asymmetrien der Macht sind ungeheuer. Dies ist keine Aufgabe einer politischen Partei im engen Sinne, sondern der gesellschaftlichen Partei. Die strategische Partei „ist sich bewusst, dass die Regierungsübernahme qualitative Sprünge und Brüche in den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen erfordert“ (Porcaro 2010, 75), etwa den Aufbau neuer vermittelnder Institutionen, die nach und nach dazu in der Lage sind, den Staat in die Zivilgesellschaft zu absorbieren: consultas populares, partizipative Haushalte/Demokratie, peoples planning processes, Räte auf der betrieblichen, kommunalen und regionalen Ebene, demokratisierte öffentliche Unternehmen. Eine solche Praxis gibt staatliche Funktionen der Willensbildung im legislativen Prozess an die Zivilgesellschaft zurück. Solche partizipativen Institutionen zur Dezentralisierung und Demokratisierung von Macht sind allerdings nur effektiv, wenn wirklich etwas zu entscheiden ist, speziell in Bezug auf die Struktur des institutionellen Gewebes.

In solchen Institutionen kann die Vermittlung zum linken Mosaik leichter organisiert und Rückhalt für Regierungshandeln gewonnen werden. Eine schwache verbindende gesellschaftliche Partei reicht nicht aus. In Italien wurde vor dem Antritt der Linksregierung unter Prodi kaum an gemeinsamen Taktiken, Strategien und Perspektiven innerhalb des linken Mosaiks von Bewegungen, Gewerkschaften und Rifondazione Comunista gearbeitet. Es gab auch keine Institutionen, die die Vermittlung und Verbindung zum Gegenstand hatten: „Folglich handelte die Rifondazione dann innerhalb der Regierung nicht wirklich entsprechend der Forderungen der Bewegungen und umgekehrt unterstützten die Bewegungen die Positionen der PRC in der Regierung nicht wirklich“ (Porcaro 2011, 29), was dort letztlich zur Vernichtung der parlamentarischen Linken führte und die gesellschaftliche Linke in kulturelle und soziale und Nischen verbannte.

Es ist ein wahres Kunststück die unterschiedlichen Anforderungen so zu verbinden, dass der Zusammenhang nicht zerreißt, das Mosaik zerbricht. Denn zivilgesellschaftliche und staatliche (Veränderungs)Prozesse haben „verschiedene Zeitläufe und Bedingungen“. „Der erste verlangt längere Zeiträume“ der Organisierung und Transformation, „einen höheren Grad an Dezentralisierung“, Vielfalt. „Der zweite ist schneller, konzentrierter“ (Porcaro 2013b, 144), wenn nötig, von plötzlichen Wendungen der Herrschenden geprägt, erfordert eine konzentrierte, verdichtete Intervention.

6. Von der verbindenden zur strategischen Partei

„Die Herstellung einer gegenhegemonialen Bewegung kann nicht als additiver Prozess“ (Kaindl/Rilling 2011, 26) oder durch Kooperation von in sich vermeintlich abgeschlossenen Organisationen von Fall zu Fall gelingen (Candeias 2012). Es bliebe bei einer schwachen Version des Mosaiks ohne verbindliche Praxis, Strategie und Taktik öffentlich und regelmäßig zu diskutieren. „Pluralismus allein reicht nicht aus“: die Ergebnisse pluralistischer Debatten müssen durch intellektuelle und politische Gruppen weiter verarbeitet werden (34), die zu jedem Zeitpunkt an der Realität geprüft und aktiv verbunden und verallgemeinert werden, zu einer gemeinsamen, aber flexiblen politische Linie verdichtet werden. Dies ist die Funktion der kollektiven Vermittlungsintellektuellen. Es Bedarf der Führung eines solchen Prozesses. Immer jedoch droht auch die autoritäre Verselbständigung von Führung. Es bedarf also der Bildung (im doppelten Sinne) entsprechenden Führungspersonals, keine Kaderorganisation, aber doch Kader, auf den unterschiedlichen Ebenen, die den vielfältigen Aufgaben gewachsen sind, Vermittlung über die Durchsetzung eigener Positionen setzen. Eine solche Führungsfunktion ist dabei immer nur vorübergehend und Bedarf der immer wieder erneuten Legitimierung durch die Praxis. Die „Unterstellung“ unter eine solche verteilte und wechselnde Führung ist dann kein Ergebnis zwangsförmiger hierarchischer Unterordnung, sondern freiwillig und revidierbar, selbstgewählte Disziplin aus Überzeugung, nicht abstrakt ideologischer, sondern konkreter praktischer Überzeugung.

In diesem Prozess muss sich die verbindende gesellschaftliche Partei auch zur strategischen Partei entwickeln und dabei unterschiedliche Zeitrhythmen integrieren. Die horizontale, basisdemokratische Arbeit, die Arbeit der Vermittlung und Verallgemeinerung – auch der Verallgemeinerung von Führungsfähigkeit - braucht Zeit. Zugleich bedarf es aber in kritischen Situationen schneller gemeinsamer Entscheidungen. Ein zentraler Aspekt der Führungsfunktion ist es, im richtigen Moment die Stärke der Organisation „auf entscheidende Punkte der politischen Konjunktur zu lenken – Punkte, die sich ja ständig verändern“ (Porcaro 2013b, 143).

Keineswegs erschöpfend sind damit eine Vielfalt von notwendigen Funktionen einer linken Partei angesprochen, die jede für sich genommen, ein anderes Parteimodell transportieren würden. Doch darum geht es nicht. Die widersprüchlichen Funktionen sind produktiv zu verknüpfen, die damit verbundene Spannung auszuhalten. Hier treffen wir uns wieder mit dem Text der Redaktion. Die Entscheidung für nur ein Parteimodell, für eine Option oder Funktion als entscheidender, führt zu einer Verengung, die zur Verschärfung der Subalternität führt, die immer dann droht, wenn Kämpfe oder Einzelreformen nicht als Hegemonialkonflikte um die gesellschaftliche Anordnung selbst begriffen werden.

Literatur

Candeias, Mario, 2012: An der Problematik vorbei, in: Analyse & Kritik online, 21. September, www.akweb.de/ak_s/ak575/44.htm

ders., Lukas Oberndorfer u. Anne Stckner, 2014: Neugründung Europas? 
Strategische Orientierungen, in: Neues Deutschland, Beilage Europa.links v. 8. Februar, www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/Europalinks_nd-beilage_2014.pdf

ders., u. Eva Völpel, 2014: Plätze sichern! ReOrganisierung der Linken in der Krise. Zur Lernfähigkeit des Mosaiks in den USA, Spanien und Griechenland, Hamburg

Kaindl, Christina, u. Rainer Rilling, 2011: Eine neue „gesellschaftliche Partei“? Linke Organisation und Organisierung, in: Luxemburg, H. 4, 16-27

Kipping, Katja, u. Bernd Riexinger, 2014: Verankern, verbreiten, verbinden. Projekt Parteientwicklung. Eine strategische Orientierung für DIE LINKE, www.die-linke.de/partei/parteientwicklung/projekt-parteientwicklung/texte/verankern-verbreiten-verbinden/

Laclau, Ernesto, 1981: Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus, Faschismus, Populismus, Berlin 1981

Porcaro, Mimmo, 2013a: Occupy Lenin, in: Luxemburg, H.1, 132-38, www.zeitschrift-luxemburg.de/occupy-lenin/

ders., 2013b: Kunststücke. Was eine Partei alles können muss, in: Luxemburg, H. 2, 142-45, www.zeitschrift-luxemburg.de/occupy-lenin-debatte-kunststuecke/

ders. 2011: Linke Parteien in der fragmentierten Gesellschaft. Partei neuen Typs – die „verbindende Partei“, in: Luxemburg, H. 4, 28-35

ders., 2010: Partei in der Krise. Chancen für eine Rifondazione?, in: Luxemburg, H. 1, 71-75

Spivak, Gayatri, 2008: Can the subaltern Speak? (1988), hgg. v. H.Steyerl, Wien

Wainwright, Hilary, 2012: Griechenland: Syriza weckt Hoffnungen, in: Luxemburg, H. 3, 118-25

Wolf, Harald, 2014: Der Staat ist kein Fahrrad. Problematiken eine linken Regierungsbeteiligung, in: Luxemburg, H. 1 [im Erscheinen]

[1] Dies gilt nicht nur für Gruppen mit relativer Organisationsmacht, die die Interessen anderer berücksichtigen müssen, sondern auch für Positionen von kleineren Gruppen, deren Festhalten an wichtigen unmittelbaren, aber eng definierten Interessen im Sprechen die eigene Machtlosigkeit reproduziert, weil die Interessen der anderen nicht mitgedacht werden.

[2] „Populismus ist nicht in jedem Fall ein Phänomen der Rechten.“ (Porcaro 2013, 145) Vgl. dazu die grundlegende Arbeit von Ernesto Laclau (1981). Eine populistische Anrufung muss allerdings mit einem Organisierungsprozess verbunden sein, der aus einem populistischen – von wenigen getragenen – zu einem popularen Projekt entwickelt, das von den Vielen selbst getragen und immer wieder reartikuliert wird.

[3] Der Widerspruch reduziert sich nicht auf eine Gefahr der Ungerechtigkeit gegenüber den Repräsentierten. Ein „disparates und disloziertes Klassensubjekt“ lässt sich nicht unhinterfragt zum politischen Subjekt aufwerten, sondern schließt im Anschluss an Marx „eine Kritik des Subjekts“ und eine Kritik der Vorstellung einer „Subjektivität einer kollektiven Handlungsfähigkeit“ ein (Spivak 1988, 31f).

[4] „Das Auseinandertreten von Organisationen, repräsentierenden Intellektuellen und Repräsentierten macht das Feld frei für Politiken des Trasformismo [der Kooptation],“ (Kaindl/Rilling 2011, 23), stärkt Eigenlogiken der Organisation und Bürokratisierung.

Happy Abschiebung

geschrieben am 06.03.2014
Original

„Verharmlosenden Quatsch“ nennt der Bayerische Flüchtlingsrat eine Broschüre des Bayerischen Roten Kreuzes, in der Kindern die „freiwillige Rückkehr“ schmackhaft gemacht werden soll. (taz und nd berichteten) Und tatsächlich: Gezeigt wird eine Familie, die „freiwillig“ Deutschland verlässt.

Fälschung

Ein Kind verabschiedet sich von seinen Freunden, die Familie steigt in ein Flugzeug und zu Hause werden sie dann von den Großeltern vor einem großen Haus begrüßt. Nach kurzer Zeit findet das Kind Freunde und Spielgefährten. Alles in Butter und bestimmt so, wie es ein Kind wahrnimmt, das ins winterliche Kosovo oder nach Tschetschenien ausreisen muss.

Original

Dabei hatten es die Rotkreuzler doch nur gut gemeint und sind nun „seeeeehr verwundert“ über die Kritik. Mann könne schließlich ZITAT „nur noch lindern, nichts mehr ändern“.

Fälschung

Ach wirklich? Mit ein paar Federstrichen haben wir das Heftchen korrigiert. Denn man kann sehr wohl etwas ändern. Dass unser „Happy End“ leider der Ausnahmefall ist, heißt nicht, dass es sich nicht dafür zu kämpfen lohnte.

Original

Kein Mensch ist illegal! Abschiebung verhindern statt Ausreise schmackhaft machen!

Fälschung

Hier die korrigierte Broschüre zum Download. Das Original hier.

Original
Fälschung
Original
Fälschung
Original
Fälschung
Original
Fälschung
Original
Fälschung
Original
Fälschung
Original
Fälschung
Original
Fälschung
Original
Fälschung
Original
Fälschung
Original
Fälschung
Original
Fälschung

Die (Un-)Möglichkeit kritischer Organisation

Beitrag von Jasmin Siri, geschrieben am 04.03.2014

Die „Thesen zur Dialektik von Renitenz und Regierung“ der Ausgabe #18 wurden im Netz heiß diskutiert. Verschiedene Autor_innen haben begonnen die Thesen mal kritisch, mal zustimmend zu kommentieren. Die entstandenen Texte werden hier in loser Folge veröffentlicht.

Kritik in Organisationen ist keine leichte Sache. Organisationen sind aus soziologischer Perspektive darauf eingestellt zu wiederholen und zu „funktionieren“. Sie bauen Muster der Arbeitsteilung auf, die sich praktisch bewähren und im Falle, dass sie sich bewährt haben, nicht kritisiert werden sollen. Organisationen bestehen, so eine eingängige Definition von Niklas Luhmann, aus Entscheidungsketten, die sich an mehr oder weniger festgelegten Werten und Programmen orientieren. Sie haben einen angebbaren Mitgliederkreis und dieser Kreis ist ebenfalls dazu aufgefordert, die Werte und Programme der Organisation zu unterstützen – sonst drohen Sanktionen (Luhmann 2000).

Kritik läuft dem zuwider. Sie will „ein Instrument sein für diejenigen, die kämpfen, Widerstand leisten und das, was ist, nicht mehr wollen. Sie muss im Prozess des Konflikts, der Konfrontation, des Widerstandsversuchs gebraucht werden. Sie darf nicht das Gesetz des Gesetzes sein. Sie ist keine Etappe einer Programmierung. Sie ist eine Herausforderung für das, was ist“ (Foucault 1978: 41). In dieser Gegenüberstellung zweier Definitionen wird deutlich: Es gibt wohl kaum unterschiedlichere soziale Praktiken als Organisation und Kritik. Und so ist eine Partei, die sich zugleich (selbst)kritisch beobachten als auch die Vorteile parteilicher Organisierung nutzen will, per se einer (Selbst)Gefährdung ausgesetzt.

Kritik und rationale Organisation sind also zwei so widerstreitende und unversöhnliche Zwecke, dass ihre Integration im Sinne einer - ja was eigentlich: einer irrationalen Organisation? Einer organisationsfreundlichen Kritik? – stets ihr zukünftiges Scheitern mitführt.

Noch genug Platz für Kritik, wenn die Organisation so dicht zusammensteht?

Wenn die Partei zu geschlossen ist, funktioniert Kritik nicht. Wenn Kritik zu gut funktioniert, funktioniert die Organisation nicht mehr und Prozesse der Selbstsabotage setzen ein. Für dieses prekäre Verhältnis gibt es keine Lösung, da es sich aus der Materialität der Kritik und der Organisationen begründet.

Die einzige Chance, eine Gleichzeitigkeit von Kritik und Organisation zu „organisieren“ besteht dann darin, die Prekarität zu prozessualisieren, zu beobachten und zu versuchen, Einfallstore gegen Destruktionsprozesse einzubauen. Die Redaktion des prager frühling schreibt ganz in diesem Sinne über eine „Dialektik von Renitenz und Regierung“. Dialektik bedeutet hier, nicht auf eine Integration oder Versöhnung der unterschiedlichen Kontexte zu hoffen, sondern ein Gedankenexperiment einzusetzen, bei dem die Verhandlung antagonistischer Positionen zumindest kurzfristig und in spezifischen Organisationskontexten zumindest denkbar erscheint.

Auch ein Text von Kolja Möller und Jörg Schindler versucht eine Balance der widerstreitenden Praktiken der Kritik oder der Organisation herzustellen. Was ich Organisation und Kritik genannt habe, nennen sie „Verstaatlichung und Autonomie“ bzw. „Funktions- und Sozialbereich“. Die Organisation nimmt den Funktionsbereich, die Praxis der Kritik den Sozialbereich ein. Beide Texte führen damit die Unterscheidung Organisation und Kritik wieder in die Organisation selbst ein und suchen nach Wegen, die Instabilität, die dieser Eintritt der Unterscheidung in der Organisation erzeugt, zu balancieren. Sie denken über Spielräume für Erneuerung, alternative Gegenwarten auf Parteitagen und Probemitgliedschaft nach.

Man könnte nun kritisieren, dass diese Figur ein ganz fieses Ungleichgewicht produziert: Schließlich erfolgt der Wiedereintritt der Unterscheidung innerhalb der Organisation und die Kritik, ihr Dasein nun in alternativen Gegenwarten des Sozialbereichs der Partei fristend, hat immer noch nichts zu entscheiden. Aus parteiensoziologischer Sicht scheint es aber zu dieser Kompromisslösung keine Alternative zu geben, wenn man die Vorteile der Organisation mitnehmen möchte.

Den Widerstreit der Praxis der Kritik und der Praxis der Organisation innerhalb der Organisation wieder abzubilden, scheint die einzige Chance zu sein, nicht ganz von der Kritik zu lassen. Einer etwas zahnloseren Kritik vielleicht, die stets mit dem schlechten Gewissen leben muss, sich gegen eine Organisation zu richten, die es doch eigentlich gut meint.

Dr. Jasmin Siri ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie hat dort mit einer Arbeit über den Wandel politischer Parteien und der Parteimitgliedschaft promoviert, die unter dem Titel "Parteien. Zur Soziologie einer politischen Form" 2012 im VS Verlag erschienen ist. Weitere Publikationen finden sich hier.

Verweise

Foucault, Michel (1992) (1978) Was ist Kritik Berlin: Merve Verlag.

Luhmann, Niklas (2000). Organisation und Entscheidung. Wiesbaden: VS-Verlag.

Gegen falsche Gleichungen

Beitrag von Bodo Niendel, geschrieben am 20.01.2014

Um es gleich vorweg zu sagen, dieses Büchlein ist eine Bereicherung und trägt zur Versachlichung der Debatte um die Homosexuellenfeindlichkeit in Osteuropa bei. Die Mehrzahl der Beiträge widmet sich der Situation in Russland. Der Historiker Dan Healey zeichnet die Situation sexueller Minderheiten nach. Ähnlich wie in anderen europäischen Staaten entwickelte sich auch in Russland ab etwa 1870 Formen homosexueller Subkulturen. Marginalisiert und zumeist auf St. Petersburg und auf Moskau beschränkt, trafen sich Schwule aber auch Lesben in Cafés, in Parks und auf Plätzen, in öffentlichen Toilettenanlagen kam es zu Mann-männlichen Begegnungen. Die patriachalen Verhältnisse diskriminierten diese Lebensweisen, jedoch wurde sie, anders als in Deutschland, nicht strafrechtlich verfolgt. Entgegen so mancher linker Mythen, stellte das Engagement Alexandra Kollontais für die sexuelle Befreiung in der Folge der Oktoberrevolution nur eine Randerscheinung dar. Die Bolschewiki sahen in der Homosexualität einen „nicht zu tolerierendes Makel.“ Sie gingen mit Razzien gegen Treffpunkte vor und so war es nur konsequent, dass 1933/1934 „Sodomie“ zum Straftatbestand erklärt wurde. Sie galt als westlich, dekadent und Ausdruck kapitalistischer Verhältnisse. In der russischen Literatur kam Homosexualität zumeist nur am Rande oder kodiert vor, erläutert Ullrich Schmid in seinem Beitrag. Eine Ausnahme bildete der Roman „Kryl`ja“ von Michael Kuzmann, der 1906 ein Boheme-Ideal einer homosexuellen Identität besang. Im Kontext der repressiven russischen Sexualpolitik wagten LiteratInnen daran kaum noch anknüpfen. Diese Zeit wog nach und so ist Homosexualität in der russischen Literatur weiterhin eine Randerscheinung.

Der mittlerweile verstorbene Igor` Kon zeichnet anhand empirischer Erhebung seit 1990 die erschreckend negative Einstellung der Bevölkerung gegenüber Lesben und Schwulen nach und konzediert eine ideologische Polarisierung, bei der sexuelle Minderheiten zur „unfreiwilligen Geisel einer neuen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen geworden“ sind. Wenn der Grad der Homophobie der Lackmustest für eine Demokratie ist, so färbt sich das Lackmuspapier im Fall Russland schamrot, so Kon.

Erhellend sind die Beiträge von Natalija Zorkaja und Nikolay Mitrokhin zur Russisch orthodoxen Kirche (ROK). Sie belegen, dass die ROK ihre zumeist ablehnende Haltung nur selten theologisch dafür umso häufiger politisch begründet. Das Putinregime stützt sich in seiner Begründung des sogenannten „Anti-Homo-Propagandagesetz“ auf die Positionen der ROK, auch weil es sonst kaum eine akzeptable zivilgesellschaftliche Gruppe gibt, auf die es sich stützen könnte. Natürlich gibt es innerhalb ROK auch Modernisierer und – oh, wer hätte es gedacht- innerhalb dieses Männerbundes auch unzählige versteckte Schwule. Doch es fehlt der ROK an einer theologischen Debatte, wie sie andere Religionsgemeinschaften ausbildeten, da die Sowjetdiktatur diese rigoros unterband. So klammert sich die ROK an die konservativen Positionen des Putinregimes und umgekehrt. Das Interview mit der russischstämmigen Berliner Aktivistin Zlata Bossina des Vereins queertera lässt düsteres erahnen. Sie berichtet von erschreckenden Fällen von Verfolgung und gar zwei Morden in der Folge des "Anti-Homo-Propagandagesetzes."

Tschechien ist anders gelagert, wie Franz Schindler darlegt. Bereits 1921 gab es in Prag den ersten sexualwissenschaftliche Lehrstuhl weltweit, der einen regen Austausch zum Berliner Privatinstitut des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld pflegte. Tschechien bzw. die Tschechoslowakei nahm eine sehr säkulare Entwicklung, und es bildete sich auch in der Zeit des Staatssozialismus eine sexuelle Liberalität heraus. Während der Zeit des großen Wandels, dem Fall des eisernen Vorhangs, spielte die Kirchen eben nicht die Rolle, wie z.B. in Polen. So verwundert es nicht, dass Tschechien, als erstes osteuropäisches Land, gleichgeschlechtliche Partnerschaft ermöglichte. Im Parlament stimmte überraschender Weise auch die Kommunistische Partei geschlossen für das Gesetz.

Thomasz Kitlinski und Pawel Leszkowicz vermitteln Hoffnung. Polen galt unter der Ära der Kaczyński-Brüder als das homophobe Land Osteuropas par excellence. Doch nach dem Abgang der Brüder hat sich die Situation in Polen verändert. Zwar kann man nicht von einer ausgesprochenen Homofreundlichkeit sprechen, doch die krassen Zeiten sind vorbei und es hat sich in den letzten Jahren eine bedeutsame und sehr rege queere Kunst- und Kulturszene ausgebildet.

Diese wissenschaftliche Publikation ist nicht nur lesenswert, sie ist notwendig. Sie hilft vereinfachte West (=Freiheit)/Ost (=Unfreiheit)-Schemata aufzubrechen und zeigt, dass sich Befreiungsmodelle und Ausdrucksformen (wie Gay-Prides) nicht einfach exportieren lassen. Vor gerade einmal 20 Jahren wurde in Deutschland der Paragraph 175 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Wir sollten uns vor einem überheblichen Zeigefinger gen Osten hüten, stattdessen zuhören und unsere Brüder und Schwestern in ihrem eigenen und spezifischen Kampf fördern, wenn und so wie sie es wünschen.

Bodo Niendel, stell. Vorsitzender der Initiative Queer Nations e.V., Referent für queer-Politik der Bundestagsfraktion DIE LINKE und wiss. Mitarbeiter von Harald Petzold, MdB

Veranstaltungshinweis:

Queer Lecture: Die sexuelle Vielfalt und ihre Feinde in Osteuropa

Es diskutieren: Zlata Bossina (quarteera, e.V., Berlin), Tomasz Kitliński (Sozialwissenschaftler, Brighton/Lublin) und Volker Weichsel (Redakteur „Osteuropa“, Berlin)

Moderation: Bodo Niendel (Politikwissenschaftler, Autor) und Jan Feddersen (Soziologe, Journalist und Autor). Vortrag und Diskussion mit Tomasz Kitliński in englischer Sprache.

5. Februar 19:00 Uhr im taz-Cafe, Rudi-Dutschke-Straße 23, 10969 Berlin-Kreuzberg

Eine Veranstaltung der Initiative Queer Nations e.V. und Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde,e.V. in Kooperation mit der taz

Friends with benefits

Beitrag von sg, geschrieben am 21.11.2013
Essensmarke x Mustafa's Gemüsekebap

Mensch, Mensch, Mensch, Dominic und Joachim … Respekt! für Euren Kunden Mustafa’s Gemüsekebap hat sich Eure Werbeklitsche was einfallen lassen. Die Essensmarke©! Das klingt besser als der „LebensmittelgutscheinTM“ den AsylbewerberInnen und sanktionierte Hartz-IV-BezieherInnen bekommen. Nachteil für die BettlerIn: Sie bekommt von Eurem „Lebensmittelgutschein“ genau ein Produkt — Mustafas Gemüsekebap. Vorteil für Euren Kunden Mustafa’s Gemüsekebap: Die Bettlerin bekommt von Eurem „LebensmittelgutscheinTM“ genau ein Produkt — Mustafas Gemüsekebap ... wer weiß was die sich sonst kaufen, wenn man ihnen Geld gibt. Und das Beste am LebensmittelgutscheinTM: den bezahlt nicht etwa Eure gemeinnützigeStiftung, sondern irgendein Doofer.

Weils komisch kommt, wenn das Eure Werbeklitsche direkt macht, habt ihr dafür noch ne Stiftung gegründet. Nebeneffekt: Ihr und Eure Kumpels sparen Steuern und Ihr habt nen Auftrag im Portfolio, der zeigt: Wir sind kreativ, selbst wenn wir was mit Pennern machen, ist das immer noch hip. Soviel Döner kann man garnicht fressen, wie man kotzen möchte. Für Euch gibt's heut keinen Euro. Ab ins Bett - ohne Abendbrot©.

Blättern:
Sprungmarken: Zum Seitenanfang, Zur Navigation, Zum Inhalt.