Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog

Lieber Weihnachtsmann

Beitrag von Christoph Spehr, geschrieben am 27.11.2008
Christoph Spehr, Landessprecher DIE LINKE. Bremen

Lieber Weihnachtsmann, ich wünsche mir eine Linke. So eine wie Greta sie hat, nur nicht so schlecht gelaunt und ein bisschen moderner. Eine, die man überall hin mitnehmen kann, auch zu ganz normalen Puppen, nicht bloß zu anderen Linken. Sie soll richtig reden können, mit echten Sätzen. Wenn man sie was fragt, soll sie was sagen. Nicht wie bei der von Melanie, wo man erst mal zwei Minuten die Zahnräder quietschen hört, bevor sie ein komisches Kauderwelsch von sich gibt und die nicht mal Bitte und Danke sagen kann ohne dass „Kapital“ drin vorkommt.

Sie soll alles können, was andere Puppen auch können. Man soll ihr alles anziehen können, auch richtig schicke Sachen. Nicht so wie die von Paul, die immer aussieht als ob er sie eben in der Mülltonne gefunden hätte. Und sie soll keine Öko-Klamotten anhaben wie die von Agnes, die so scheußlich kratzt und nach Schaf riecht.

Sie soll Sätze sagen können wie „Bush ist scheiße!“ ohne rot zu werden. Sie soll gegen den Krieg sein. Sie soll gegen Chefs sein und andere Puppen ab und an fragen, ob sie sich nicht vorstellen könnten, den Laden selbst zu schmeißen. Sie soll fies lachen können, wenn jemand sagt „das war immer schon so“ oder „das ist für uns alle am besten“, und sie soll einen mechanischen Furz lassen können, wenn jemand sagt „ich bin qualifiziert“.

Wenn ich sie haue, soll sie AU sagen und nicht so peinliche Sachen wie „Du hast sicher ein Problem“ oder „Mach dir nichts draus, das liegt am Kapitalismus“. Sie soll zickig sein können und wenn ich sie rufe, soll sie manchmal nicht kommen. Wenn jemand blöd zu mir ist, soll sie mir nicht erklären wieso die Welt so ist, sondern mit nachdenken was wir machen. Sie soll Fragen stellen können wie die, wo das Geld hingeht und wer wovon was hat, und sie soll sich gefälligst erinnern können, wer schon mal gelogen hat. Sie soll manchmal PDS wählen und in irgendwas Mitglied sein, aber sie soll keine Wissenschaft draus machen.

Ich möchte, dass sie andere Puppen mag. Sie soll mit allen anderen Puppen spielen können - okay, mit fast allen. Sie soll nicht gleich kaputt gehen, wenn man sie mal ins Wasser schmeißt oder mit Play-Doo füttert. Man soll sie in einen Barbie-Reise-Zug setzen können, ohne dass sie gleich grün anläuft und in Ohnmacht fällt, weil sie einen Konsum-Schock hat. Sie soll sich aufregen wenn was ungerecht ist, aber sie soll nicht gleich auf andere Puppen schießen, bloß weil die Welt besser wäre ohne die.

Sie soll keine Lieblingswörter haben. Ich will keine, die glasige Augen kriegt und zu stammeln anfängt, bloß weil jemand „Amerika“ sagt oder „Widerstand“ oder „Wertvergesellschaftung“. Ich finde es blöd, wenn sie so ist wie die von Anke, die einen Krampf kriegt wenn sie sich zwei Stück Zucker nehmen will, weil das vielleicht antisemitisch ist oder rassistisch oder irgendwie verkürzt. Ich mag auch keine wie die von Hajo, die nicht mehr rausgeht zum Spielen mit anderen Puppen, weil sie schon alles weiß und sich schon selber für alles kritisieren kann.

Eigentlich soll sie wie eine gute Freundin sein, die was in der Birne hat und sich von niemand was gefallen lässt. Und sie muss eindreiviertel Liter Popcorn verdrücken können. Ich schaffe nur einen Viertelliter, aber ich steh auf die großen Eimer.

Lieber Weihnachtsmann, ich weiß, du hast viel zu tun. Trotzdem verstehe ich nicht, was so ein Problem an meinem Wunsch sein soll, den du im letzten und vorletzten Jahr, wenn ich dich erinnern darf, auch schon nicht erfüllt hast! Ich weiß ganz genau, dass du Gerd einen neuen Job gebracht hast und Dörte eine nagelneue Adorno-Gesamtausgabe. Also bitte, denk auch mal an mich. So schwierig kann das doch wirklich nicht sein.

The Piper at the Gates of Dawn

Beitrag von Stefan Janson, Marcus Hawel, Gregor Kritidis, geschrieben am 25.11.2008
Marcus Hawel

„Die Emanzipation der Arbeiter ist das unmittelbare Ergebnis der moralischen Emanzipation; erstere wird nicht erlangen, wer weiterhin moralisch Sklave eines anderen ist. Und Sklave ist, wer nicht eigenständig denkt, wer nicht spontan in Übereinstimmung mit seiner Vernunft und kraft eigener Anstrengung handelt.“ (Gründungserklärung der Confederación National des Trabajo Espanola – CNT – vom 30.10.1910)

Gregor Kritidis

Mit der Gründung einer Partei links von der SPD sind wichtige politische Themen der Linken aus ihrer Tabuisierung gelöst worden. Es war höchste Zeit, dass sich die linken reformistisch-etatistischen Strömungen aus der „babylonischen Gefangenschaft“ in der westdeutschen Einheitspartei der Arbeiterschaft befreit und in der Partei Die Linke eine Plattform gefunden haben. Mit dieser organisatorischen Trennung ist jedoch kein theoretischer Bruch mit dem Erbe des Etatismus erfolgt. Ohne diesen Bruch wird eine unkritisch „am Staat“ orientierte linke Reformagenda zu kurz greifen und letzten Endes – von innen und außen – mit dem möglichen Scheitern des neuerlichen Versuchs einer parteiförmigen Organisation auch die Arbeitsbedingungen für soziale Bewegungen verschlechtern. Mit einer solidarisch-kritischen Diskussion wollen wir dazu beitragen, dass sich in einer Zeit verstärkter Formierung der politischen Eliten zu einer kollektiven Oligarchie Partei und soziale Bewegungen produktive Zugänge zueinander aufrechterhalten.

Die Kraft der linken Sozialdemokratie und der Hartz-IV-Bewegung hat zur Bildung einer neuen, im Kern sozialdemokratischen Partei ausgereicht, die im Schwerpunkt die alte etatistische Positionierung der SPD der 1970er Jahre repräsentiert. Aber es ist nicht wie erhofft eine „Neue Linke“ entstanden. Programmatisch wird nicht einmal das Niveau des Berliner Programms der SPD von 1990 erreicht, mit dem der Höhepunkt einer rot-grünen Projektierung erreicht war und der anschließend durch die SPD-Rechte in der Defensive der Einheitseuphorie kassiert wurde.

Die Ansprüche bedeutender Teile der Bevölkerung sowie deren Bereitschaft, für diese Ansprüche zu kämpfen, werden in Zukunft deutlich ansteigen. Genauer: die weitere Offensive des Kapitals wird zu zunehmendem Widerstand führen, weil sich mit der „Subprime“-Krise nicht nur in den USA, sondern auch in Europa ein weiterer Kern neoliberaler Freiheitsversprechen buchstäblich in Luft auflöst. Diese Krise schlägt nun auch auf die „produktiven“ Sektoren der Ökonomien insbesondere in den exportorientierten Industrien durch.

Es ist nicht zu erkennen, daß sich Die Linke auf diese Situation in ausreichendem Maße inhaltlich und strukturell vorbereitet, um in der Lage zu sein, in dieser Situation in die Offensive zu gehen und die Ansprüche der Lohnabhängigen in eine dezidiert linke Reformagenda umzusetzen. Wir befürchten deshalb, daß sich in Deutschland die parteiorganisierte Linke in ihrer bestehenden Form unter Bedingungen einer sich zuspitzenden gesellschaftlichen Krise nicht dauerhaft wird behaupten können. Wenn massenhaft ins Bewußtsein dringt, daß Die Linke über das Parlament nicht wirklich etwas bewegen kann oder will, wird sich die Düne roter Wahlstimmen genauso schnell abtragen, wie sie entstanden ist. Über viele Funktionäre in den Institutionen und Parlamenten zu verfügen, hat mit Organisierung wenig zu tun. Die Fortsetzung der alten Stellvertreterpolitik aus der sich dem Ende neigenden Ära der „Volksparteien“ wäre eine fatale Illusion über Chancen und Reichweite einer vorwiegend parlamentarisch basierten „linken Politikwende“.

Transformation der rechtstaatlichen Demokratie in einen autoritären Staat

Es ist mit einer tiefen, lang anhaltende Rezession mit wachsender Arbeitslosigkeit zu rechnen, die sich bis in die „respektablen Milieus“ hinein entwickelt und deren individualistische Bewältigungsstrategien obsolet macht. Das Versagen der hegemonialen neoliberalen Freiheits- und Aufstiegsversprechen wird die politische Polarisierung, aber auch die Desorientierung verschärfen. Bei wachsender Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Machtblöcken werden diese versuchen, mit Feinderklärungen die soziale Unzufriedenheit für ihre imperialistischen Strategien zu kanalisieren.

Die herrschenden Eliten antizipieren ein solches Szenario und bewegen sich geistig zunehmend auf die traditionellen Vorstellungen der „konservativen Revolution“ zu. Diese Spielart des politisch-ideellen Nationalkonservatismus aus der Zeit der Weimarer Republik, die nach 1945 etwa in der Springer-Presse massenwirksam blieb, kannte zwei antiliberalistische Staatsmodelle, die nacheinander dem Niedergang der Weimarer Republik folgten, bzw. diesen ausmachten: den autoritären Staat und den „sozialen Nationalismus“. Während dieser sich auf den Willen zur Gewinnung der Massen stützte, war jener vom Elite-Denken getragen.

Wolfgang Schäuble mit seinem Konzept eines autoritären „Sicherheitsstaates“ ist der herausragende Vertreter dieser an Carl Schmitt orientierten Tradition, zu der auch der Altbundespräsident Roman Herzog gehört, ein Schüler des an obrigkeitsstaatlichen Vorstellungen orientierten Theodor Maunz. Herzog hat vor seiner Amtszeit als Präsident des Bundesverfassungsgerichts mit seiner Polemik gegen die „Rentnerdemokratie“ das gleiche und freie Wahlrecht Aller in Frage gestellt. Dieser autoritäre Geist läßt sich auch bei den zukünftigen Eliten erkennen, wenn etwa aus den Reihen des RCDS der Vorschlag gemacht wird, ein Mehrklassenwahlrecht einzuführen bzw. Hartz IV-Empfängern das Wahlrecht zu entziehen – und dieser Vorschlag nicht nur von der Springer-Presse, sondern auch von der ARD aufgegriffen wird, anstatt den RCDS dafür zu kritisieren, Verfassungsfeinde in seinen Reihen zu dulden.

Bei den Angriffen auf das Koalitionsrecht im Zusammenhang mit dem Streik der GDL kam eine verfassungswidrige Rechtssprechung zur Geltung, die erst in höherer Instanz annulliert worden ist. Dies zeigt, daß der Rechtsstaat bereits im professionellen Bewußtsein des juristischen Personals erschüttert ist. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die höheren gerichtlichen Instanzen nicht mehr als Garanten der Verfassung erweisen werden.

Der Angriff auf die Koalitionsfreiheit verweist historisch auf die Krise der Weimarer Republik und die Praxis der Notverordnungen sowie auf die Notstandsgesetzgebung von 1968. Heute geht es darum, zu verhindern, daß die herrschenden Eliten ihre Reichtumsquellen gegen die sozialen Ansprüche von Zweidrittel der Bevölkerung in Deutschland abdichten können und damit die rechtstaatliche Demokratie dem Prozess der Involution vollends anheim fällt. Unter diesem Gesichtspunkt scheint es uns, als stehen wir tatsächlich davor, einen Autoritarismus zu bekämpfen, der sich vom Faschismus des 20. Jahrhunderts darin unterscheidet, dass er die demokratische Fassade nicht abstreifen wird. Die faktische Beseitigung der „Habeas Corpus“-Garantien der englischen Revolution unter Blair und mit dem „Home Security Act“ unter Bush weisen in diese Richtung.

Die Vorbereitungszirkel und Entscheidungszentren für parlamentarische Gesetzgebungsverfahren sind auch in Deutschland spätestens unter Rot-Grün offen in sogenannte Expertenzirkel außerhalb parlamentarischer Kontrolle oder aber direkte Agenturen von Lobbyisten in den ministeriellen Apparaten verlagert worden. In Verkehrung der demokratischen Motive wurde eine theoretische Grundlage für diese Entwicklungen in den Modellen der Mediation und der „Runden Tische“ gelegt, die in der Spätphase der Bürgerinitiativbewegung der 1980er-Jahre Konjunktur hatten.

Für einen veritablen Faschismus fehlt derzeit zum einen bei den herrschenden konservativen Eliten die Notwendigkeit zur aktiven Gewinnung der Massen. Das könnte sich im Verlauf der Krise ändern. Die “Lega Nord“ in Italien könnte das Vorbild sein, und das entsprechende Potenzial könnte sich z.B. aus den “Freien Wählern“ entwickelt, die – zunächst in Bayern – ein radikalisiertes Kleinbürgertum organisieren.

Wenn die politische Linke die allgemeine gesellschaftliche Krise den antidemokratischen Eliten aus Bürokratie, Wirtschaft, Politik und Militär überläßt, dann könnte es sein, daß diese sich abermals verbünden und auf ihre Weise das bestehende System parlamentarischer und rechtstaatlicher Demokratie überwinden. Diese Gefahr wird in der Linken bisher kaum reflektiert. Das Problem liegt dabei jedoch nur sekundär am intellektuellen Vermögen, sondern vielmehr daran, daß gerade in der Linken die Mehrheit Fragen grundlegender Art für obsolet hält, da mit der Lösung der Organisationsfrage im Prinzip alles wesentliche geklärt scheint. Dies ist aber ein Erfolg für die Strategie der herrschenden Eliten, Zusammenhänge zu fragmentieren und zu verhindern, daß sowohl auf theoretischer wie auch auf praktischer Ebene Zusammenhänge hergestellt werden.

Es erscheint uns in diesem Kontext kaum verwunderlich, dass sich Anzeichen von Autoritarismus auch innerhalb der Linken wieder finden, weil sie als gesellschaftliche Agentur umso mehr gegen solche Prozesse nicht immun ist, je weniger sie ihre Organisationspraxis selbstkritisch reflektiert. Es ist durchaus problematisch, daß in der Wahrnehmung auch der Partei solche durchaus kritikwürdigen Personen wie Lafontaine und Gysi die Gründungsaktivisten der ersten Stunde aus der WASG fast vollständig verdrängt haben und Anzeichen von Personenzentrierung vorhanden sind.

Die vorherrschende Organisationspraxis ist weitgehend blind, weil die verschiedenen Strömungen an die Belastbarkeit ihrer nur implizit thematisierten Organisationskonzepte glauben und es für zu riskant halten, offene Fragen zu formulieren. Die Krisen innerhalb der Partei werden sich daher in dem Maße zuspitzen wie die gesellschaftlichen Widersprüche insgesamt.
Die Linke ist mental und praktisch politisch auf die Grenze fixiert, die sie von den antizipierten Apparatinteressen der Ost-Eliten und Gewerkschaftsapparate gesetzt sieht. Die Bindung an diese Form von Interessen ist selbst nach Maßstäben aufgeklärter Fraktionen in den Gewerkschaften und ihren Funktionärskörpern nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Es ist deshalb kein Zufall, daß GDL, Ärzte und Beschäftigte im öffentlichen Dienst die Vorreiter für neue Kämpfe und neue demokratische Aktionsformen sind und zunehmend selbstbewußter vom DGB unabhängig agieren. Wir vermissen diesbezüglich in der Linken die Diskussion der Frage, wie man die “neuen Arbeitnehmerschichten“ anspricht, da sie in der Partei deutlich unterrepräsentiert sind, aber unbedingt integriert werden müssen. In der Linken werden Positionen wie auch in den anderen Parteien von oben nach unten durchgesetzt. Die innerparteiliche Demokratie ist mehr Folge realer Kräfteverhältnisse denn politisches Programm. Das Klima innerhalb der Partei ist für die geistige Auseinandersetzung nicht gerade förderlich. Die Kraft des besseren Arguments und der Kritik im Allgemeinen ist schwach. Wenn sich daran nichts ändert, ist zu befürchten, daß die von der neoliberalen Politik Betroffenen sich von der Linken genauso abwenden, wie diese sich von SPD und Grünen bereits abgewendet haben.

Bedingungen für eine reformatorische Politik

Sind die internationalen und nationalen Bedingungen für eine emanzipatorische, libertäre Ausrichtung der Linken nicht besonders günstig, so ändern sich auch die Konstellationen, unter denen und in denen die anderen Apparate im politischen Feld operieren.

Bei den Grünen vollzieht sich zurzeit eine Wende zur weiteren Einbindung in das bürgerliche Lager: Die Parteiführung wendet sich in einer Mischung von Kalkül und Opportunismus von dem numerisch möglichen Projekt einer rot-rot-grünen Koalition ab. Sie opfern für ihre Beteiligung am Staatsapparat eine linke Basis aus Massenintelligenz und Bildungsbürgertum. Die von grünen Linken organisierte, in ihrer Reichweite aber nur begrenzt wirksame Kampagne gegen die Koalitionsvereinbarung von CDU und GAL in Hamburg hat gezeigt, daß die Linke innerhalb der Grünen trotz guter programmatischer Ansätze und einer gewissen kritischen Basis gegen die Regierungs-, Partei- und Staatsmilieus, in die Grüne mittlerweile integriert sind, nur begrenzte Chancen haben, sich durchzusetzen.

Diese Schwäche ist nicht nur eine politische. Viele kritische Leute haben die Partei der Grünen längst verlassen, nachdem diese 1998 zur Kriegspartei geworden ist und zudem die von Gerhard Schröder eingeleitete neoliberale Reformagenda 2010 mitgetragen hat. Einige haben in der Linken eine neue politische Heimat gefunden. Der weitaus größere Teil aber dürfte sich ins Privatleben zurückgezogen haben. Die Partei der Grünen ist heute fast genauso überaltert wie die Linke.

In ihren Anfängen repräsentierten die Grünen immerhin noch die emanzipatorische Hoffnung auf eine mit der Umwelt versöhnte egalitäre Gesellschaft. Eine solche Gesellschaft hätte man durchaus als sozialistisch bezeichnen können. Dieses Projekt ist mit der Integration grüner Milieus zu einem technokratischen Sample kleingeschreddert worden, das sich mit grüner Energieproduktion und technizistischer Detailprogrammierung gegen den Klimawandel von der Emanzipation der Menschen in und mit der Natur lange verabschiedet hat. Dieses grüne Projekt ist bereits Bestandteil der ideologischen bürgerlichen Hegemonie, wenn auch ihr kritischer, operierender Teil.

Die SPD ist als Partei zwar politisch gespalten, unterliegt aber wieder der harten Hegemonie der Neoliberalen um Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier, wie der fast widerspruchlos hingenommene Putsch gegen Beck gezeigt hat. Die Hessen-SPD unter der Führung von Andrea Ypsilanti ist ein gutes rot-grünes Reformprojekt im klassischen Sinne. Dieses Projekt einer „sozialen Moderne“ ist politisch in einer kombinierten Anstrengung von Schröderianern und Mainstreampresse gegenwärtig paralysiert worden.

In der Linken wird sich der Widerspruch zwischen gewerkschaftsfreundlicher und sozialstaatlicher Programmatik und dem ideologisch-politischen Nachvollzug der Haushaltskonsolidierungspolitik, wie sie in Berlin unter der Mitwirkung der Linken betrieben wird, zuspitzen. Es ist zwar nicht zu bestreiten, dass Staatsverschuldung dem Finanzkapital und Anlegern arbeitsloses Einkommen beschert, aber es ist die Kurzsichtigkeit der Linken, sich in eine Regierung hineinbegeben zu haben, die objektiv nicht viel mehr machen kann, als der hegemonialen Logik der strikten Haushaltskonsolidierung zu folgen. Johannes Agnoli hatte bereits 1966 festgestellt, dass die Entkernung emanzipatorischer Ansätze durch die Übernahme von Regierungsverantwortung voranschreitet. Dies lässt sich auch gut an der immer seichter ausfallenden Kritik des WASG-Flügels um Oskar Lafontaine an der Politik des Berliner Senats beobachten: ein Prozess, der prospektiv zeigt, wohin die Entwicklung gehen könnte. In diesem Kontext sehen wir auch das – bislang noch rhetorische – Angebot Oskar Lafontaines an die SPD, schon morgen mit ihr regieren zu wollen, wenn sie bestimmten Minimalbedingungen („Raus aus Afghanistan“, „Weg mit der Rente mit 67“ und „Weg mit Hartz IV“) eingehen wolle. Der antizipierte Verzicht von Bodo Ramelow auf das Amt des Ministerpräsidenten in Thüringen im Falle einer rot-roten Mehrheit weist in die gleiche Richtung.

Die Linke wird mit der Orientierung auf dieses politische Feld mittelfristig keine dynamisch-emanzipatorische Rolle spielen können, insbesondere wenn die Berliner Regierungsbeteiligung die Maßstäbe für die LINKE setzt.

Antikapitalistisch mit der „Sozialistischen Linken“ oder freiheitlich-sozialistisch mit dem „Forum Demokratischer Sozialismus“ zu sein – das ist aus unserer Sicht eine falsche Alternative, weil es sich in beiden Fällen um etatistisch orientierte Strömungen handelt; dies ist aber nur der Ausdruck der Wahrnehmung und Analyse der real existierenden sozialen und theoretischen Bewegungen. Das kann man Abgeordneten nicht vorwerfen, wohl aber, daß diese Positionen nicht ausreichend genutzt werden, Bildungs- und Organisationsprozesse an der Basis zu fördern.

Damit ist kein Motor für ein emanzipatorisches „cross over“-Projekt in der politischen Sphäre vorhanden. Die Dynamik des Parteibildungsprozesses zur Linken der Jahre 2005/2006 scheint vorerst stillgestellt. Eine rot-rot-grüne Koalition könnte bestenfalls die gröbsten Schweinereien der Schröder-Fischer und Merkel-Steinmeier-Administration beseitigen. Ein emanzipatorisches Projekt würde daraus aber noch nicht. Nicht nur, dass ein linkes Regierungsprojekt durch den fortschreitenden Involutionsprozess unter Druck kommt, weil – zumindest gegenwärtig – keine stabilen linken Wahlmehrheiten erzielt werden können. Darüber hinaus werden die Chancen für die parlamentarische Durchsetzung von zumindest sozialstaatlichen Positionen geringer, weil wir längst wieder gleichsam bei einem Drei-Klassen-Wahlrecht angekommen sind: In den reichen Elbvororten und Walddörfern von Hamburg, in denen die sogenannten respektablen Milieus wohnen, lag etwa die Wahlbeteiligung bei 70-80%, während z.B. in Wilhelmsburg, Billstedt, Altona nur 40-50% der Wahlberechtigten zur Wahlurne gegangen sind. Das Beispiel hat exemplarischen Charakter. Die städtische Armut geht nicht mehr wählen. Allerdings wächst auch der Unmut der „arbeitnehmerischen Mitte“ an den herrschenden Repräsentanten, wenn auch noch nicht durchgreifend am repräsentativen System.

Wir sind der Überzeugung, dass es dennoch eine Chance gibt, in der Linken bzw. mit ihr diese drängenden Fragen und Probleme aufzuwerfen und hoffen, dass der wachsende Druck der Verhältnisse und der außerparlamentarischen Bewegungen dazu ausreichen werden. Denn die Linke ist hier Stellvertreter und im Sinne einer partizipativen-emanzipatorischen Perspektive „Platzhalter“ für eine radikaldemokratische Bewegung für Gerechtigkeit und Gleichheit.

Der Focus der Selbstorganisation und -verwaltung ist in der Linken vor allem als Organisationskultur kaum entwickelt. Unseres Erachtens kann man dieses Thema aber nur dann wirklich diskutieren, wenn wir offen und ehrlich auch bestehende Zweifelsfragen aufwerfen. Es reicht nicht, die “Rätedemokratie“, “direkte Demokratie“ oder „demokratischen Sozialismus“ wie eine Monstranz vor sich herzutragen, ohne genauer ausführen zu können, was jeweils damit eigentlich gemeint ist. Diese Begrifflichkeiten sind keine reinen Heilsbringer, weshalb es dringend geboten ist, sich dialektisch mit ihrer immanenten Dynamik und Ambivalenz in theoretischer wie historischer Perspektive auseinanderzusetzen. Wir dürfen Demokratie nicht beiläufig zu einem Adjektiv machen; der demokratische Sozialismus ist nicht die Alternative zu einer sozialistischen Demokratie oder umgekehrt; beides muss Hand in Hand gehen, um die Risiken eines neuerlichen Versagens der Linken von der Qualität eines 1932 zu minimieren.

Hier stellen sich für uns z.B. folgende Fragen:
- Wie vermeiden wir Stellvertreterpolitik
- Wie stärken wir die „Zivilgesellschaft“ und antizipieren Demokratie als Lebensprinzip
- wie schaffen wir bürokratische Bevormundungsstrukturen ab, wie sie im „alten Sozialstaat“ vorherrschten

Insofern erblicken wir auch hier eine „Agenda der Abschaffungen“, die sich u.a. an diesen Fragen festmacht:
- Was muss an Vernetzung, was muss an politischer Bildung der Beschäftigten vorlaufen?
- Was leistet diesbezüglich das Internet?
- Wie kann man Komplexität reduzieren, um Entscheidungen zu ermöglichen, aber ohne zu vereinfachen?
- Können wir am alten Ideal marxscher Freiheitsvorstellung, nach der wir morgens Fischer, mittags Bauer, nachmittags Stahlwerker, abends Schriftsteller und nachts Liebhaber sind, festhalten? Wie soll das bei extrem komplexer Arbeitsteilung funktionieren?
- Auf welche politischen Einheiten beziehen wir direkte Demokratie?
- Was und wie läßt sich aus Skandinavien oder Lateinamerika oder von historischen Bewegungen lernen?


Das in der LINKEN organisierte politische Feld und seine programmatischen Orientierungen

Die Linke besteht im Kern aus zwei großen Kernmilieus: Zum einen aus dem durch die Schwächung bzw. Zerstörung sozialstaatlicher Regulierungsmechanismen funktionslos gewordenen Gewerkschaftsmilieu der mittleren Funktionärsebene. Dieser Flügel hat eine Perspektive der Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts durch eine offensivere Lohn- und Sozialpolitik im Blick. Zum anderen aus den depravierten politischen Eliten der ehemaligen SED. Dieser Flügel regiert bereits auf kommunalpolitischer Ebene mit, sitzt seit langem in den Landtagen und hat dort Regierungserfahrung gesammelt. Wir fassen diese Praxis unter dem Stichwort des Kampfes um Anerkennung durch die herrschenden politischen Eliten zusammen. Beide Flügel sind damit unter den gegebenen Umständen mental auf Defensive eingestellt.

Was fehlt, ist die Perspektive der Aneignung: Die gewerkschaftlichen Trägermilieus der Linken reagieren auf die jahrzehntelange Defensive der organisierten Lohnabhängigen mit der Neuauflage eines um einige ökologische Elemente angereicherten keynesianischen Projekts, dessen Realisierungschancen selbst auf transnationaler Ebene zweifelhaft sind. Verwunderlich ist, warum angesichts der langjährigen Erfahrungen insbesondere der betrieblichen und basisgewerkschaftlichen Aktivisten mit Co-Management und Sanierungsplanungen die nach Art. 15 Grundgesetz mögliche demokratische Sozialisierung der Unternehmen überhaupt keine Rolle spielt und Selbstverwaltung nirgendwo gefordert und zum Kernstück einer breiten radikaldemokratischen Mobilisierungskampagne gemacht wird. Stattdessen ist es abermals der Staat, der zur vornehmsten Adresse linker Politik gemacht wird: er soll sanieren und stützen, das heißt aber kapitalistische Ausbeutungsstrukturen erhalten.

Daneben werden diese Kernmilieus durch eine minoritäre linke Strömungen ergänzt, die sich aus ehemaligen DKP-Mitgliedern und Grünen, einigen Linkskatholiken, Attacis, jüngeren Aktivisten, Trotzkisten u.v.a.m. zusammensetzt und sogleich zahlreiche Plattformen mit mehr oder minder großem Anhang gebildet haben. Der Druck zu mehr Kooperation hat dazu geführt, daß theoretische und praktische Differenzen nicht mit Ausschluss oder durch Spaltung, sondern durch Diskussion gelöst werden sollen. Aber: die sich daraus notwendig ergebenden Widersprüche müssen produktiv und dialektisch gewendet werden, statt Anlass für zerfleischende und von der Sache ablenkende Strömungskämpfe zu sein. Stattdessen sind diese Auseinandersetzungen nach unserer Wahrnehmung unausgesprochenes Resultat des immer noch vorhandenen leninistischen Irrglaubens, die Linke sei eine Plattform, von der aus mit richtiger Führung organisierte Arbeiterklassenmilieus organisiert werden könnten.

Unser Eindruck ist, daß eine solche Diskussion in der Linken faktisch nicht stattfindet. Wir reden nicht den üblichen Strömungskämpfen das Wort, die auf der Tagesordnung stehen und als identitätspolitische Kompensation für nicht stattfindende inhaltliche Auseinandersetzungen dienen. Es fehlt daran, dass die Strömungen miteinander um die gemeinsame Sache und den besseren Weg nach dorthin streiten, und dies auf der Grundlage gegenseitiger Anerkennung und nicht in den Kategorien von Freund und Feind. Insofern deuten die Strömungskämpfe auf politische und theoretische Orientierungslosigkeit hin, im Rahmen derer sich innerhalb der Partei autoritäres Gebaren, d.h. politische Programmierungen von oben nach unten zu dekretieren, noch schneller und geschmeidiger durchsetzen können.

Es fehlt eine geistige Suchbewegung, die massenhaft nur von jüngeren Aktivisten getragen werden kann. Angesichts der altersmäßigen Zusammensetzung der Linken könnte dies nur von der Jugendorganisation oder den Studenten ausgehen. Davon kann aber nicht einmal im sich neu formierten Studierendenverband des SDS die Rede sein, der immerhin symbolisch das Erbe der sozialrevolutionären Strömung der späten 1960er Jahre angetreten, aber bisher nicht einmal annähernd auf deren theoretischen Niveau ist.

So erreicht keine der in der Linken lokalisierbaren Strömungen oder Gruppen die Milieus, die habituell libertär, fundamentaldemokratisch, internationalistisch und emanzipativ und damit gleichsam die eigentlichen Erben der 68er-Bewegung sind.
Damit ist ein theoretisches Problem bezeichnet: Wie entsteht aus sozialen Milieus heraus politisches Handeln? Um auf diese Frage eine theoretische Antwort zu bekommen, die auch eine Umsetzung in der politischen Praxis erfährt, bedarf es „organischer Intellektueller“, also Personen aus den verschiedenen Milieus, die selbsttätig sich geistig orientieren und politische Organisierungs- und Bildungsprozesse vorantreiben. Solche Personen wären vor allem auch aus einzelnen Berufsgruppen in die Partei zu integrieren, die Erfahrungen mit Streik- oder Protestbewegungen gemacht haben. Wir stellen jedoch fest, dass vielerorts in der Linken gegen die theoretische Reflexion ein gleichsam Intellektuellen-skeptischer Impuls vorherrscht, selbst, wenn diese nicht im akademischen Feld tätig sind.

Das Verhältnis der Linken zu gewerkschaftlichen Kämpfen und außerparlamentarischen Bewegungen

Seltsam unvermittelt erscheint der Aufschwung der Tarif- und sozialen Abwehrbewegungen mit dem Wachsen und der Konsolidierung der Linken. Insbesondere die Kämpfe der Eisenbahner und der Angestellten im öffentlichen Dienst haben durchaus beachtliche Erfolge erzielt. Von der Linken war nur wenig Solidarisierung zu vernehmen, die Partei hat zuwenig getan, die Streikbewegungen offensiv zu unterstützen.

Die Streikbewegungen der letzten Jahre sind allerdings ebenfalls von Illusionen gekennzeichnet. Hier zeigen sich die Widersprüche aber wesentlich schärfer. Und die Beschäftigten merken auch deutlicher, welche Teilerfolge, die auch immer Teil-Misserfolge sind, erzielt wurden. Allerorten wird mit neuen Formen des Arbeitskampfes experimentiert. Diese Experimente werden getragen von kleinen Gruppen, die es mit der gewerkschaftlichen Idee ernst meinen. Aber hat das politisch eine Perspektive? Den Streikbewegungen lag zumindest eine teilweise günstigere Arbeitsmarktsituation zugrunde: Man traut sich mehr, zumal die Sympathie der breiten Masse gewiß ist. Unter Bedingungen der Rezession werden dagegen viele Gewerkschafter an der Basis einem Frontalangriff der herrschenden Klasse nicht standhalten können – zumindest nicht, wenn es keine politisch organisierte Unterstützung gibt. Wer soll das leisten, wenn nicht die Linke? Das Versagen der Linken ist diesbezüglich beim Lokführerstreik deutlich geworden: Dieser wurde erst nach einem halben Jahr verbal unterstützt – von einer organisierten Solidarität einmal ganz zu schweigen. Seltsam unbeachtet bleibt auch die globalisierungskritische Bewegung, die mit dem G8-Gipfel in Heiligendamm wieder in Fahrt gekommen ist, sowie eine sich langsam formierenden kritischen Schüler- und Studentenbewegung, die zumindest in einigen ihrer Teile auch die theoretische Durchdringung des modernen Kapitalismus versucht.

Fazit

Geschichte wiederholt sich nicht. Das aber, was nicht zur Geschichte wurde, sagt Ernst Bloch, wiederholt sich durchaus. Wir müssen einen langen Atem beweisen, wenn wir in der Partei und mit der Partei in der Bundesrepublik und in der Welt etwas bewegen wollen. Wie schon Max Weber sagte, bedeutet Demokratie das Bohren dicker Bretter. Wenn wir also etwas bewegen wollen, sollten wir zielgerichteter und bewusster mit dem Bohren anfangen.

Wir rufen daher dazu auf:

1) in der LINKEN für die vertiefte Erarbeitung eines antietatistischen, emanzipativen Verständnisses eines demokratischen Sozialismus einzutreten;
2) Offen über die Probleme und Unwägbarkeiten eines Projektes einer sozialen, demokratischen, gewaltfreien und ökologischen Gesellschaft zu diskutieren;
3) ein Bündnisses der emanzipativen Strömungen in der LINKEN, den Grünen Linken, der sozialdemokratischen und radikalen Linken um ein konkretes Projekt Grundeinkommen herzustellen
4) sich an internationalistischen Zusammenhängen aktiv zu beteiligen, um nicht auf nationalstaatlicher Ebene hängenzubleiben.

Demokratischer und rechtsstaatlicher Sozialismus muss mehr Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit ermöglichen.

Obama und die Linke

Beitrag von Ben Trott, geschrieben am 21.11.2008
Obama: Yes we did

Obamas Wahlsieg ist von der Linken und ihren SympathisantInnen im Allgemeinen mit einer Mischung aus Wohlwollen und gesunder Skepsis aufgenommen worden. Natürlich hinterließ die Niederlage McCains und Palins allseits eine gewisse Schadenfreude. Wie viel Veränderung von Obamas Präsidentschaft vernünftigerweise erwartet werden kann, bleibt aber eine offene Frage.

Die bis jetzt vertretenen Positionen lassen sich grob in drei Kategorien unterteilen, die alle einen gewissen Wahrheitsgehalt für sich beanspruchen können. Einige BeobachterInnen meinen, Obamas Wahl hätte im Grunde von wichtigeren Dingen abgelenkt. Gesellschaftliche Veränderungen vollziehen sich danach kaum je auf der Ebene der politischen Repräsentation, und sicherlich nicht über das Amt des US-Präsidenten, sondern vielmehr durch soziale Bewegungen und Kämpfe von unten. Als Beispiel wird häufig die Rolle angeführt, die die sozialen Bewegungen gegen die ökonomische Globalisierung gespielt haben. Immerhin haben diese einen wichtigen Anteil an der Beendigung des „Endes der Geschichte“ und der Zerschlagung der ideologischen Hegemonie des Neoliberalismus. Es sei schon so mancher Wahlsieg mit Parolen gegen den Neoliberalismus gewonnen worden, aber die 'wirklichen' Veränderungsprozesse – sowohl auf der Ebene allgemeinen politischen Problembewusstseins als auch auf der konkreter politischer Entscheidungen – seien stets von unten eingeleitet worden: in den Dschungeln von Chiapas und auf den Straßen von Seattle, nicht aber im Palácio do Planalto.

Andere dagegen sehen in Obamas Wahl zum Präsidenten durchaus einen realen und symbolischen Sieg. In diesem Zusammenhang wird meist auf zwei Faktoren Bezug genommen. Erstens sind die politischen Versprechen Obamas und die Handlungsstrategien, für die er sich mit einiger Wahrscheinlichkeit entscheiden wird, tatsächlich 'progressiver' als die McCains. Beispielsweise verspricht Obamas gesundheitspolitisches Programm Millionen von Menschen die Vorteile einer Krankenversicherung. Außerdem waren sich nahezu alle außenpolitischen Experten der Welt darüber einig, dass ein Militärschlag gegen den Iran unter McCain wahrscheinlicher gewesen wäre als unter Obama. Natürlich gibt es Vorbehalte gegenüber manchen von Obama angekündigten Schritten wie etwa der erweiterten Militärpräsenz in Afghanistan. Manche zweifeln auch, ob Obama angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftslage in der Lage sein wird, seine ehrgeizigeren Reformen durchzusetzen. Aber unter den gegebenen Umständen (die sich, wie gern betont wird, niemand aussuchen kann), habe eindeutig 'der Gute' gewonnen. Obama bleibe, was er immer gewesen sei: die bessere Alternative zu einem US-Präsidenten namens McCain. Und eine Präsidentschaft Palins, die ja zwischenzeitlich nicht ausgeschlossen schien, hätte das (scheinbar) Unmögliche möglich gemacht, nämlich eine Verschlimmerung der US-amerikanischen Innen- und Außenpolitik nach George W. Bush.

Der zweite Faktor, der hier eine Rolle spielt, ist die Einsicht, dass Obama als gewählter Präsident zweifellos das Produkt antirassistischer sozialer Kämpfe ist. Hätte eine afro-amerikanische Frau in Alabama sich nicht eines Tages geweigert, ihren Busplatz für einen weißen Mann frei zu machen, und wären vor Jahrzehnten nicht Hunderttausende nach Washington gezogen oder hätten zivilen Ungehorsam praktiziert, dann wäre Obama nicht dort, wo er heute steht. Natürlich bedeutet diese Wahl nicht das Ende des Rassismus in den USA – das kann beim besten Willen nicht behauptet werden. Sie zeigt aber durchaus, wie weit der Kampf gegen den Rassismus vorangeschritten ist. Die Tatsache, dass die Chiffre POTUS (President of the United States) knapp vierzig Jahre nach dem Ende der Rassentrennung den Sohn eines Kenianers bezeichnen wird, stellt tatsächlich eine reale Veränderung dar.

Der dritten linken Einschätzung des Wahlausgangs zufolge ist Obamas Präsidentschaft weder vergleichsweise belanglos (wie bei der ersten Position) noch ein Zweck an sich (wie in der zweiten Position): In Obamas Präsidentschaft sei vielmehr eine potenziell günstige Veränderung der Bedingungen zu sehen, unter denen wir für eine bessere Welt kämpfen. Das ist der Ansatz, mit dem ich am stärksten sympathisiere. Er stützt sich natürlich teilweise auf die Argumente, die die VertreterInnen der anderen beiden Ansätze für ihre Positionen vorbringen. Sicherlich sagt die Tatsache, dass die Präsidentschaft Obamas überhaupt möglich ist, etwas aus über den Erfolg antirassistischer Kämpfe und Bewegungen in den USA während des letzten halben Jahrhunderts. Auch bedeuten die unter George W. Bush entstandene starke Antikriegshaltung und das Scheitern der Militärinterventionen in Afghanistan und Irak, dass Obama aller Wahrscheinlichkeit nach von der Nachahmung europäischer Imperialismusprojekte mehr Abstand nehmen wird, als es sein Vorgänger getan hat oder McCain (in geringerem Ausmaß) getan hätte. Die Rolle, die gering verdienende WählerInnen bei der Wahl Obamas gespielt haben, ist ebenfalls von Bedeutung. Es steht zwar nicht zu erwarten, dass Obama den US-amerikanischen Wohlstand so umfassend umverteilen wird, wie die Linke es gerne hätte, aber er wird wohl auch keine neuen Formen regressiver Besteuerung einführen, die diesen Reichtum noch weiter in den oberen Segmenten der Gesellschaft konzentrieren.

Die Präsidentschaft Obamas wird allerdings in dem Maße enttäuschend ausfallen, wie es linken Basisorganisationen und der institutionellen Linken innerhalb und außerhalb der USA in den nächsten Monaten nicht gelingt, realen Druck aufzubauen. Beträchtliche Teile der US-amerikanischen Antikriegs- und Gewerkschaftsbewegungen haben Obama bereits anlässlich der Vorwahlen unterstützt und 'ihren' Kandidaten dann seine gesamte Kampagne hindurch begleitet. Dabei haben sie sich mit Kritik an Obama zurück gehalten: Erst galt es Clinton, und dann McCain zu schlagen. Ob das eine sinnvolle Strategie war, soll hier nicht diskutiert werden; fest steht, dass die jetzige Übergangsphase von entscheidender Bedeutung ist.

Obama und seine zukünftigen Regierungsmitglieder formulieren zwischen jetzt und Ende Januar ihre wichtigsten politischen Programme; stellen ihre Beratungsteams zusammen und vergeben Schlüsselpositionen. Denkt man an die Ernennung Rahm Emanuels zum Stabschef – seine 'Parteigebundenheit' ist sicherlich das Unbedenklichste an ihm – oder an das Team von Wirtschaftsberatern, das Obama auf seiner ersten Pressekonferenz hinter sich versammelt hat, und in dem sich keine einzige Person mit gewerkschaftlichem Hintergrund befand, dann wird deutlich, wie dringend notwendig Druck von links ist. Die Antikriegsbewegung muss jetzt auf die Straße gehen, um auf dem raschen Truppenabzug aus dem Irak zu bestehen, den Obama versprochen hat, und um ihre öffentliche Opposition gegen die geplante Truppenversetzung nach Afghanistan auszubauen. Außerhalb der USA und insbesondere in Europa sollten die Bewegungen Druck machen gegen neuerliche Ansuchen um die Versetzung deutscher, britischer und anderer Truppen nach Afghanistan. Die US-amerikanische Gewerkschaftsbewegung muss darauf bestehen, an den Überlegungen zum Umgang mit der Wirtschaftskrise beteiligt zu werden. Gleichzeitig muss die gewerkschaftliche Basis sich darauf vorbereiten, gegen die Gewerkschaftsspitzen zu mobilisieren, die die Tendenz haben, sich auf wohlfeile Kompromisse einzulassen. Die Gewerkschaftsbasis muss auch damit beginnen, Tarifverhandlungsstrategien zu entwickeln, die es ihr erlauben, ihre Interessen auch während der Zuspitzung der gegenwärtigen Krise zu wahren.

Obamas Wahlsieg bedeutet also, dass sich die Bedingungen des Kampfes auf noch unbestimmte Weise verändert haben; zu Ende ist der Kampf sicherlich nicht. Wie eine Freundin, die als Gewerkschafterin an der Wahlkampagne Obamas beteiligt war, einige Tage nach der Wahl zu mir sagte: "Jetzt kommt der schwierige Teil."

Zum Autor:

Ben Trott promoviert an der FU Berlin. Er ist Mitglied des Redaktionskollektivs der Zeitschrift Turbulence und gestaltet derzeit für die Zeitschrift Red Pepper einen Blog, auf dem über die Bedeutung der Wahlkampagne Obamas für die globale Linke diskutiert wird. Eine englische Fassung dieses Beitrags ist auf Znet erschienen.


VEB Opel, PGH Fiat, Kombinat Siemens

Beitrag von Jörg Schindler, geschrieben am 19.11.2008

Opel braucht 1,8 Milliarden vom Staat. Warum? Weil die Tochter des GM-Konzerns mit der amerikanischen Mutter finanziell und auch in den Investitionsentscheidungen so eng verflochten sei, dass die Krise der US-amerikanischen GM-Marken Chevrolet, Buick, Cadillac, Pontiac und GMC die europäische Tochter in Schwierigkeiten bringe, erfährt man aus der FAZ.

Tatsache ist: Nicht nur diese Marken, sondern auch Saab, Suzuki, Daewoo und Vauxhall sind Teil des weltweiten GM-Konzerns. Letztlich dürften auch diese Marken von der Liquidität und Investitionsfähigkeit von GM abhängen. Wenn dem so ist, bedeutet das aber auch, dass der weltweite PKW-Herstellermarkt entgegen aller neoliberalen Quatsch-Comedy bereits seit langem Investitionsentscheidungen nicht in Konkurrenz, sondern vielmehr in Kooperation der Tochtermarken unter dem GM-Dach trifft. Was ja nicht schlecht sein muss. Und darauf verweist, dass die Rate des notwendigen konstanten Kapitals für technische Neuentwicklungen so hoch ist, dass sie nur in weltweiter Kooperation, nicht aber in Konkurrenz der Einzelkapitale überhaupt zu stemmen ist. Womit wir also bei dem Problem sind, welches die ollen MarxistInnen immer als Widerspruch zwischen notwendig gesellschaftlichem Charakter der Produktion einerseits und privater Aneignung der Ergebnisse der Produktion andererseits beschreiben.

Sozialistische Reformpolitik hatte in den 70er Jahren hieraus die Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus ("Stamokap") entwickelt. Danach sollte folgendes gelten:

1. Im Stamokap existieren in jeder Branche eine kleine Anzahl großer Konzerne, die branchenbeherrschend sind. Diese Großunternehmen stehen einerseits in Konkurrenz, aber auch in Kooperation zueinander und verfügen über eine immense Marktmacht. Wegen ihrer Größe und Marktbeherrschung sind sie rentabler und innovativer als kleinere Unternehmen. Kapital und Produktion konzentriert sich also bei den Großbetrieben, verbunden mit den Geldgebern, den Banken.

2. Die Monopolisierung bewirkt staatliche Eingriffe in die kapitalistische Produktionsweise, vor allem durch staatliche Steuerpolitik, Subventionen, Investitionen, Verteilungspolitik, Sozialtransfers etc. Durch diese staatlichen Einflüsse wird der Grundwiderspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privatkapitalistischer Aneignung entschärft. Denn der wissenschaftlich-technische Fortschritt macht staatliche Ausgaben erforderlich, um kostenintensive, produktivitätssteigernde Investitionen der Großunternehmen zu ermöglichen und über staatliche Nachfragepolitik für eine Kompensation des Rückgangs der Binnennachfrage zu sorgen, der mit der monopolistischen Aneignung gesellschaftlichen Reichtums verbunden ist.

3. Der ökonomische Einfluss der Großunternehmen wirkt in die Politik massiv hinein. Über Lobbyismus und personellen Verquickungen lenken die Konzerne die Richtung und Maßnahmen der Politik zugunsten ihrer Interessen. Letztlich ist der Staat ideeller Gesamtkapitalist im Dienste der Monopole.

4. Der hohe Grad gesellschaftlicher, wenngleich monopolisierter Produktion im Stamokap weist neben immensem Krisenpotenzial auch sozialistische Potenziale auf. Es kommt darauf an, die Produktion unter gesellschaftliche Kontrolle zu stellen, also Betriebe wie auch Staat zu demokratisieren. Die Richtung und das Wie der staatlichen Eingriffe ist also im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung, vor allem der Erwerbstätigen, umzulenken.

vom nationalen zum internationalen Stamokap
In den 70er Jahren erlebten wir einen nationalen Stamokap. Die internationale Verflechtung der Konzerne und Märkte machte ihm am Ende den Garaus, da eine supranationale Regulation nicht möglich war. Der Gau der Märkte nach 20 Jahren internationalen Neoliberalismus erzwingen aber eine Rückkehr, die gleichzeitig eine neue Form der Regulation darstellt: den internationalen Staatsmonopolistischen Kapitalismus. Denn klar ist - und auch die Regierungen der Industrieländer wissen das -: Es macht gar keinen Sinn, ein einzelnes Unternehmen, ob Opel, Microsoft, Vattenfall oder sonstwen, staatlich zu stützen. Die Verflechtungen bedeuten immer auch den Eingriff in die anderen, internationalen Tentakel des Konzerns. Und: Die Eingriffe in ein einzelnes Unternehmen bringt das Marktgefüge so durcheinander, dass von einem realen Marktgeschehen nicht mehr gesprochen werden kann. Vielmehr machen diese Eingriffe in Unternehmen und den Markt weitere Rahmenplanungen erforderlich, soll das eingespeiste Geld nicht nutzlos verpuffen. Letztendlich stellt sich also durch die Krise durchaus auch die Frage, ob Opel, Microsoft und Vattenfall nicht gleich direkt Teil gesellschaftlicher Rahmensteuerung sein soll. VEB Opel, PGH Fiat, Kombinat Siemens - nicht als DDR-Revival, sondern Gebot makroökonomischer Vernunft.

Argumente vom Homo-Stammtisch

Beitrag von Norbert Schepers, geschrieben am 18.11.2008
Klaus Lederer

Der Berliner CDU-Politiker Sascha Steuer eröffnete vor kurzem eine Debatte um homophobe Gewalt in Berlin (siehe z.B. hier und hier). Steuer verweist auf den "Migrationshintergrund" der Täter sowie das "Entstehen von Parallelgesellschaften" und knüpft damit an die unselige Leitkultur-Debatte der Union (siehe z.B. hier) an. In seinem Kommentar „Die Übergriffe machen uns Angst“ forderte Steuer im Tagesspiegel, Intoleranz und Gewalt junger Migranten in Berlin nicht länger zu dulden und warf der rot-roten Koalition Untätigkeit vor.

Klaus Lederer, Landeschef der Linkspartei, antwortete ihm an gleicher Stelle: "Kein Staat nimmt uns den Kampf ab" und verweist darauf, dass Homophobie aus der Mitte der Gesellschaft kommt und mitnichten exklusives Problem migrantischer Männer ist. So könne man ja schlecht den Bischöfen, die sich mit Sympathie gegenüber Schwulen schwer tun, (quasi im Sinne der Leitkultur-Debatte) die Ausweisung androhen. "Wir Lesben und Schwule, lehrt alle Erfahrung, müssen unsere Emanzipation in der Gesellschaft selbst erkämpfen. Dieser Kampf dauert schon Jahrzehnte und ist schwierig. Kein Staat nimmt uns das ab." Lederer verweist zugleich auf entschlossenes Handeln von Berliner Behörden. Dem Unions-Politiker Steuer empfiehlt er, die Diskriminierung gerade in der Mehrheitsgesellschaft anzugehen anstatt den "Homo-Stammtisch" zu bedienen.

Aus aktuellem Anlass also:
In der LesBar des »prager frühling« findet sich das Vortragsmanuskript Jeder für sich oder miteinander lernen? Der gemeinsame Ethikunterricht als eine Antwort auf die multikulturelle Realität Berlins von Klaus Lederer, mit Überlegungen zum gesellschaftlichen Miteinander, nicht nur ausgehend von der Debatte über einen Religionsunterricht an Berliner Schulen, sondern auch anhand der Frage nach dem Umgang mit gesellschaftlichen Einstellungen zur Homosexualität.

Jeder für sich oder miteinander lernen?

Beitrag von Klaus Lederer, geschrieben am 18.11.2008
Klaus Lederer

Vortrag beim Forum für Interkulturellen Dialog Berlin e.V. von Dr. Klaus Lederer, MdA, Landesvorsitzender DIE LINKE. Berlin, am 27.10.2008: Jeder für sich oder miteinander lernen? Der gemeinsame Ethikunterricht als eine Antwort auf die multikulturelle Realität Berlins.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

gestern haben in Deutschland zwei Ereignisse stattgefunden, die schon etwas sehr Besonderes an sich haben:

Ganz Duisburg-Marxloh war auf den Beinen, als eine der größten Moscheen Deutschlands eingeweiht wurde. Auf dem Grund, der früher ein Zechenwerk beherbergte, das stillgelegt worden ist, und dessen Hülle zunächst ebenfalls Gebetsräume aufnahm. Ein prachtvoller Bau mit einer Kuppel von 23 m Durchmesser steht inmitten des Ruhrgebiets, in einem Stadtteil, in dem ein Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner migrantische Wurzeln haben. Keine Proteste, keine Anwohnerinitiative gegen „religiöse Überfremdung“, keine Nazidemonstration hatte es gegeben. Im Gegenteil, die politische und über-konfessionelle Prominenz gab sich die Klinke in die Hand beim gestrigen E-vent. Niemand wollte fehlen, das Gedränge am symbolisch zu zertrennenden „roten Band“ muss unglaublich gewesen sein.

Wer dort rechtzeitig wieder aufbrach, es sich anschließend vielleicht mit einem Glas Ayran, Vodka, Milch, Coke, Wein, Ouzo, Bier oder Raki vor dem TV-Schirm bequem machte, erlebte um viertel nach Acht die Premiere des ersten deutschen Fernsehkommissars türkischer Abstammung, Mehmet Kurtulus, im „Tatort“ aus Hamburg. Auch das war eigentlich kein Thema für negative Projektionen. Es interessierte mehr die schauspielerische Darbietung, die neue Rolle. Erstmals wird nämlich auch undercover gearbeitet beim NDR, und da muss mensch natürlich genau hinsehen, was das Publikum zukünftig erwartet.

Zwei Beispiele, wie es gehen kann mit der Annäherung an Realitäten an ein gutes Miteinander. Reicht das und damit ist alles gut?

Selbstverständlich nicht. Auch Berlin erlebte vor wenigen Tagen eine Moschee-Eröffnung. Auch hier viel Politprominenz, auch hier viel Gedränge. Aber es gab eine Vorgeschichte. „Heinersdorf“ wurde zum Synonym für eine Kette von Demonstrationen und Aufrufen aus einer breiten Bevölkerungsschicht, die es teilweise mit der Abgrenzung zu NPD und Nazikameradschaften nicht so genau nahm. Gewarnt wurde in reißerischen Kampagnen vor einem „Feldzug der islamistischen Missionierung“ in einem vermeintlich von christlichen Werten beherrschten Gebiet, vor unkontrollierter Gefahr gesellschaftlicher Durchdringung durch das Fremde. Ein absurdes Theater angesichts des hohen Grades völlig Ungläubiger im Ostteil der Stadt. Ferner Ausdruck eines großen Maßes an Unkenntnis von der Komplexität der Welt und der Sichtweisen, Strömungen, kollektiven wie individuellen Glaubens- und Religionspraktiken, die sich selbst unter abstrakten Zuschreibungen zu Religionen – betrachten wir allein die großen Weltreligionen – verbergen.

Es hat eine ganze Weile gedauert, bis sich auch in Berlin ein Konsens der im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien durchsetzte, dem Religionsfreiheit als verfassungsmäßig verbriefte, demokratiebegründende und -sichernde Institution wichtiger war als das Reiten auf Stimmungen, die auch Angst und Befürchtungen einschließen. Angst vor dem, was mensch da nicht kennt, was unbekannt ist und was sich auch mit Ereignissen und Gefahren assoziieren lässt, die die „neue Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas) der globalen Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre mit sich gebracht hat.

Meine Damen und Herren,

es gibt aber nicht nur eine diffuse Angst, die aus Unkenntnis, Ressentiments und Schlichtheit resultiert. Es gibt auch eine Realität, die die Frage erzeugt: Wo geht es hin in unserer Gesellschaft? Schaffen es Menschen völlig unterschiedlicher Herkunft, Sprache, Kultur und Wertorientierung, gemeinsam in einem Gemeinwesen zu leben, ohne dass das im Kleinen zum „Clash of Civilizations“ führt, den Huntington schon in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschwor?

Hatun Sürücü wurde von ihrem Bruder auf offener Straße ermordet, weil sie anders liebte als es der Kodex ihres Bruders für sie vorsah. Andere Mädchen werden verheiratet, ohne ihren zukünftigen Mann auch nur gekannt, geschweige denn geliebt zu haben. Sexuelle Selbstbestimmung ist dabei offenbar kein Thema. Oder, nehmen wir ein anderes Beispiel: In einer Publikation der Ahmadiyya-Gemeinde, deren Moschee nun in Heinersdorf für die Gläubigen offensteht, wurde erklärt, der Verzehr von Schweinefleisch führe zur krankhaften Homosexualität. Und jüngst rief das in vielen öffentlichen Orten frei verteilte deutsch-arabische Magazin „al-Salam“ zur Verfolgung von Homosexuellen auf. Diese Beispiele ließen sich fortsetzen.

Gewiss, diese Realität ist nicht verallgemeinerungsfähig und sie kann nicht als Synonym für eine Religion oder eine besondere Form des Glaubens herangezogen werden, aber das ändert nichts daran, dass sie dennoch existiert und Assoziationen auslöst – oder für die Reproduktion von Assoziationen propagandistisch herangezogen wird, die dann oftmals Verallgemeinerungen und Vereinfachungen nach sich ziehen. Wenn ich vor diesem Hintergrund über den Berliner Ethikunterricht spreche, den die rot-rote Koalition im Ergebnis der Diskussion nach dem Mord an Hatun Sürücü (auch und gerade in Zurückweisung der im auf das Ereignis folgenden aufgeheizten öffentlichen Diskurs vorgebrachten Forderung der christlichen Kirchen nach einem allgemeinen und verbindlichen Religionsunterricht) eingeführt hat, dann kann ich das erst, nachdem ich zu einigen grundsätzlicheren Fragen ein paar Bemerkungen gemacht habe. Grundsätzlicher deshalb, weil die Frage: „Was tun für eine erfolgreiche Integrationspolitik?“ erst beantwortet werden kann – und auch in Abhängigkeit davon beantwortet werden wird -, wenn wir uns über die Problemlage einig sind. Und hier liegt natürlich ein erstrangiges Problem, denn bei den unterschiedlichsten Forderungen schwingt natürlich die Diagnose, worin denn eigentlich das Problem bestehe, immer unausgesprochen mit.

Hier aber ist anzusetzen, und ich will – nachdem ich eben einige Beispiele genannt habe, die sich vor dem Hintergrund einer multikulturellen Realität als Differenzen zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheitsgesellschaft, Deutschen und migrantischen Berlinerinnen und Berlinern interpretieren und instrumentalisieren lassen – auch noch einige andere Beispiele aufzählen. Daran wird vielleicht deutlich, dass die Sachlage so einfach nicht ist:

In Potzlow im Land Brandenburg wird im Jahr 2002 ein 17-jähriger Jugendlicher von falschen „Freunden“ auf die abscheulichste Art und Weise gefoltert und ermordet, weil er nicht ihrem Bild von einem „anständigen“ Mitbewohner entsprach. Nächstes: Eine vielzitierte Studie zu Einstellungen gegen-über Homosexualität und Homosexuellen aus dem vergangenen Jahr berich-tet, dass 79% der befragten Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund es abstoßend finden, wenn sich zwei Männer küssen. Nicht soviel bis überhaupt nicht zitiert wird die Tatsache, dass es auch 48% der befragten deutschen Jugendlichen abstoßend finden. Vergessen wird gern, dass die strafrechtliche Diskriminierung Homosexueller in Deutschland erst seit 1994 beseitigt ist, dass die Lebensgemeinschaft von Männern mit Männern oder von Frauen mit Frauen erst seit 2001 existiert und bis heute der Ehe nicht gleichgestellt ist. Vergessen wird gern, dass die katholische Kirche Homosexualität nach wie vor als Sünde betrachtet, über die Gleichberechtigung von Frau und Mann will ich hier gar nicht reden. Und auch manch konfessionslose Eltern brechen den Kontakt mit Tochter oder Sohn noch heute auf lange Zeit ab, weil sich die Sprösslinge ihnen gegenüber als schwul oder lesbisch geoutet haben.

Und wenn Sie, meine Damen und Herren, sich wundern, warum viele meiner Beispiele mit dem Thema Heteronormativität zu tun haben, dann, erstens, weil sich gerade das besonders gut eignet, um deutlich zu machen, dass es nicht immer so weit her ist mit den Differenzen zwischen den vielbeschworenen gemeinsamen Werten der Aufnahmegesellschaft zu denen der Minderheitsgesellschaft, und zweitens, weil es mich selbst in meiner eigenen sexuellen Orientierung besonders betrifft.

Meine Damen und Herren,

in Berlin leben Menschen aus mehr als 100 Staaten, in Berlin leben aber auch Berlinerinnen und Berliner, die in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrzehnten aus den verschiedensten Gründen, Motiven, Zwängen und Erwartungen in diese Stadt gekommen sind. Sie sind durch unterschiedlichste Erfahrungen und Sozialisierungsprozesse geprägt, die ihre Sicht auf Gesellschaft, auf das gemeinsame Miteinander, ausmachen. Und deshalb bin ich der Ansicht, dass es in die Irre führt, die Dinge in einer Bipolarität von „hier – wir, die Mehrheitsgesellschaft“ und „dort – ihr, die nach uns gekommen sind“ zu betrachten.

Spätestens das Jahr 1968 steht für eine umfassende kulturelle Ausdifferenzierung von Lebensweisen und Lebensentwürfen in der deutschen Gesellschaft, aber auch über sie hinaus. Spätestens mit dem Ende der fordistischen Produktionsweise ist die Welt massiv anders geworden. Fordismus, das war: Vollbeschäftigung und Massenproduktion und Massenkonsum, vom Modellhaus in der Modellsiedlung bis zum Modellauto, Werkarbeit in Schichten am Fließband, Rolle des Vaters als Alleinernährer der Familie. Fordismus, das war: Uniformität von Lebensentwürfen und Erfolgsmaßstäben. Fordismus, das war auch: Spießigkeit und Ausgrenzung aller Lebensweisen, die sich in diesem Existenzmodell nicht aufheben lassen.

Seit dreißig, vierzig Jahren haben wir es mit einer Vielzahl gesellschaftlicher Umbruchs- und Ausdifferenzierungsprozesse zu tun, mit völlig neuen Formen individueller und sozialer Selbstverwirklichung, aber auch mit neuen Formen sozialer Unsicherheit, Zukunftsangst und sogar sozialer Entwurzelung. Für viele Menschen bedeutet das eine gravierende Veränderung ihrer Lebensbedingungen. Und die Menschen sind eben nicht eine große Ansammlung von iso-lierten Individuen in einem gleichartigen gesellschaftlichen Umfeld. Menschen haben eine Geschichte – ihre unmittelbar eigene und die vermittelte Geschichte, die sie kulturell und sozial geprägt hat, die sie im Prozess ihrer eigenen Auseinandersetzung mit ihrer sozialen Umwelt annehmen oder über Bord werfen, aber vielleicht trotzdem niemals loswerden. Menschen leben immer eingebunden in lokale und soziale Räume, in Gruppen, Familienkontexte und Traditionszusammenhänge, die sie beeinflussen und von denen sie beeinflusst werden. In diesem Kontext wird man diejenige oder derjenige, der als Mensch auf andere zutritt, sozialen Kontakt sucht und pflegt, Werte erwirbt, lebt und weitervermittelt. Und diese Wertestrukturen sind heute – im postfordistischen Zeitalter – mehr denn je in Bewegung. Sie geraten in Konflikte, schieben sich zusammen oder entwickeln sich auseinander, sie sortieren sich neu.

Das führt ohne Zweifel zu Fortschritten in Hinblick auf die Universalität von Selbstbestimmungsrechten und freier Entfaltung der oder des Einzelnen. Aber es führt auch zu Gegenkräften und zu Verwerfungen, zur Verstärkung einfacher ideologischer oder theologischer Sichtweisen von Welt, zur Sinnsuche in einer gedachten „kollektiven Identität“, worin auch immer diese bestehen mag. Und es gibt Menschen, die es leichter haben, sich als eigenständige und selbstbestimmte Individuen zu entwickeln und zu finden, und es gibt Menschen, die haben es um einiges schwerer. Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen führen aller Erfahrung nach nicht per se zu einer Offenheit gegenüber dem selbst wahrgenommenen „Anderssein“, obgleich Anderssein heut die Normalität ist, wenn wir uns die Vielzahl verschiedenster Lebensweisen allein in unserer Stadt anschauen.

Meine Damen und Herren,

diesen Prozess können wir einfach „laufen lassen“, und – insbesondere, wenn etwas erkennbar schief läuft – mit Appellen an „Leitkultur“ oder „gemeinsamen Wertekanon“ begleiten. Oder wir können uns darum bemühen, ihn zu gestalten, in ihn einzugreifen, ihn zu beeinflussen.

Was tun? Meine Überlegungen setzen zunächst beim gegenwärtigen Stand der Dinge an, und hier würde ich gern festhalten: Unsere Gesellschaft hat auf diese Herausforderungen in den seltensten Fällen brauchbare Antworten gefunden. Das Rechtssystem, das Schulsystem, das Staatsbürgerschaftsrecht, das Recht der sozialen Sicherung – all diese Systeme sind bisher nicht auf die neuen Fragen eingestellt. Wir antworten daher systematisch so, wie es früher geschah. Beispielsweise: Mehr „Erziehung“, mehr „geordnete Strukturen“ für die alltägliche Lebensgestaltung, für auf Transferleistungen angewiesene Menschen umfängliche Kontrolle und Überwachung ihrer Lebensregungen. Es wird versucht, durch Paternalismus und Repression all das zu kompensieren, was einstmals durch die Hegemonie der uniformen fordistischen Lebensweise im gesellschaftlichen Raum „sich von selbst geordnet“ hat. Merkwürdigerweise kontrastiert das Setzen auf diese Bürokratisierung des Lebens auf eigentümliche Weise mit den Versprechen rücksichtsloser Freiheit und Selbstentfaltung des Einzelnen – mit dem postfordistischen Lebensideal, dass uns in den vergangenen Jahrzehnten von den Eliten unserer Gesellschaft, ob in der Fernsehwerbung, im Politsprech oder in den Selbstbeweihräucherungs-Ansprachen der großen Gewinner und Erfolgsmenschen, gebetsmühlenartig vorgekaut wurde. Was dann wiederum zu realen gesellschaftlichen Folgen führte: Denn spätestens da rastet aus, wer in der Hauptschule sitzt und weiß, dass sie oder er niemals eine Chance haben wird, einen Beruf zu erlernen oder ein eigenes selbstverdientes Einkommen mit nach Hause zu bringen, das eigene Refugium zu schaffen oder den eigenen ausgemalten und gewünschten Lebensentwürfen eine materielle Unterfütterung zu verschaffen.

Hinter diesem Ruf nach staatlicher Ordnung der gesellschaftlich hervorgerufenen Unordnung steht nicht das Bild des eigenverantwortlichen, humanistischen und sozialen Individuums, das in Solidarität und mit Selbstbewusstsein mit anderen Menschen interagiert und kommuniziert. Hinter diesem Ruf steht nach wie vor die im autoritären Denken verwurzelte Hoffnung, das Gemeinwesen und der diffizile gesellschaftliche Prozess ließen sich durch staatliche Steuerung und Anordnung – gegebenenfalls durch Belohnung normgerechten und Sanktionierung devianten Verhaltens – geradlinig steuern.

Wo das aber ersichtlich nicht mehr genügt oder funktioniert, wird dann nach den „gemeinsamen Werten“ und gern auch sofort nach den Segnungen der Religion und des Glaubens gerufen. „Werte gibt es nur mit Gott“ plakatierte die Evangelische Kirche in Deutschland vor wenigen Jahren in der gesamten Bundesrepublik und erklärte damit Millionen Atheisten, dass sie wertelos seien...

Meine Damen und Herren,

ich muss an dieser Stelle noch eine Zwischenbemerkung machen, damit keinerlei Missverständnisse aufkommen:

Selbstverständlich bin ich der Ansicht, dass etwa Mord, Totschlag, Körperverletzung, Beleidigung und Volksverhetzung staatlich sanktioniert werden müssen. Wer anderen Menschen Straftaten antut, ist zumindest mit Blick auf die konkrete Straftat kein „Fall“ fehlgeleiteter emanzipatorischer Selbstentfaltung bzw. für die Selbsthilfegruppe oder die Sozialarbeit, und sollte insoweit auch nicht zu weiterer Selbstverwirklichung ermuntert werden. Im Gegenteil. Wo das passiert, sind Polizei und Justiz zuständig und müssen handeln.

Wo das aber nicht der Fall ist, wo nicht diskriminierende, verletzende Handlungen – oder anders: Straftaten – zur Diskussion stehen, sondern Sichtweisen und Einstellungen, lässt sich mit der Polizei und mit der Staatsanwaltschaft überhaupt nichts erreichen. Ich kann nicht bestrafen, dass jemand denkt: „Da küssen sich zwei Männer, wie eklig!“ Und auch eine Gesinnungspolitik derart, dass Wohlverhalten, in welcher Hinsicht auch immer, zur Voraussetzung von sozialen Leistungen und Ansprüchen an das – oder gar für die demokratische Teilhabe im – Gemeinwesen gemacht werden, ist komplett sinnlos und kontraproduktiv. Das vertieft bestenfalls Ausgrenzungsempfindungen und schließt Menschen für eine offene, akzeptierende Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt eher zu als auf.

Es kommt aber noch etwas anders hinzu, und das ist unser Wissen um die Wirksamkeit von gesetzlichen oder auch gesellschaftlichen Normen. Gesetzliche Normen entstehen durch Mehrheitsentscheidung, aber die meisten Normen gelten nicht deshalb oder werden deshalb von so vielen Menschen eingehalten, weil sie Gesetze sind. „Werte“ beispielsweise sind gelebte Normen und, wenn sie gesellschaftliche Bindungskraft entfalten sollen, dar-auf angelegt, (auch ohne Anordnung, Staat, Parlament und Ordnungsamt) durch die große Mehrheit der Gesellschaft akzeptiert und reproduziert zu werden – im täglichen Gebrauch. Das gilt oftmals sogar für die Normen, die darüber hinaus noch in Gesetzen stehen, etwa im Strafgesetzbuch. Ich selbst zum Beispiel morde nicht deshalb nicht, weil das bestraft wird, sondern weil es sich mit meinen individuellen Werteeinstellungen nicht vereinbaren lässt.

Gemeinsame Wertekonsense schaffen wir deshalb nicht durch Mehrheiten in Parlamenten oder bei Wahlen. Sie lassen sich nur durch gesellschaftliche Übereinkunft herbeiführen. Gesellschaftliche Übereinkunft setzt aber einen Prozess voraus, in dem über den Inhalt dieser Übereinkunft gestritten wird. Über diesen Prozess müssen wir reden. Wie organisieren wir ihn gemeinsam? Wie wird er so angelegt, dass er nicht von vornherein ein ausgrenzender Prozess ist, in dem es heißt – hier: wir, dort: ihr. Nichts anderes aber ist der „Leitkultur“-Diskurs, der immer wieder eingefordert wird. Ja, das Grundgesetz ist das generalisierende Maß für das Funktionieren unseres Gemeinwesens. Und es enthält Gebote, die ohne Weiteres als Grundlage und Ausgangspunkte für einen Diskurs um gemeinsame Wertmaßstäbe taugen: Menschenwürde, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Privatheit und vieles andere mehr. Und selbst wenn Grundrechte sich ihres Charakters nach gegen die Institutionen des Staates richten, so wird heute immer deutlicher, dass es wichtig ist, sie auch als „Verkehrsregeln“ des gesellschaftlichen Umgangs unter Individuen und kollektiven nicht-staatlichen Akteuren anzuerkennen. Das möchte ich als Rahmen einer interkulturellen Verständigung auch gern anerkennen.

Aber selbst das Grundgesetz schreibt eben nicht im Einzelnen vor, wie Sie und ich mich uns in bestimmten Situationen zu verhalten haben und wie eher nicht, wie Konflikte zwischen Ihnen und mir aufzulösen, zu schlichten oder gegebenenfalls zu entscheiden sind. Unsere Verfassung ist ausfüllungsfähig und ausfüllungsbedürftig. Sie ist die „Geschäftsordnung“ des gesellschaftlichen Miteinanders, nicht mehr – aber immerhin auch nicht weniger. Sie ist ein „lebendes“ Instrument. Anders wäre es nicht erklärbar, dass der Bundesgerichtshof noch in den fünfziger Jahren das „Recht des Ehemannes auf Beischlaf“ ausgeurteilt hat und dies mit der Verfassung für vereinbar halten durfte. Auch das Bundesverfassungsgericht hat es in Auslegung der Grundgesetznormen für erforderlich gehalten, aus einer „staatlichen Schutzpflicht“ die Notwendigkeit der besonderen Sanktionierung einvernehmlicher homosexueller Handlungen zwischen Männern nach § 175 StGB damaliger Fassung abzuleiten. All das sind Dinge, die uns aus unserer heutigen Vorstellung von den „Werten des Grundgesetzes“ als vollends abenteuerlich erscheinen. Das zeigt doch aber nur, dass es „die Werte“ des Grundgesetzes als quasi „vorgesellschaftliche“ Regeln nicht gibt.

Manche von Ihnen erinnern sich möglicherweise an den Koalitionsstreit 2004 zwischen SPD und – damals – PDS um das Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst. Die PDS meinte, es sei Integrationshindernis und Stigmatisierung, (insbesondere sich gegen einzelne Religionen richtende) Symbole des Glaubens im öffentlichen Raum zu verbieten. Das kann auch mit Verweis auf die „negative Religionsfreiheit“, also das Recht, vom Glauben anderer verschont zu bleiben, nicht wirklich begründet werden. Die Glaubensfreiheit schließt das Glaubensbekenntnis ein – nicht das des Staates, er darf, das versteht sich von selbst, keines haben, und deshalb richtigerweise auch in Bayern keine Kruzifixe in Schulräumen veranlassen. Wohl aber das Glaubensbekenntnis des Individuums, dessen Dasein sich nicht in ihrer bzw. seiner Eigenschaft als Staatsdienerin oder Staatsdiener erschöpft, sondern eben mehr ist: eine facettenreiche Existenz. Wir meinen nach wie vor, die mit dem Ertragen anderer Sichten und Religionsbekenntnisse verbundenen Zumutungen sind auszuhalten und können in einer pluralen und offenen Gesellschaft auch ausgehalten werden. Die SPD war bekanntlich anderer Ansicht und am Ende der Verhandlungen stand, wie es in solchen Fällen üblich ist, ein Kompromiss, der – soweit verbotsrelevant – alle Religionsgemeinschaften und Bekenntnisse gleichermaßen betraf. Ich kann und will das hier nicht weiter ausführen, Fakt ist: in solchen Fällen helfen mir weder das Grundgesetz, noch ein „gemeinsamer Wertekanon“ noch eine wie auch immer geartete, vermeintlich mehrheitliche „Leitkultur“. Diese Parolen sind insbesondere von denjenigen ins Feld geführt worden, die im Tragen des Nonnenhabits bislang keinerlei Zumutung erkennen konnten. Im Übrigen ist das ein Beispiel dafür, wie verlogen und auf Privilegiensicherung ausgerichtet ein Diskurs sein kann, der sich – vordergründig betrachtet – an der Sicherung der individuellen Religionsfreiheit – und sei es in ihrer „negativen“ Form, bestimmte Dinge nicht zu glauben – orientiert. In solchen Fällen, in denen der gemeinsame Rahmen nicht allgemein akzeptiert von vornherein „abgesteckt“ ist, hilft nur der organisierte und offene, diskursive gesellschaftliche Prozess gemeinsamer Regelfindung. Und das geht nur, wenn alle Beteiligten die Chance haben, ihn gleichermaßen mit zu gestalten und zu führen.

Im Einzelnen hat das hochkomplizierte Konsequenzen. Es führt nämlich auch dazu, dass die Frage nach der Religion und ihrer Rolle mitdiskutiert werden muss – nach dem Verhältnis zwischen Glauben und Handeln, dem Verhältnis zwischen Glaubensbefehl, Einstellung und Handlung, aber auch den Prioritäten zwischen dem für sich selbst als „richtig“ erkannten göttlichen Handlungsbefehl und den Anforderungen eines akzeptablen gesellschaftlichen Miteinanders in der modernen und pluralen Gesellschaft. Und das hat dann möglicherweise auch schmerzhafte Konsequenzen einer Selbstbefragung von Individuen und Kollektiven in der Gesellschaft.

Ich komme an dieser Stelle auf das Thema „Homosexualität und Gesellschaft“ zurück und zitiere auch an dieser Stelle die Studie über Einstellungen zur Homosexualität von 2007, aus der ich vorhin schon einmal einige Daten herangezogen habe. Der Autor Bernd Simon schreibt dort im Resümee unter dem Titel „Was ist zu tun?“: „Notwendig ist (...) der offene, aber auch kritische, interkulturelle Dialog in gegenseitigem Respekt. Ein solcher Dialog wird sicherlich Zumutungen für alle Beteiligten und ihre jeweiligen individuellen und kollektiven Perspektiven beinhalten, die es gemeinsam auszuhalten gilt.“ Was für mich bedeutet, dass ich mich mit Menschen in den Dialog begeben muss, die die Art, wie ich lebe, für sich selbst und ihresgleichen ablehnen und auch abstoßend finden, und sich heut noch nicht vorstellen können, dass das einmal anders wird. Aber sie müssen wahrnehmen, dass auch sie nicht das Recht haben, eine „Leitkultur“ einzufordern. Daraus folgt für extrem polarisierende und verallgemeinernde Teile „meiner“ eigenen Community, dass sie sich einen Satz besonders hinter die Ohren schreiben sollten, den der Autor Bernd Simon ebenfalls in seinem Resümee geschrieben hat: „Vermieden werden sollte (...) der Versuch, „Homophobie“ durch „Islamophobie“ zu ersetzen. Letzteres käme dem Versuch gleich, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu wollen. (...) Solchen Versuchen muss sich auch die Lesben- und Schwulenbewegung entgegenstemmen trotz kurzfristiger realpolitischer Verlockungen, die möglicherweise lauern. Lesben und Schwule würden sich in der Gesellschaft des islamophoben Beelzebub nicht lange wohlfühlen bzw. dort nicht lange unbehelligt bleiben, da der Abgrenzung nach außen meist sehr bald die „Säuberung“ im Inneren folgt.

Meine Damen und Herren,

möglicherweise werden Sie sich jetzt fragen: Was hat all das mit dem Thema „Ethik- oder Religionsunterricht?“ zu tun? Das ist relativ einfach beantwortet: Es geht um die „Methodik“ des interkulturellen Dialogs, um seine Voraussetzungen und Regeln, nicht zuletzt um den Raum, in dem er sich tatsächlich abspielen soll. Denn ansonsten bleibt er eine wohlfeile Formel, die immer wieder beschworen, tatsächlich aber nirgendwo praktiziert wird. Es geht um eine Option, sich über das Gemeinsame zu verständigen, und zwar in einer Weise, dass die Ergebnisse nicht von vornherein feststehen oder sogar Gegenstand staatlicher Beurteilung – durch Benotung oder Nicht-Versetzung in die nächsthöhere Klasse – sind. Das, meine ich, folgt aus dem von mir vorher Gesagten.

Eingangs einige Hintergrundinformationen zur Debatte um „Pro Ethik“ beziehungsweise „Pro Reli“: Der Streit um die Initiative „Pro Reli“ dreht sich um die Frage, ob der reguläre Religionsunterricht für konfessionell gebundene Schülerinnen und Schüler, den es in Berlin bislang schon gibt, zu einem versetzungsrelevanten (und damit benoteten) Wahlpflichtfach aufgewertet werden soll. Bislang ist das ein freiwilliges Zusatzfach. Das bisherige und von Rot-Rot eingeführte (notenfreie, vornehmlich diskursiv ausgerichtete) konfessions- und schülerübergreifende Fach „Ethik“ soll dagegen zur Alternative für all diejenigen avancieren, die keiner Konfession angehören.

Hinter der Entscheidung über die Initiative „Pro Reli“ steht eine entscheidende Frage: In welchem Verhältnis sollen Staat und Schule in Berlin zur Religion stehen? Selbstverständlich ist Glaube und Religion für viele Menschen ein wichtiger Aspekt ihres Lebens. Sie können eine wichtige Rolle für die individuelle Entwicklung spielen, können ein Gegengewicht zu staatlicher Allmacht und auch zur tendenziell alle Lebensverhältnisse durchdringenden postfordistischen Ökonomisierung bilden. In diesem Sinne ist es auch richtig, wenn der Staat im Rahmen der Verfassung fördernd tätig wird. So wie wir es in Berlin tun. Denn der Religionsunterricht wird vom Staat bezahlt und er findet in staatlichen Schulräumen statt. Und die Einführung des Faches „Ethik“ hat daran nichts, aber auch gar nichts, geändert. Katholiken, Protestanten, Muslime, ja, selbst Buddhisten und der Humanistische Verband für konfessionsungebundene Menschen, nutzen diese Option. Nun wird von den Verfechtern des Wahlpflichtfachs „Religion“ der Rückgang von Schülerzahlen bedauert, der ersichtlich daraus resultiert, dass manche Kinder sich – neben „Ethik“ – nicht noch ein zusätzliches Schulfach in den Lehrplan nehmen wollen. Doch, offen gestanden, das ist erstens keine relevante Zahl, und zweitens – und das scheint mir entscheidender:

Es gibt kein Recht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, von „Konkurrenz“ durch staatliche Unterrichtsinhalte freigehalten zu werden. Und wer behauptet, nur die Religionsgemeinschaften selbst seien in der Lage, die „optimale Wertevermittlung“ zu betreiben, beginnt die eigene Werteebene allen anderen Werteebenen gegenüber zu privilegieren und unterminiert damit genau den von mir eingeforderten Wertediskurs auf gleicher Augenhöhe.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

die mit der Pluralisierung und Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft und unserer Stadt verbundene Wertevielfalt erfordert meines Erachtens sogar zwingend einen gemeinsamen Werteunterricht. Gerade in solchen von Einwanderung und Migration geprägten lokalen Gemeinwesen wie Berlin ist es unverzichtbar, dass alle Menschen – mit den jeweils unterschiedlichen Zugängen zu ethischen Fragen – lernen, mit unterschiedlichen religiösen und kulturellen Prägungen umzugehen, Konflikte auf eine vernünftige und menschliche Art und Weise zu bearbeiten und zu lösen, Toleranz nicht nur in Bezug auf sich selbst und ihre eigene Lebensweise zu predigen, sondern als universelle Maxime im Miteinander zu erlernen und zu leben.

Daraus – also von diesen modernen Anforderungen an das gesellschaftliche Miteinander her – ist die Funktionsbestimmung von Staat und Schule im gesellschaftlichen Miteinander abzuleiten. Meine Kollegin, die Rechtswissenschaftlerin Kirsten Wiese, beschrieb die Rolle der Schulen so:

„Die staatlichen Schulen haben die Aufgabe, die Fähigkeiten zu vermitteln, die für das Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft erforderlich sind. (...) Ein staatlicher Ethikunterricht, in dem sowohl die kommunikativen Fähigkeiten für den Interkulturellen Dialog als auch das grundlegende Wissen über unsere Verfassungs- und Menschenrechte vermittelt werden, ist dafür ein gutes Mittel. Natürlich stehen den Schulen auch andere Wege offen: In bereits existierenden Fächern, wie Deutsch, Geschichte und Philosophie kann gleichfalls Toleranz gelehrt werden. Für einen Ethikunterricht spricht aber, dass es mit ihm an der Schule einen Ort gibt, an dem die Konflikte des interkulturellen Zusammenlebens explizit thematisiert werden. (...)
Religionsunterricht kann einen solchen Ethikunterricht nicht ersetzen. Denn universelle Menschenrechte beanspruchen ja gerade unabhängig vom jeweiligen Bekenntnis Geltung. Und die Fähigkeit, allen Religionen und Weltanschauungen gleichermaßen mit Respekt zu begegnen, setzt ein zumindest grundsätzliches Wissen über diese Religionen und Weltanschauungen voraus. Auch ein Konfessionsloser sollte sich deshalb mit dem Christentum befassen und eine Muslimin mit dem Judentum. LehrerInnen im bekenntnisgebundenen Unterricht aber sind nicht verpflichtet, jede Religion gleichermaßen darzustellen. Ihnen steht es frei, nur eine bestimmte Religion zu vermitteln und zu propagieren. Mag sein, dass einzelne ReligionslehrerInnen das ganze religiös-weltanschauliche Spektrum ausgewogen behandeln. Doch eine Garantie dafür gibt es nicht. Dass in einem muslimischen Religionsunterricht das Judentum und die christliche Lehre wie der Islam behandelt werden, ist kaum zu erwarten. Ebenso wenig ist damit zu rechnen, dass in einem katholischen Religionsunterricht die Gleichstellung der Geschlechter en détail im Sinne des Grundgesetzes dargestellt wird. (...)
Der Staat ist aber nicht befugt, es allein den Religionsgemeinschaften zu überlassen, soziale Kompetenz und ethische Urteilsfähigkeit zu vermitteln. Dem steht die im Grundgesetz verankerte Trennung von Staat und Kirche entgegen. Nein, der Staat muss die Kompetenzen, die er für das demokratische Miteinander als notwendig erachtet, selbst an öffentlichen Schulen vermitteln. Werden SchülerInnen per Wahlpflichtfach vor die Entscheidung gestellt, entweder den Religions- oder den Ethikunterricht zu besuchen, dann ist das genauso falsch, als würde man ´Politik´ an der Schule entweder (also wahlweise) durch staatliche Lehrkräfte oder durch politische Parteien unter-richten lassen.“
Ich habe dieser Analyse kaum noch etwas hinzuzufügen. Unser aller Ziel muss sein, dass alle jungen Menschen die Schule mit einem ausgeprägten demokratischen Grundverständnis und dem Respekt vor anderen Weltanschauungen verlassen. Das muss gelernt werden.

Und wenn ich an dieser Stelle hinzufügen darf: Mir wäre wichtig, dass auch soziale Differenzierungen nicht zu unterschiedlichen Bildungserfahrungen und Bildungschancen führen. Deshalb ist es wichtig, dass auch über die Gliederung unseres Schulsystems anders und kritischer diskutiert und daraus Konsequenzen für die Organisation unserer Schule abgeleitet werden. Das ist der nächste, aber ein mit dieser Frage eng zusammenhängender, Schritt. Denn was nützt es uns, wenn sich die ethnische und religiöse Pluralität unserer Gesellschaft in den verschiedenen Schultypen nicht widerspiegelt, weil eine bestimmte Form von sozialer und ethnischer Wurzel die Jugendlichen schon von vornherein für eine Existenz in der chancenlosen Hauptschule oder ein Bildungserlebnis bis zum Abitur prädestiniert? Wir brauchen über den Ethikunterricht hinaus ein längeres gemeinsames Lernen Aller in unserer Schule. Aber das ist ein neues und ebenfalls erschöpfendes Thema für sich – und deshalb will ich hier noch einmal zusammenfassen und dann schließen:

Ein Wahlpflichtfach Ethik/Religion, bei dem die Klassen nach der Religionszugehörigkeit aufgeteilt lernen, ist gerade im multikulturellen und multireligiösen Berlin der absolut falsche Weg. Wir brauchen das gemeinsame Fach „Ethik“, wir brauchen die gemeinsamen Erfahrungen und den produktiven Streit, der das Miteinander stärkt und die individuellen sozialen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler befördert.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und für Ihre Geduld!

Global Labor History reloaded

Beitrag von Bernd Hüttner, geschrieben am 18.11.2008
Bernd Hüttner, Rosa-Luxemburg-Stiftung

Marcel van der Linden ist Forschungsdirektor am renommierten Amsterdamer Internationalen Institut für Sozialgeschichte und einer der aktivsten Organisatoren und Forscher in der geschrumpfen community der labour historians, unter anderem in der ITH. Nun hat er – nach dem Titel Transnational Labour History im Jahr 2003 – erneut eine Monographie vorgelegt, unter dem pathetischen und an die amerikanischen Wobblies der IWW angelehnten Titel Workers of the World. Ihn ihm sind neue, wie auch anderweitig bereits in ähnlicher Form publizierte Texte zusammengestellt.

Van der Linden geht es in seinen Aktivitäten um eine Erneuerung und Erweiterung der Arbeitergeschichtsschreibung. Gegenstand der „alten“, kommunistischen wie auch sozialdemokratischen Arbeitergeschichte war der doppelt freie, männliche, weiße und sesshafte Arbeiter. Der geografische Schwerpunkt lag im globalen, industrialisierten Norden einschließlich der Länder des realexistierenden Sozialismus. Arbeiterverhalten und -protest wurde vor allen in seiner organisierten und gut sichtbaren Form wahrgenommen, sprich vermittelt über Partei und Gewerkschaft, und ausgedrückt vor allem in und durch Streiks und Wahlen. Die untersuchten Sektoren waren in der Regel Industrie, Bergbau und Transportwesen. Diese Arbeitergeschichte war von einem „methodologischen Nationalismus“ gekennzeichnet, der eng in nationalstaatlichen Bahnen arbeitet und sie ist und war nicht zuletzt in ihrem linearen Entwicklungsdenken mit „dem Westen“ als Modell und Ziel eurozentristisch.

Seit ungefähr 30 Jahren gibt es nun schon im globalen Süden, etwa in Indien, Südafrika oder Indonesien Initiativen, auch dort die Geschichte der arbeitenden Menschen zu bewahren und zu schreiben. Initiativen, die vom IISG und vielen anderen gefördert und kommuniziert werden. Es ist augenscheinlich, dass diese Global Labor History anders arbeiten muss, als die alte Arbeitergeschichte. Jene überwindet den methodologischen Nationalismus, indem sie Gesellschaften als räumliche und soziale Netzwerke neu denkt, sie kritisiert den Eurozentrismus und nicht zuletzt hat ein sie völlig anderes Verständnis von Arbeit. Sie denkt „Arbeit“ als freie und als unfreie Arbeit, als bezahlte und als unbezahlte. Dadurch kommen Ausbeutungsverhältnisse wie etwa Migration und Sklaverei stärker auf die Agenda, ebenso wie die Bedeutung des Haushaltes und der geschlechtlichen Arbeitsteilung für die kapitalistische Ökonomie wie auch für das Verhalten und die Möglichkeiten der Arbeiter_innen.

Van der Linden untersucht nach seiner, der thematischen Einordnung und methodischen Selbstverortung dienenden Einleitung, Produktions- und Konsumgenossenschaften ebenso wie Formen von stärker konflikthaftem Widerstand, wie etwa Streiks, Gewerkschaften und Internationalismus. Im letzten Drittel belegt er, warum die Wallersteinsche Weltsystemtheorie und der ökofeministische Subsistenzansatz (von Maria Mies und anderen) für die Weiterentwicklung der Global Labor History wichtige Beiträge leisten. Van der Linden nähert sich diesen von ihm herangezogenen Theorien aber nicht unkritisch. So sei z.B. der Weltsystemansatz deterministisch, da er zu starken Wert auf die Bedeutung der internationalen Arbeitsteilung lege – welche dazu hin immer als mit einem Zentrum ausgestattet gedacht werde. Die Subsistenztheorie lenke den Fokus auf Haushalt und Familie, ziehe aber zu wenig in Betracht, dass eine scharfe Abgrenzung zwischen „Produktion“ und „Reproduktion“, erst recht zu verschiedenen historischen Zeitpunkten, sehr schwierig sei.

Den Abschluss dieses Werkes, das mit aller Wahrscheinlichkeit nie ins Deutsche übersetzt werden wird, bildet eine 75 Seiten umfassende Bibliographie. Das Buch ist angesichts seines Preises klassische Bibliotheksware, es wäre zu wünschen, dass es irgendwann einmal im Sinne von open access kostenfrei im Netz zugänglich wäre, dies würde seinen Gebrauchswert für Nutzer_innen mit geringem Einkommen bedeutend erhöhen.

Anmerkungen

Marcel van der Linden: Workers of the World. Essays Towards a Global Labor History (Studies in Global Social History Vol 1) Brill Publishers, Leiden 2008, 385 Seiten.
Verlagsinfo unter www.brill.nl

Das Buch Transnational Labour History. Explorations, Aldershot 2003, von Marcel van der Linden ist am 23.10. 2004 bei H-Soz-u-Kult besprochen worden.

Texte des IISG zum Thema v.a. unter www.iisg.nl
Broschüre des IISG von 2005 zu seiner Arbeit im Feld der Global Labour History siehe unter www.iisg.nl (pdf)

Zum Autor:

Bernd Hüttner, Jahrgang 1966, Politikwissenschaftler, arbeitet als Regionalmitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Bremen. Koordinator des bundesweiten Gesprächskreises Geschichte der RLS und Mitglied der Historischen Kommission der Partei DIE LINKE. Weiteres siehe hier auf der Website der Bremer Landesstiftung der RLS.

Transparente zu Taschen 2

Beitrag von Norbert Schepers, geschrieben am 18.11.2008
Transformations-Taschen

Die Initiative Trans 4 Mate (wir berichteten) ist offenbar weiter auf Erfolgskurs und hat pünktlich zum Weihnachtsgeschäft ihr Angebot diversifiziert: Neben den bisherigen Umhängetaschen, geschneidert aus alten Bannern und Transparenten der Linkspartei ("in den Streetstyle des 21. Jahrhunderts trans.for.miert"), gibt es nun auch Geldbörsen und Reisetaschen.

Unterstützenswert!
Infos & Bestellungen: transformate.wordpress.com

Mehr Souveränität bitte!

Beitrag von Norbert Schepers, geschrieben am 17.11.2008

Lutz Heilmann, LINKE-MdB aus Schleswig-Holstein, musste am Sonntag zurückrudern: Nachdem er am 13. November per einstweiliger Verfügung die deutsche Internetadresse (www.wikipedia.de) der beliebten Web-Enzyklopädie Wikipedia wegen angeblich falscher Aussagen im Artikel zu seiner Person hatte sperren lassen, zog er die Verfügung nun zurück. Er räumt in einer Erklärung ein, dass der juristische Weg sich "als problematisch erwiesen" hätte – die Strafanzeigen gegen einzelne Wikipedia-AutorInnen will er laut einer Heise-Meldung allerdings aufrechterhalten. (Siehe auch SpOn, Heise.)

Pikanter Aspekt der Angelegenheit: Heilmann hatte für das MfS als Personenschützer gedient und dies, entgegen den klaren Beschlüssen der Linkspartei zum Umgang mit der Stasi-Vergangenheit, der ihn wählenden Parteiversammlung verschwiegen. Erst später wurde seine Biografie-Bereinigung durch den Spiegel aufgedeckt, seit dem finden in seinem Landesverband heftige Auseinandersetzungen statt. Einige der Vorgänge fanden sich auch in dem Heilmann-Artikel bei Wikipedia wieder. – Kaum verwunderlich, dass nun an etlichen Stellen im Web wieder der Vergleich nach dem Muster "LINKE = DDR & Zensur" auftaucht.

Da die gesperrte Internetadresse nur eine Weiterleitung auf das eigentliche deutschsprachige Angebot der Wikimedia Foundation de.wikipedia.org war, blieb dieses dem Zugriff von Heilmanns juristischer Attacke entzogen. Auch der Artikel über Heilmann war weiter online und wurde inzwischen von der regen NutzerInnengemeinde weiter bearbeitet – laut Heilmanns Erklärung wurden dabei die "verletzenden Inhalte weitgehend aus dem entsprechenden Artikel entfernt".

Tendenziöse Artikel und falsche Aussagen, insbesondere bei Personen-Artikeln, sind tatsächlich Alltag bei Wikipedia: Umstrittene Passagen sind Gegenstand ganzer edit-wars. Allerdings liegt hier auch eine Stärke des Projekts, allzu tendenziöse Formulierungen und allzu offensichtliche Werbetexte werden in der Regel schnell Gegenstand von Korrekturen durch die zahlreichen NutzerInnen des Portals – auch wenn die gefundenen Kompromisse nicht immer befriedigend sind.

Was normale Web-NutzerInnen in der Regel mit mehr oder weniger Geduld ertragen, ist offenbar für einzelne PolitikerInnen der Partei DIE LINKE nur schwer einsehbar: Zuletzt hatte die damalige Vize-Vorsitzende der Linkspartei Katina Schubert Ende 2007 die juristische Keule geschwungen und Strafantrag gegen Wikipedia gestellt. Sie musste dann ebenfalls einsehen, dass dieser Weg ein Fehler ist.

Man darf erwarten, dass soviel Mangel an Souveränität und Lernfähigkeit parteiintern nicht ohne Wirkung bleibt. Welchen Schaden kann man als Bundestagsabgeordneter dem Ansehen seiner Partei zugefügen, ohne dass die zugehörige Partei eine offene und sachliche Debatte über das Wirken dieser Person führt und Konsequenzen zieht?

Partei-Mitarbeiter Mark Seibert grübelt in seinem Blog über Schlussfolgerungen aus der Sache:

Man muss es irgendwie schaffen, Mandatsträgern näherzubringen, wie partizipatives Internet fuktioniert, wie die Verbreitung freien Wissens funktioniert und wie Kommunikation dort funktioniert. Und das möglichst zu eine Zeitpunkt, wenn noch nicht solche Katastrophen passiert sind.
Das hört sich nicht sehr optimistisch an. Schließlich hat DIE LINKE der interessierten Öffentlichkeit mit dieser Angelegenheit mal wieder eindrucksvoll mangelnde Medienkompetenz und Unverständnis für das Medium Internet demonstriert.

Weiter so - oder Krise als Chance?

Beitrag von Bern Riexinger/Werner Sauerborn, geschrieben am 15.11.2008

Schlagworte:

gewerkschaften, krise

Wener Sauerborn

Hilflos, kopflos, wehrlos – so der prägende Eindruck des bisherigen Agierens bzw. Schweigens der Gewerkschaften angesichts der Krise. Wirtschaftsinteressen diktieren unangefochten die Agenda des globalen Krisenmanagements, in dem jetzt die Weichen neu gestellt werden. Gewerkschaften spielen auf dieser Bühne keine Rolle. Im Folgenden sollen die absehbaren Folgen für die Lohnabhängigen, die bisherigen Reaktionsmuster der Gewerkschaften sowie mögliche strategische Auswege beschrieben werden.

Bernd Riexinger

Folgen der Krise für die Lohnabhängigen

Im stichwortartigen Überblick ergeben sich die folgenden Risiken für ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften, die sich gerade von einer Finanzmarkt- zu einer Weltwirtschaftskrise auswächst. In welchem Ausmaß was eintreten wird, inwieweit das internationale Krisenmanagement Folgen dämpft oder ihr Eintreten verzögert, kann derzeit niemand ernsthaft abschätzen. In welchen Dimensionen auch immer, zu erwarten sind:

· Rationalisierungen, Restrukturierungen und Firmenzusammenbrüche im Finanzdienstleistungssektor als unmittelbare, früher oder später einsetzende Krisenfolge

· Arbeitsplatzabbau und Rationalisierung im Öffentlichen Dienst, weil die öffentlichen Haushalte unter starken Druck geraten werden in Folge von
- Ausgabenexplosion wegen Krisenstabilisierungskosten
- Steuerausfällen durch Rezession und, wenn‘s ganz verrückt wird, auch noch durch Steuersenkungen,
- Zuschussbedarf aufgrund windiger Geschäftsmodelle á la cross-border-leasing
- Zuschussbedarf aufgrund von Spekulationsverlusten der Landesbanken
- Zinsbelastungen aus langfristigen Verschuldungen

· Folgen für die sozialen Sicherungssysteme, wo die Einnahmeseite entsprechend abrutschen wird, wo teilweise auch spekuliert wurde; Sparmaßnahmen in der Daseinsvorsorge möglicherweise mit punktuellen Ausnahmen wie Bildungsbereich

· Kurzarbeit, Personalabbau, Rationalisierungen und Restrukturierungen, mittelfristig sicher auch Firmenzusammenbrüche in den exportabhängigen Wirtschaftsbereichen wegen Kreditklemme und globalem Nachfragerückgang

· Öffentliche Investitionen werden in der Breite zurückgefahren, in Teilbereichen wie energetischem Sanierungsbedarf, erneuerbare Energien jedoch ausgeweitet. Unter dem Strich Arbeitsplatzverluste

· Die private Binnennachfrage wird stark rückläufig sein wegen Rezession und Krisenangst. Zu befürchten sind auch größere „Marktbereinigungen“ (Firmenzusammenbrüche) in Branchen, die stark vom privaten Konsum abhängen, wie der Einzelhandel.

· In vielen sozialen und kulturellen Bereichen, in (Sport-)vereinen, Stiftungen und Projekten, die sich zunehmend von Sponsoren abhängig gemacht haben oder gemacht worden sind, wird es zu Kürzungen kommen mit Folgen für die jeweiligen Ziele und die Beschäftigten.

· Es ist ein erheblicher Anstieg der Erwerbslosigkeit zu erwarten, der noch eskaliert wird, wenn weitere Arbeitszeitverlängerungen durchgesetzt werden sollten.

· Schon jetzt sind befristet Beschäftigte und LeiharbeiterInnen die ersten Opfer der Krise. Man würde ja „nur“ Zeitverträge auslaufen lassen, Zeitarbeit zurückfahren, keine Neueinstellungen vornehmen und ausgelagerte Aufträge wieder zurückholen. Krise in der Leiharbeitsbranche. Das Muster des Sozialabbaus und der Prekarisierung im Aufschwung droht sich um so stärker im Strudel nach unten zu wiederholen.

Auf diese Weise werden in allen ökonomischen Sektoren, die einen Firmen abstürzen, die stärkeren werden sich durchsetzen, einen Produktivitätssprung machen und den Boden für den nächsten Konjunkturzyklus bilden. Diese Marktbereinigungsprozesse werden über kapitalistische Konkurrenz auf allen Ebenen vonstatten gehen, zu einem wesentlichen Teil wieder über die Konkurrenz um den Preis der Arbeitskraft. D.h. mit dem Argument des ökonomischen Überlebens, d.h. der Androhung des Verlusts der Arbeitsplatzes werden Lohnabhängige in allen Branchen und weltweit in eine neue Runde der Konkurrenzkämpfe getrieben.

Die Gewerkschaften: wie 1929?

Die Gewerkschaften stehen dem Geschehen eher paralysiert gegenüber. Ist es schon in Aufschwungzeiten nicht gelungen, die neuen kapitalistischen Rahmenbedingungen durch neue Kampfformen und neue gewerkschaftliche Aufstellungen entsprechend den neu sortierten kapitalistischen Strukturen einzudämmen, kann dieser Mangel in der nun aufziehenden Krise zum Fiasko der Gewerkschaften werden. Viele Vergleiche mit 1929 sind fragwürdig, nur die Parallele hinsichtlich des Reaktionsmusters der Gewerkschaften ist leider höchst plausibel.

Bisherigen „Reaktionsmuster“ von ver.di, ähnlich bei fast allen Gewerkschaften:

· Die Organisation betreibt im wesentlichen business as usual. Wie gehabt Riesendebatten bei kleinsten Eingriffen in die innergewerkschaftliche Macht- und Ressourcenverteilung (Matrix) – mitten im aktuellen Geschehen – ein déjá-vu, für jeden, der einmal Protokolle von Gewerkschaftssitzungen oder Gewerkschaftszeitungen von 1929 und 1930 gelesen hat.

· Suche nach Auswegen aus der Gewerkschaftskrise durch Rückgriff auf betriebswirtschaftliche Managementmethoden, erklärtermaßen ohne Bezug auf die äußere Wirklichkeit und die Besonderheit einer Gewerkschaft ( aktuell Papier Chance 2011[1]), gescheiterte Programmdebatte in ver.di

· In den ersten Wochen nach dem Crash keine politische Reaktion der Organisation als Ganzes, sattdessen wenige Pressemitteilungen aus dem Finanzdienstleistungsbereich von ver.di, in denen eine stärkere Kontrolle der Finanzmärkte gefordert wird – Ansätze die inzwischen von vielen Regierungen und dem IWF längst getoppt werden.

· Wirtschaftspolitische Positionierungen mit der Aussage: mit unserem 40 Mrd. Programm wäre das nicht passiert. Handlungsschwerpunkt Konjunkturprogramm für Deutschland jetzt! (s.u.)

· Rückzug aus den gewerkschaftlichen Ansätzen in der Weltsozialforumsbewegung (fast keine Unterstützung für ESF – Malmö trotz Gewerkschaftsrats-Beschluss), ähnliche Besorgnisse bei der IG Metall, Streichung von Globalisierungsseminaren auf Bundesebene

· Auf einem Treffen der wenigen verbliebenen Gewerkschaftshistoriker Ende Oktober 2008, also Mitten in der Krise, wird über Jubilarehrungen geredet, aber kein Wort über die Politik der Gewerkschaften in der Weltwirtschaftskrise 1929 ff verloren, die sie letztlich die Existenz gekostet hat

· Von dezentralen Initiativen abgesehen, keine Ansätze für Mobilisierungsstrategien und keine erkennbaren Interventionen für unmittelbare Lohnabhängigeninteressen in der aktuellen Debatte[2] –Unwidersprochen sind die Börsenkurse öffentlicher Indikator für die Angst. Als schützenswerte Opfer finden sich „die Wirtschaft“, Handwerksbetriebe und Mittelstand und vor allem die Sparer auf der Bühne - ArbeitnehmerInnen nicht.

Die gewerkschaftliche Tarifpolitik droht vollends in die Defensive geraten. Die ersten Kollateralschäden der Krise haben wir bei der IGM vor dem Auftakt zur Tarifrunde erlebt, wo angesichts der Mobilisierungs- und Streikschwierigkeiten vor dem Hintergrund von Kurzarbeit und verlängerten Werksferien angeboten wurde, die 8%-Forderung auf 20 statt auf 12 Monate zu beziehen oder im Bankenbereich, wo ver.di aus ähnlichen Motiven eine Art Moratorium für die Gehaltstarifrunde angeboten hat. Zu befürchten ist, dass wieder betriebliche Standortbündnisse zu Lasten Dritter (Lohnabhängige in anderen Betrieben/Ländern der Branche, befristet Beschäftigte, Prekäre) die Antwort sein wird.

Gewerkschaften, denen man zwar abnimmt, das Richtige zu wollen (Zustimmung in Meinungsumfragen), die aber keine andere Antwort (und keine Vision) haben, als den Rückzug mit korporatistischen Bündnissen abzusichern, werden Mitglieder verlieren. Die Apparate werden so in eine dramatische Krise geraten – auch das eine Parallele zu 1929 ff, wo der ADGB von 1929 auf 1930 ein Drittel seiner Mitglieder verlor, Abbau und Gehaltskürzungen (-20%) beim Personal vornehmen musste und die Ausgaben für Arbeitskämpfe drastisch reduzierte. Die Zahl der Streikaktionen sank von 1929 bis 1931 um ein Drittel, die Zahl der Streikbeteiligten um 75%[3] - dies natürlich vor dem Hintergrund einer durch die verheerende Brüningsche Wirtschaftspolitik eskalierten Wirtschaftskrise. Die Interventionen heute sind immerhin kompetenter. Die bisherige Rolle der Gewerkschaften in der Krise ist beängstigend ähnlich.

Auch was die derzeit auf allen öffentlichen Kanälen geführte gesellschaftliche Debatte über die Krise betrifft, gelingt es den Gewerkschaften nicht, die affirmativen ideologische Kriseninterpretationen, nach dem Muster „ein paar charakterlose Gesellen im Finanzbereich..“ oder „ nur eine Vertrauenskrise auf den Märkten“ zu kontern.

Die große, sich jetzt entscheidende Frage ist, wer in den nächsten Jahren die Folgen dieser Krise zu tragen haben wird. Wird solchen affirmativen Erklärungen das Feld überlassen, präjudiziert dies die Abwälzung der Krisenlasten auf ArbeitnehmerInnen und sozial Schwache und die Einleitung eines neuen kapitalistischen Zyklus bei gleichen Machtverhältnissen. Nach vergleichbaren Krisen sind immerhin Bismarcksche Sozialgesetze, ein New Deal oder ein Rheinischer Kapitalismus rausgesprungen – so wie die Gewerkschaften bisher agieren und so wie die Kräfteverhältnisse heute aussehen, wird dergleichen diesmal nicht gelingen.

Sackgasse Nationalkeynesianismus

Die fast einzige gewerkschaftliche Argumentations- und Handlungsebene ist die Intervention auf der Ebene des Mitdiskutierens in der Wirtschaftspolitik. Grund der Krise ist in der vorherrschenden Lesart das Versäumnis einer nachfragestärkenden nationalen Wirtschaftspolitik. Der gigantische Börsencrash mit seinen absehbaren Auswirkungen auf die Realökonomie sei nicht der eigentliche Krisengrund, sondern nur noch dazu gekommen und diene der Politik jetzt als Ausrede für ihr eigentliches Verschulden, im Aufschwung keine nachfrageorientierte Politik betrieben zu haben.

Der Vorwurf richtet sich an Arbeitgeber (Dumping in der Tarifpolitik) und Staat. Beleg ist die viel zitierte Grafik, in der die Kurve des privaten Konsums notorisch unterhalb der BIP-Kurve verläuft.

Natürlich ist es Ziel von Gewerkschaften, die Beschäftigten-Einkommen über Politik und Tarifpolitik zu verbessern. Dieses Ziel verfolgen Gewerkschaften nicht um einer volkswirtschaftlichen Lehre willen, sondern als Ausdruck der Lebensinteressen der Lohnabhängigen. Wenn sich plausibilisieren lässt, dass dies auch in einem fiktiven gesamtgesellschaftlichen Interesse liegt, dann mag das als Hilfsargument nützlich sein. Gewerkschaften dürfen sich aber nicht davon abhängig machen, ob Arbeitgeber oder Regierungen, sich dieser Auffassung anschließen und eine Politik der Nachfragesteigerung als im gesamtgesellschaftlichen, also auch in ihrem Interesse liegend akzeptieren – und wenn sie das nicht tun, nur anzuklagen statt Gegenmacht zu organisieren.

Wie viel Nachfragestärkung bzw. Verbesserung bei Löhnen und Arbeitszeit möglich ist, hängt zuletzt immer von der gewerkschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit in der Tarifpolitik mit der ultima ratio des Streiks ab. Auch die Durchsetzung politischer Forderungen wie Mindestlohn oder Konjunkturprogramm hängt zwar mittelbar, aber letztlich unausweichlich davon ab. Die genannte Graphik ist daher nicht nur als zutreffende Kritik der Politik zu lesen, sondern als Lernfrage an die eigene Adresse: Warum haben wir es selbst im Aufschwung nicht geschafft, eine Reallohnsicherung durchzusetzen, warum wurde die Arbeitszeit verlängert statt sie zu verkürzen, warum konnten wir die Agenda-Politik von Rot-Grün ff nicht verhindern? Die Nicht-Beantwortung dieser Fragen ist eine schwere Hypothek für das was jetzt kommt.

Von unterschiedlichen Einschätzungen der bei den Gewerkschaften vorherrschenden nationalkeynesianischen Argumentation bräuchte kein Aufhebens gemacht zu werden, wenn sie nur ein, wenn schon nicht überzeugendes, so doch nützliches Hilfsargument wäre. Indem sie aber das Problem der Gewerkschaften vor allem auf der Ebene ihrer wirtschaftspolitischen Überzeugungsfähigkeit festmacht, behindert sie die Auseinandersetzung mit den eigentlichen Gründen der gewerkschaftlichen Schwäche. Der Lösungshorizont des Nationalkeynesianismus ist im Grunde: die Beschäftigteninteressen bleiben auf der Strecke, weil die Gegenseite sich weigert, den volkswirtschaftlichen und damit letztlich auch ihren eigenen Nutzen in einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik zu sehen.

Zu befürchten ist allerdings, dass die Gegenseite aus ihrer Interessenlage bisher gute Gründe hatte, das nicht einzusehen. Denn Tarifdumping und Agenda-Politik haben zum einen die Wettbewerbsbedingungen des von Deutschland aus operierenden Kapitals enorm verbessert (und auch die Chance verbessert, als Gewinner zulasten anderer Wettbewerbsräume aus dieser Krise hervorzugehen) und zum anderen eine Umverteilungsorgie von unten nach oben möglich gemacht.

Das alles hätte die Gegenseite nicht gehabt, wenn sie sich von den Gewerkschaften eine nachfrageorientierte Politik hätte aufdrängen lassen. Denn Nachfragepolitik wäre nicht etwas Zusätzliches zu einem von selbst stattfindenden Aufschwung gewesen[4], sondern sie ist das Gegenmodell zu einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik. Keine Agenda, kein Sozialabbau, kein Tarifdumping hätte auch bedeutet: keine Aufholjagd in der globalen Konkurrenz, keine Durchsetzung auf den verschiedenen Märkten und keine Umverteilung von unten nach oben. Ein schlechtes Geschäft für die Gegenseite!

Unter den Bedingungen einer Ökonomie im Sturzflug, bei der es auf der Kapitalseite oft ums Eingemachte geht, kann deren Interessenabwägung zu einem anderen Ergebnis kommen. Wo die wegbrechende Nachfrage ernsthaft die Verwertungsbedingungen besonders der bisher florierenden exportorientierten Branchen gefährdet, werden nachfrageorientierte Programme auch für die Gegenseite interessant, ja sie können geradezu zu einem Standortvorteil in der Krise werden. Da ist das Kaptal ganz pragmatisch und auf einmal gar nicht mehr ideologisch.

Es wird jetzt mitten in der Krise also weniger um das Ob als um das Wie von Konjunkturprogrammen gehen, d.h. um die Frage wer zahlt und wer profitiert. Das Kapital macht sich nicht die gewerkschaftlichen Nachfrageforderungen zu eigen, es setzt gerade in der Krise auf angebotsorientierte Strategien, greift nur partiell, befristet und möglichst zu seinen Konditionen auf nachfrageorientierte Staatsinterventionen zurück.

So wie im Aufschwung das Ob von Nachfrageprogrammen weniger eine Frage guter Argumente als eine Frage gewerkschaftlicher Mobilisierungs- und Durchsetzungsfähigkeit war, so gilt dies auch für das Wie der jetzt anstehenden Konjunkturprogramme. Wem sie wie sehr nutzen und wer sie kurz- und langfristig bezahlt, ist eine Verteilungsfrage, die auch jetzt von der gewerkschaftlicher Mobilisierungs- und Durchsetzungsfähigkeit abhängt.

Wenn nun in der Krise ein keynesianischer Ansatz eine bessere Chance und einen Sinn hat, dann als allgemeiner Ansatz, der nicht in einem Wirtschaftsraum praktiziert wird und in einem anderen nicht. Ein allgemeines Konjunkturprogramm, in Deutschland aufgelegt, würde und sollte die Arbeitgeber hierzulande belasten, ihre Konkurrenten in Frankreich oder anderswo wären zunächst nicht belastet, es sei denn es werden andernorts zeitgleich ähnliche Programme angesetzt. Den Nutzen in Form stärkeren Konsums hätte aber nicht nur das hiesige Kapital, sondern auch seine in Deutschland verkaufenden Konkurrenten. Mindestens müssten die Forderung nach Konjunkturprogrammen zum Bestandteil des europäischen und globalen Krisenmanagements gemacht werden.

Der nationalkeynesianische Ansatz ist der Versuch, eine linke Wirtschaftpolitik aus den Zeiten des rheinischen Kapitalismus unter radikal geänderten Bedingungen fortzuschreiben. Er ignoriert die Realitäten und Erpressungspotentiale des neuen globalisierten Kapitalismus[5]. Er ignoriert, dass sich inzwischen supranationale Strukturen und Regulationen entwickelt haben, die neue Machtzentren bilden. Das aktuellste atemberaubende Beispiel ist, wie sich binnen Wochen globale Handlungsstrukturen der Regierungen und Finanzzentren entwickeln, wo es um die Domestizierung der Selbstdestruktionskräfte des Kapitalismus geht. Es kristallisiert sich, von der EU-Präsidentschaft angetrieben, eine institutionalisierte, europäische Wirtschafts- und Industriepolitik heraus, der IWF soll weiterentwickelt werde im Sinne eines Weltfinanzministeriums, es wird über globale Steuern und Steuerregeln nachgedacht und gut möglich, dass Keynes alte Idee einer Weltzentralbank, die er 1944 in Bretton Woods nicht durchsetzen konnte, jetzt Realität wird –solche Reaktionszeiten auf geänderte Rahmenbedingungen würde man sich auch von den Gewerkschaften wünschen!

Es entstehen neue Machtkonstellationen, die – ohne Gegendruck – dazu führen werden, dass die Folgen dieser Krise bei den Lohnabhängigen im weitesten Sinne abgeladen werden. Eine Restrukturierung der Gewerkschaften, die dieser Dominanz wieder etwas entgegensetzen kann, wird sich in ihrem Selbstverständnis und ihren Politikmustern, z.B. der nationalkeynesianischen Wirtschaftspolitik, aus ihrem Retro-Bezug zum Rheinischen Kapitalismus ablösen müssen, um den Weg frei zu machen für eine Analyse der Gewerkschaftskrise und eine Neuaufstellung der Gewerkschaften in der neuen kapitalistischen Formation.

Strategische Schlussfolgerungen

1. Um den bevorstehenden Herausforderungen gerecht zu werden, reicht es nicht, mitzudiskutieren in den öffentlichen Debatten um Finanz- und Wirtschaftpolitik- und auf Gehör zu hoffen. Wie stark die Krise die Lohnabhängigen und die Gewerkschaften selbst treffen wird, ist eine Frage von Macht und Gegenwehr. Erforderlich sind breite gewerkschaftliche Diskussionen, deren Ziel mobilisierungs- und durchsetzungsfähige Forderungen und Handlungsansätze sein müssen[6]. Gewerkschaftliche Anliegen müssen mit Druck auf die öffentliche Tagesordnung gesetzt werden.

2. Die Folgen der Krise werden uns via Politik, via Tarifpolitik in Firmenkrisen und –zusammenbrüchen erreichen und sie werden viele andere wie RentnerInnen, Kranke, Arme, Mittelstand genauso treffen. In der Defensive werden wir überall sein und überall werden wir versuchen müssen gegenzuhalten. Das bedeutet einerseits Bündnisse gegen die Abwälzung der Krisenlasten zusammenzubringen und andererseits die sukzessive Zurückeroberung des politischen Streikrechts.

3. Für politische, überbetriebliche Ziele zu streiken, dürfte unter den kommenden Bedingungen leichter sein (geringere Entsolidarisierungsmechanismen) als für tarifpolitische Ziele zu streiken. Denn hier ist, unter den Bedingungen des wirtschaftlichen Sturzflugs, die entsolidarisierende Gefahr des Arbeitsplatzverlust besonders hoch, weil sie sich einzelnen Beschäftigten, Beschäftigtengruppen und Belegschaften sehr konkret und existentiell stellt. Die sträflich versäumte Entwicklung branchenorientierter Tarifstrukturen (im Sinne von Flächentarifverträgen) wird kurzfristig nicht nachzuholen sein. Die einzige Chance, sich aus Passivität und Defensive herauszuwinden, besteht in der Politisierung der Tarifauseinandersetzungen, in der Einbeziehung anderer Gewerkschaften und gesellschaftlicher Gruppen, in der Herstellung einer Verbindung zur Dramatik der Wirtschaftskrise, in der Darstellung der volkswirtschaftlichen Absurdität von Lohnzugeständnissen angesichts des ohnehin gefährlichen Rückgangs der privaten Konsums. Kleinreden der Krisenrealität und Vorab-Konzessionen dagegen sind geradezu Einladungen, die Krisenfolgen auf dem Rücken Beschäftigten abzuladen.

4. Der Neoliberalismus ist die Ideologie des finanzmarktgetriebenen globalen Kapitalismus. Die Auseinandersetzung wird (noch) nicht um die Frage Sozialismus oder Kapitalismus gehen, sondern darum, ob die jetzt in der Krise steckende Regulation mit ein paar Korrekturen gegen ihre selbstzerstörerischen Mechanismen fortgesetzt wird, oder ob dem Kapitalismus wirksame soziale Fesseln angelegt werden können.

4.1. Diese Auseinandersetzung wird materiell um die Frage gehen, wie die jetzt nötigen neuen Regulationen aussehen sollen, und zwar nicht nur die der Finanzmärkte (wo die Gewerkschaften mit vielen anderen das Nötige gefordert haben[7]), sondern auch bei Sozialstaatsforderungen wie Mindestlöhnen, Höchstarbeitszeiten, sozialer Sicherung, Arbeits- und Tarifrecht, Wirtschaftsdemokratie, umverteilender Steuerpolitik.

4.2. Und damit zusammenhängend muss der ideologische Streit ausgetragen werden. Derzeit sind rhetorische Distanzierungen vom Neoliberalismus und seinen „Auswüchsen“ mainstream - eine wendehälsische Anpassungsreaktion an die Wut des Publikums! Die Frage, ob der Neoliberalismus wirklich fällt, oder nur ein bisschen abfedert, wird sich symbolisch an der Frage entscheiden, ob seine entscheidenden Protagonisten in Amt und Würden bleiben oder nicht. Ähnlich wie die Eliten des Realsozialismus, müssen die Verantwortlichen für dieses Desaster zur Rechenschaft gezogen werden. Die Hauptprotagonisten der Agenda-Politik zum neuen Führungsduo der SPD zu machen, ist kein Zeichen von Umkehr oder Einsicht. Es ist ein Skandal, dass die Wirtschaftsforschungsinstitute, die großen Lehrstühle an den Unis personell und inhaltlich neoliberal ausgerichtet bleiben, dass Bahn-Privatisierer Mehdorn einfach weiter machen kann, dass die Kommentatoren, die uns jahrelang mit neoliberalem Trommelfeuer belegt haben, weiter die Zeitungsseiten und Bildschirme bevölkern. Dies ist keine Frage der Abrechnung, sondern symbolischer Ausdruck dafür, ob der Neoliberalismus überwunden ist oder nicht.

5. Diese Krise ist die erneute und späte Chance der Gewerkschaften, sich mit der Gründen ihrer Schwäche auseinander zusetzen, indem sie ihre im Rheinischen Kapitalismus wurzelnden Strukturen und Politikansätze überwinden und sich den geänderten immer globaler funktionierenden Marktstrukturen und –prozessen entsprechend neu sortieren und organisieren. Der Widerstand gegen die Folgen dieser Weltwirtschaftskrise kann nur grenzüberschreitend organisiert werden. Die Forderungen, die es durchzusetzen gilt, müssen von vornherein gemeinsam entwickelt werden. Weil gemeinsame Betroffenheit gemeinsame Lernprozesse ermöglicht, muss in der Krise eine gewerkschaftliche Globalisierung von unten stattfinden – zu unterstützen von allen bisher (zu gering) entwickelten Strukturen wie Dachverbänden, Eurobetriebsräten, Koordinationsstrukturen, gewerkschaftlichen Netzwerke in der Sozialforumsbewegung etc. Gemeinsame Forderungen, gemeinsame, zumindest gleichzeitige Demos und politische Streiks – europaweit und –zumindest symbolisch- weltweit! [8]

In der Krise steht auch die Demokratie auf dem Spiel. Es ist in Analogie zu 1929 mit einer gesellschaftlichen Radikalisierung zu rechnen. Ob es in dieser Radikalisierung einen emanzipatorischen Ausweg (wie nach 1929 in den USA) oder eine nationalistischen, xenophoben Weg in die Sackgasse (Deutschland) gibt, hängt sehr von den Gewerkschaften ab und davon, ob sie einen Weg raus aus Standortkonkurrenz und nationaler Befangenheit hin zu breiter und globaler Solidarität finden.

[1] „..eine Diskussion der politisch-inhaltlichen Ziele .. kann und soll an dieser Stelle nicht geleistet werden“ Chance 2011 – Zur Weiterentwicklung von ver.di in den nächsten Jahren, S.1

[2] Neuerdings wird im Bankenbereich und vom DGB die Forderung nach Arbeitsplatzsicherung als Bedingung für Krisenstützung aufgestellt

[3] U. Borsdorf, Geschichte der dt. Gewerkschaften, 1987, S. 394 ff, Peter Jahn, Die Gewerkschaften in der Endphase der Republik 1930 -1933, Bund-Verlag, S. 17 ff

[4] „Der Ende 2004 einsetzende Aufschwung war keineswegs eine Folge der Anfang 2003 vom damaligen Kanzler Schröder verkündeten „Agenda 2010“, es handelte sich vielmehr um einen normalen (!) Konjunkturaufschwung. Ausgelöst wurde er von einem Anstieg der Ausrüstungsinvestitionen, vor allem um verschlissene Maschinen und Geräte zu erneuern. Hinzu kam (!?) ein noch einmal deutlich gestiegener Exportüberschuss“

[5] Dass unter der Bedingung offener Märkte eine innenpolitisch angelegte nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik nicht funktioniert, hat schon Keynes selbst so gesehen: es gebe hier nur geringe Handlungsspielräume „unless they are applied internationally“ (nach Thorsten Schulten, Solidarische Lohnpolitik in Europa, VSA 2004

[6] Erste Ansätze dazu gibt es im ver.di LBZ Baden-Württemberg, Mitgliederrundbrief der Landesleiterin, Diskussionsveranstaltungen in allen Bezirken, Plakatserien, Demo des Bezirks Stuttgart vor Banken,s. www.bawue.verdi.de

[7] Absturz der Finanzmärkte, Sofortprogramm von ver.di, Abt. WiPo, Oktober 2008, S.9f, Finanzmarktkrise: Erste Hilfe und langfristige Prävention, IMK Policy Brief 22.10.2008

[8] Im labour and globalization network der Weltsozialforumsbewegung wird derzeit eine Initiative „Globalize now“ diskutiert – ein Appell von GewerkschafterInnen sich stärker grenzüberschreitend aufzustellen.

Blättern:
Sprungmarken: Zum Seitenanfang, Zur Navigation, Zum Inhalt.