Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog

So geht bYrgerliche Demokratie.

Beitrag von Jörg Schindler, geschrieben am 08.11.2008

Eines muss man Andrea Ypsilanti lassen. Sie ist - bzw. seit heute: war - eine der letzten VertreterInnen jener Spezies, die das für bare Münze nahm, was man in der Juso-Fortbildung immer erzählt bekam: Sozialdemokratische Politik stehe für Verbesserungen der Lebensbedingungen der arbeitenden Menschen in einem kapitalistischen System. Durch diese schrittweisen Verbesserungen würde man - vielleicht mal, irgendwann, und so - zu neuen Ufern kommen. Jedenfalls aber stehe diese sozialdemokratische Reformpolitik für das "Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft". Will heißen: Die Politik entscheidet über Rahmenbedingungen, nach denen sich alle, BürgerInnen wie Unternehmen, zu richten haben. So weit, so klassisch, so Sozialkundeunterricht.

Die Etappen der neo-sozialdemokratischen Reformidee "soziale Moderne" aus dem Hause Andrea Ypsilanti zeigen jedoch das Problem, an dem sich diese Horden junger sozialdemokratischer PolitikerInnen, so sie je guten Willens waren - und bei einer ganzen Reihe von ihnen möchte ich das wirklich aus tiefem Herzen unterstellen -, bereits die Köpfe einrannten. Lassen wir uns die Szenen noch einmal vor Augen ziehen:

1. Warnschuss #1:
Nachdem Ypsilanti im Landtagswahlkampf eine Wende in der Energiepolitik ankündigt, in der auf Atom- als auch Kohlekraftwerke zugunsten regenerativer Energiegewinnung weitgehend verzichtet werden soll, springt ihr Wolfgang Clement in eimem Interview am 19.1.2008 in der "Welt" ins Genick. Der Berater des RWE-Kraftwerkstochterunternehmens RWE Power warnt als Parteifreund medienwirksam und öffentlich davor, Ypsilanti zu wählen. Ziel ist: Unentschlossene WählerInnen mit Angst vor Arbeitsplatzverlust von der Stimmabgabe für Ypsilanti abzuhalten.

2. Warnschuss #2:
Nachdem Ypsilanti dennoch - ganz entgegen des Bundestrends - bei der Landtagswahl für die SPD Stimmengewinne en gros abräumt und weiter nach Mehrheiten für ihre Politik mit Grünen und LINKEN sucht, verkündet die Abgeordnete Metzger kurz vor der anstehenden Neuwahl plötzlich, sie werde ihre eigene Fraktionsvorsitzende Ypsilanti nicht mitwählen. Kurz vor der bereits anberaumten Wahl im März, und aus extremen Gewissensgründen, versteht sich.

3. Warnschuss #3:
Nach einer gezielten Indiskretion aus der SPD-Bundeszentrale an die Presse im Vorfeld zur Klausur der SPD-Spitze wird der Parteivorsitzende Beck, der die Öffnung der hessischen SPD für eine Kooperation mit der LINKEN und damit die anstehende Ministerpräsidentinnenwahl Ypsilantis ermöglichte, zum Rücktritt gemobbt. Dabei hatte Beck noch vorher versucht, zwischen den Fronten zu lavieren und sich für den Verbleib Clements in der SPD nach dessen Warnschuss #1 eingesetzt. Geholfen hats ihm nicht. Zu dieser Zeit war Beck schon tot. Der Kopfschuss für Beck war aber Warnschuss #3 an Ypsilanti.

4. Kopfschuss!
Am Tag vor der erneuten beabsichtigten Wahl Ypsilantis, gedeckt durch einen Landesparteitag mit 95%iger Zustimmung, entdecken plötzlich weitere drei so genannte FraktionskollegInnen, darunter ein Stellvertreter Ypsilantis im SPD-Landesvorstand, ebenfalls ihr geplagtes Gewissen. Die einen schwafeln etwas von der "teilweise extremistischen LINKEN", der Landesstellvertreter erklärt wiederum, die geplante "rot-rot-grüne gefährde zehntausende Arbeitsplätze". Obwohl niemand mit halbwegs Verstand diese angebliche Gewissensentscheidung nachvollziehen kann, sind es mediale "Aufrechte", "Rebellen". Die Werte der SPD liegen gegenüber der gewonnenen Märzwahl im Keller, Ypsilanti ist politisch tot.

Was heißt das jetzt?
Ypsilanti ist nicht an ihrem "Wortbruch" oder Gewissensentscheidungen gescheitert. Erst recht nicht ist sie an ihrer Zusammenarbeit mit der 5,1%-LINKEN gescheitert. Sondern: Was unter keinen Umständen tolerabel war, war Ypsilantis Reformpolitik in der Energiepolitik, unter Berufung auf angebliche Mehrheiten in der Bevölkerung und im Parlament. Demgegenüber spielte das ganze schöne linke Phrasendresch von Gerechtigkeit usw... im Ypsilanti-Wahlprogramm keine Rolle, damit kann das Kapital schon seit ca. 60 Jahren bei SPD-Wahlprogrammen leben. Denn eine Umsetzung ist nie beabsichtigt, sondern alle wissen: Es dient lediglich der Mobilisierung der WählerInnen, so wie die analoge Christenphraseologie der CDU.

Ein Grundkurs in "byrgerlicher Demokratie"
Ypsilanti hat also erfahren müssen, dass ein zentrales Lernelement in der Juso-Schule fehlt. Keineswegs zählt die Wahlentscheidung der HessInnen, schon gar nicht zählt die Entscheidung des SPD-Parteitags. Sondern zunächst zählt vor allem die Macht des status quo in der Wirtschaftspolitik. Wer diese Wirtschaftspolitik - und sei es auch nur um Haaresbreite, und sei es auch nur aus allervernünftigsten Überlegungen - verschieben will, kriegt es mit der Wirtschaft so richtig persönlich zu tun: Aus den Chefetagen der Industrie, aus den Tageszeitungen, von der Garde ihrer Büttel, bestehend aus diversen Schleimscheißern, bezahlten Händeschüttlern, Vorzimmersitzern und Hinterzimmertreffern aus der eigenen Partei, der SPD. Ihre Lobbyisten ergießen erst den ganzen menschlichen und politischen Unrat, folgend geben sie gezielte Warnschüsse ab, und wenn das für den knock-out oder die Umkehr auf den Pfad der Wirtschaftstugend nicht reicht, gibts den finalen Todesschuss zum Erhalt des status quo. Das ganze heißt dann Demokratie, hat aber mit Sozialkundeunterricht nicht mehr viel zu tun.

Alle ernsthafte ReformpolitikerInnen, ob von SPD, Grünen, GewerkschafterInnen, attacies oder LINKEN, sollten daher das Lehrstück "Ypsilanti" genau analysieren. Denn offenbar ist die Involution der SPD in eine teilautonome Außenstelle der Wirtschaft bereits soweit fortgeschritten, dass selbst kleinste Reformen gegen das Kapital zu wildesten Kopfschüssen führen. Das heißt aber auch: Wer heute noch ernsthaft Reformpolitik machen will, muss den Kurs "byrgerliche Demokratie" besucht haben. Und gleich am Anfang das gezielte Zurückschießen üben.

prager frühling wirkt

Beitrag von Katja Kipping, geschrieben am 05.11.2008

Preisfrage: Was haben Cornelia Möhring aus Schleswig-Holstein und Christoph Spehr aus Bremen gemeinsam? Nun, beide haben mit wunderschönen Artikeln zum Gelingen des prager frühling beigetragen und beide sind kurz danach zum Sprecher bzw. zur Sprecherin in ihrem Landesverband gewählt wurden. Inwieweit hier ein kausaler Zusammenhang besteht, mag offen bleiben. Auf jeden Fall freuen wir uns für beide AutorInnen, gratulieren ganz herzlich und hoffen, dass sie trotz ihrer neuen Aufgaben Zeit finden zum Lesen des Magazins und gelegentlich auch mal wieder zum Schreiben eines Beitrags für uns.

Linke Politik an Halloween

Beitrag von Alexander Wallasch, geschrieben am 04.11.2008
Halloween in Braunschweig: Blüm und Wallasch

Braunschweig. Bahnhofsnähe. Stadthalle. Geduckt gedrungenes Stahlbeton-Ensemble aus den 70er Jahren. Erwartet werden Norbert Blüm, Oskar Lafontaine, Ottmar Schreiner u.a. Politprominenz, die sich hier an der Oker sonst nur selten sehen lässt. Zusammengeführt hat die unterschiedlichen politischen Charaktere die der Partei DIE LINKE nahe stehende Rosa-Luxenburg-Stiftung und das Motto der Veranstaltung: „WÜRDE IM ALTER, Nein zur Rente ab 67!“.

Der große Saal wirkt weihnachtlich. Dafür sorgen das ganze Jahr über wirklich hässliche, mit hunderten von Glühbirnen gespickte Prachtleuchter, die wie überreife Weintrauben metertief von der Wabendecke hängen. Oskar Lafontaines Platz ist ganz vorne in der ersten Reihe unter einem dieser Leuchter. Die zwei Reihen hinter ihm wurden schon Stunden vor Veranstaltungsbeginn von seinen Braunschweiger Genossen besetzt. Rechts neben Lafontaine hat Norbert Blüm, 16 Jahre Minister unter Helmut Kohl, Platz genommen. Blüm setzt sich umstandslos auf sein „Reserviert für ...“-Namensschild. Das Papier knistert leise bei jeder unruhigen Bewegung. Die Fotografen haben Aufstellung genommen. Lafontaine muss eine Menge Knipser an Peter Sodann abgeben. Der sitzt rechts von Blüm, ist der Überraschungsgast des Abends und aussichtsloser Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten. Jetzt, kurz vor der Veranstaltung, sieht es allerdings aus, als hielte er ein präsidialverdächtiges Nickerchen. Blüm schaut kurz etwas besorgt zu ihm rüber, bei den über 60-jährigen ist das wohl so: Da gibt man aufeinander Acht, aber Entwarnung, der Alters-Kommissar ist wohlauf.

Auf der weiten Bühne, die sonst ganzen Orchestern Platz bietet, stehen ein paar einfache Tische für die spätere Diskussionsrunde. Eine Diaprojektion gegen die Bühnenrückwand verkündet das Motto des Abends. Rechts außen ein schlichtes Pult, drei Mikrofone.

Die schon lange im Vorfeld geplante Veranstaltung steht am Veranstaltungstag allerdings spürbar im Schatten der Ereignisse um die Finanzkrise. Das öffentliche Interesse hat sich deutlich verschoben. „Rente mit 67“ gehört zu den Aufmachern von gestern. Ob es auch wieder einer von morgen sein wird, werden die Medien neu verhandeln müssen. Um die Niedersachsen heute bei der Stange zu halten, ist also ein ordentlicher Spagat nötig zwischen LVA und Hypo-Real-Estate. Erwartungsgemäß meistert Lafontaine das umstandslos. Nach einer maximal fünfminütigen Aufwärmphase ist er bereits in seinem Element. Der Vorsitzende der Partei DIE LINKE spricht ohne Manuskript. Vielleicht hatte er sogar eines zum Thema Rente, aber Ereignisse der vergangenen Wochen dürften ihm das ordentlich zusammengestrichen haben. Lafontaine beginnt in Amerika. Und das sicher, nicht weil man heute Halloween feiert, sondern weil dort in wenigen Tagen der Präsidentschaftswahlkampf entschieden wird. Lafontaine kritisiert die anrüchige Rekordspendensammlung beider Bewerber, die auch vor Unternehmen der Wall Street nicht haltgemacht haben. Jetzt wäre die applausversprechende Halloween-Frage nach „Süßem oder Saurem“ ein Volltreffer, diese Pointe lässt sich der 65-jährige allerdings entgehen.

Nach Oskar haben es Folgeredner naturgemäß schwer. Albrecht Müller (SPD) empört sich über eine Verstrickung der Schröderregierung mit dem Finanzdienstleister AWD bei der Einführung der privaten Rentenversicherung. Lafontaine bleibt auch sitzend hellwach. Immer wieder gleicht er die zentralen Botschaften der Rede Müllers mit der Reaktion der Zuhörer ab. Dafür dreht er sich ohne aufzustehen erstaunlich leger aus der Hüfte, schaut mit fragend geneigtem Kopf über seine rechte Schulter und schenkt seinen Hinterbänklern sein siegesgewiss-verschmitztes Lächeln. Solche Kontaktaufnahmen kommen an. Der politische Widerkehrer aus dem Saarland bleibt auch passiv immer aktiv. Begabung, Professionalität und Durchhaltevermögen bescheinigen ihm auch seine politischen Gegner. Wird er allerdings allzu überzeugend, schimpfen sie ihn „Populist.“

Die Provinz zwischen Harz und Heide ist für linke Veranstaltungen kein ruhiges Pflaster. Hier im ehemaligen Zonenrandgebiet fuhr man Schulklassen jahrzehntelang an die Selbstschussanlagen der DDR-Grenze. Der Schock sitzt tief. Demokratie und Sozialismus werden hier noch über Jahre hinaus instinktiv auch damit in Verbindung gebracht werden.

Die Braunschweiger Stadtverwaltung hat 400 beantragte Plakataufhängungen zur Veranstaltung im Vorfeld auf 200 zusammengestrichen und zusätzlich aus „mangelndem öffentlichen Interesse“ mit 900 Euro Gebühren belastet. Jürgen Sperber, Pressesprecher der Stadt Braunschweig: “Die Stadt verfährt bei Sondernutzungen für Werbung generell sehr restriktiv. Dies gilt besonders dann, wenn sich die Werbung wie in diesem Fall äußerst negativ auf das Stadtbild auswirkt.“ Das sehen die Vorsitzenden der LINKEN in Braunschweig, Gisela Ohnesorge und Gerald Molder natürlich anders:
„Dass an einer solchen Veranstaltung kein öffentliches Interesse bestehe, ist geradezu absurd. Vielmehr kommt hier die LINKE ihrer Willensbildungspflicht als Partei im Sinne des Grundgesetzes nach.“ Ob es nun an der mangelnden Bewerbung liegt, dass der große Saal der Stadthalle mit knapp 800 Besuchern bei weitem nicht bis auf den letzten Platz gefüllt ist, bleibt spekulativ. Sicher ist, dass Rententhemen in Braunschweig überdurchschnittliches Interesse erwarten können: Im Frühsommer folgten dem Aufruf „Rentner machen mobil!“ zuletzt bis zu tausend Rentner auf Montagsdemos durch die Stadt. Auch die örtliche Tageszeitung bleibt restriktiv, die Veranstaltung wird im Vorfeld nicht einmal besprochen.

Norbert Blüm ist Redner Nr. 3. Eine seltsame Stimmung kommt auf. Selbst die linken Genossen in den vordersten Reihen werden nostalgisch. Mitgefühl mit den Unterdrückten, Verlierern und Geschlagenen gehört zu den Grundprinzipien linker Politik: Das ist bei Blüm dann allerdings zu viel der Ehre. Blüm war immerhin 16 Jahre lang der treueste Gefolgsmann Helmut Kohls: Er hat es verstanden, 16 Jahre Minister zu bleiben und es rückwirkend so aussehen zu lassen, als hätte er 16 Jahre gelitten. Das Gegenteil ist wahr: Blüm verband eine tiefe Männerfreundschaft mit Helmut Kohl. Erst nach dem Machtwechsel und im Rahmen der Parteienspendenaffäre kündigte er ihm 2000 diese Freundschaft. Das politische Gedächtnis ist eben kurz und die linke Sache scheint jetzt jede prominente Stimme zu brauchen. Der gemeinsame Nenner an diesem Abend: die Rente. Ein Thema, das wie kein anderes mit Norbert Blüm in Verbindung gebracht wird. „Denn eines ist sicher: Die Rente!“ verkündete er dereinst auf tausenden von bundesdeutschen Liftfasssäulen und heute wieder auf der Bühne der Stadthalle in Braunschweig. Mit einem Zusatz allerdings: ... wenn nicht Schröder, Riester und Rürup aus der Rente eine staatlich subventionierte „Ölquelle für die Versicherungsindustrie“ gemacht hätten, wie Albrecht Müller schon zuvor zusammengefasst hatte. Blüm ist sauer. Die Wangen glühen dunkel. Seine legendären rhetorischen Wechsel aus Empörung und Larmoyanz sind schärfer den je. Lafontaine schlägt sich erfreut auf die Schenkel und reibt sich die Hände. Mit Blüm hat er einen mit nach Braunschweig gebracht, der begeistern kann. „Jeder, der das Beinchen heben konnte, hat noch einmal auf Norbert Blüm gepisst“ solche Sätze kommen an. Blüm gefällt sich in dieser Rolle. Als er sich wieder zwischen Sodann und Lafontaine quetscht, hätte es keinen gewundert, wenn sich die ehemaligen Kontrahenten noch ein „Give-me-five!“ gegönnt hatten: Aber das bleibt Gott sei Dank aus.

Peter Sodann bedient dann noch gekonnt die ihm zugedachte Rolle als spleenigster Kandidat aller Zeiten und erzählt einen Witz, der wesentlich länger ist als die Lacher, die er sich verdient.

Die anschließende Podiumsdiskussion fällt denkbar mager aus, zu emotional waren die Redebeiträge; zu abschließend die Forderungen aller Redner nach einer würdigen Versorgung der Alten. Eine anregende Diskussion lebt von gegensätzlichen Meinungen: Da man sich aber weitestgehend einig ist, geht am Ende jeder, wann es ihm passt. Das Publikum versteht: Über zwei Stunden Politspeerfeuer erschöpft ebenso wie es begeistern kann.

Ein abschließendes gemeinsames „Glück auf,“ vielleicht mit Harzer Bergmannskapelle und bühnentauglichen Verbrüderungsgesten über alle Parteigrenzen hinweg, hätte den Braunschweigern aber sicherlich noch gut gefallen. Aber da sind die Weintraubenleuchter schon wieder hell erleuchtet und viele Fragen offen geblieben.

Zum Autor:

Alexander Wallasch, Jahrgang 1964, ist Autor, Journalist und Texter. Sein Roman „Hotel Monopol“ (Alexander Wall) beschreibt ein „erschreckend lebendiges Panoptikum“ (DIE WELT), bevölkert von Menschen auf ihrem Weg nach ganz unten.
Wallasch ist Kolumnist für SUBWAY (z.B. Amy Winehouse und die Flaschentaucher). Für die TAZ entdeckte er Andreas Baaders Plattenliste und besuchte einen Bauern, der überhaupt keine Frau sucht. Der fünffache Familienvater findet etwas anderes als eine linke politische Positionierung fast unanständig.

Teamwork und Selbstkontrolle lösten die Überwachung durch die Vorgesetzten ab

Beitrag von Bernd Hüttner, geschrieben am 04.11.2008
Bernd Hüttner, Rosa-Luxemburg-Stiftung

Der Hamburger Historiker und Euromayday-Aktivist Arndt Neumann untersucht in seinem Buch, inwieweit die historische Alternativbewegung im westdeutschen „Modell Deutschland“ der 1970er und 1980er Jahre ein Wegbereiter des Neoliberalismus war. Viele alternative Projekte sehen damals im kollektiven und selbstbestimmten Arbeiten einen Gegenentwurf zur Unterordnung im Büro und am Fließband und gehen voller Elan an die Gründung von Kinderläden, Druckereien, Fahrradwerkstätten und so weiter. Schon bald stoßen sie allerdings an die Grenzen eines auf Konkurrenz basierenden Kapitalismus. Die chronisch unterkapitalisierten Projekte müssen ihre Wettbewerbsnachteile durch vermehrtes „unternehmerisches“ Denken und durch Mehrarbeit oder Spendensammeln ausgleichen.

Neumann untersucht drei größere Projekte bzw. Ereignisse genauer: Die Gründung der Tageszeitung taz, die im Nachhinein als erstes Projekt angesehen werden kann, das konzeptionell und schon bei seiner Gründung post-alternativ war; dann den tunix-Kongreß 1978, den 20.000 Personen besuchen und der eine gewisse Repolitisierung der Alternativszene symobilisiert und schließlich die Gründung des Netzwerk Selbsthilfe.
Konflikte, die sich bis heute durch die Linke ziehen, und wie sie sich aktuell wieder in der Debatte um das Grundeinkommen ausdrücken, haben ihre Wurzeln in jener Periode: Sollte die post-sozialistische „Politik der ersten Person“ vor allem der individuellen Emanzipation dienen, oder war sie ein kollektiver, ja antikapitalistischer Ansatz? Waren die damals ja noch weit stärker fließenden Sozialgelder die Basis für die Mangelökonomie der Projekte, oder sollten sie nicht eher – im Sinne der „Aneignung“ – zur Finanzierung des politischen Kampfes dienen? Ist „Arbeit“ gestohlene Lebenszeit oder ist Lohnarbeit der Ort des Kampfes?

Das Bedürfnis nach Autonomie verbindet sich dann bald mit dem unternehmerischen Denken und dem Zwang zu mehr Effizienz, sind doch die Angehörigen der Alternativprojekte Arbeiter_in und Unternehmer_in zugleich. Neumann schildert auch den Ideentransfer und den Kompetenzaustausch in die Mehrheitsgesellschaft, der zum einen über prominente Einzelpersonen, wie etwa Matthias Horx, aber auch generell vonstatten geht, denn die „Gegenseite“ schläft nicht. Die Ideen und das Arbeitsverständnis der alternativen Bewegung werden im Laufe der Zeit zu Bestandteilen der neuen postfordistischen Arbeitsverhältnisse und gehen dann in den 1990ern im Feld der „neuen Selbständigkeit“ auf: Dynamik, Netzwerke, Kreativität oder flache Hierarchien sind heute längst nicht mehr kritisch oder gar links konnotiert.

Neumanns Text bleibt gelegentlich oberflächlich, was aber vor allem der Kürze seines Textes geschuldet ist. Mit seinem Buch hat er einen lesenswerten und längst überfälligen Beitrag zur historischen Reflexion über alternative Betriebe und das Verhältnis von Selbstbestimmung und Ausbeutung vorgelegt. Auch wenn sich keine gerade Linie von den Latzhosen und Wollsocken zu den zeitgenössischen urbanen Pennern, die ohne ihre Laptops nicht leben können und sie doch gleichzeitig hassen, ziehen lässt – Neumann bietet seinen Leser_innen einen wichtigen Beitrag zur Debatte um Neoliberalismus und seine vielfältige Hegemonie.

Arndt Neumann: Kleine geile Firmen. Alternativprojekte zwischen Revolte und Management; Edition Nautilus Hamburg 2008, 96 Seiten. Siehe auch die Verlagsankündigung.

“In neoliberalen Managementkonzepten steht Autonomie für eine möglichst effektive Arbeitsorganisation, in der flache Hierarchien, Teamwork und Selbstkontrolle die Überwachung durch die Vorgesetzten abgelöst haben.”

Zum Autor:

Bernd Hüttner, Jahrgang 1966, Politikwissenschaftler, arbeitet als Regionalmitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Bremen. Koordinator des bundesweiten Gesprächskreises Geschichte der RLS und Mitglied der Historischen Kommission der Partei DIE LINKE. Weiteres siehe hier auf der Website der Bremer Landesstiftung der RLS.

Public Viewing statt allein vor der Glotze!

Beitrag von Thomas Lohmeier, geschrieben am 29.10.2008

Wer schaut sich noch ein Fußballspiel allein zu hause an? Große Medienereignisse werden heute kollektiv verfolgt. Die Zuschauer, die vor dem Großbildschirm ihre Mannschaft lautstark anfeuern, werden Teil der Inszenierung. Schießt ihr Team ein Tor, wird ihr Jubel später analysiert wie der geniale Pass zum Torschützen.

Am kommenden Dienstag steht wieder ein Medienereignis an, das Milliarden Menschen in seinen Bann ziehen wird: Die Wahl des US-Präsidenten. Und was dem Fußballfan das WM-Endspiel, ist dem Politikjunkie die US-Präsidentschaftswahl. Die Redaktion des prager frühlings dachte sich daher, was dem Fußballfan recht ist, muss ihr billig sein: die Wahl des ersten schwarzen Präsidenten der USA kann nicht einfach nur zu Hause vor der Glotze verfolgt werden.

Der beste Ort, das weiß spätestens seit der WM 2006 jeder, ist natürlich der, wo sich die treuesten Fans versammeln. Dort ist am meisten los, die Stimmung am besten. Und so mischen wir uns unter die Exil-Demokraten in Berlin im Kino Babylon in Mitte. Wer mit uns schauen will, möge es uns nachtun. Mehr Informationen gibt es beim Democrats Abroad Berlin.

Rifondazione Sparkassista

Beitrag von Kolja Möller, geschrieben am 24.10.2008

Der Umgang mit der Finanzkrise wird innerhalb der Linken gegenwärtig heiß diskutiert: Soll die Linke realistische Vorschläge zur Re-Regulierung der Finanzmärkte unterbreiten oder dem „Volkszorn“ zum Ausdruck verhelfen und die Milliardenbürgschaften des Bundes mit Verweis auf fehlende Mittel für soziale Infrastruktur ganz grundsätzlich ablehnen? Beteiligt sie sich mit Vorschlägen an einer „Lösung“ der Krise oder betreibt sie eine Krisenverschärfungspolitik in der Hoffnung, dass sich politische Alternativen aus der sozialen Krisendynamik heraus entwickeln? Auch auf der Analyseebene konkurrieren unterschiedliche Ansätze: Handelt es sich bei den Rettungsaktionen um eine Art keynesianische Läuterung der Marktliberalen oder ist ein neoliberaler Etatismus vorstellbar, der einen starken Staat im Finanzsektor mit dem Rückbau der öffentlichen Daseinsvorsorge und dem Ausbau des Sicherheitsstaats kombiniert? Spannende Diskussionen stehen also an. Linke Reformalternativen für die Vergesellschaftung und Demokratisierung des Finanz- und Bankensektors sind bisher allerdings Mangelware. Die Forderung nach „Verstaatlichung“ alleine jedenfalls holt niemanden mehr hinter dem Ofen hervor. Vielleicht wäre Demokratisierung ein besserer Anknüpfungspunkt, um deutlich zu machen, dass es um die reale Verfügungsgewalt und die demokratische Kontrolle des Bankensektors geht. Sparkassensystem für alle also. Rifondazione Sparkassista.

700.000.000.000 Dollar

Beitrag von Jörg Schindler, geschrieben am 01.10.2008

700.000.000.000 Dollar. Siebenhundert Milliarden Dollar. Etwa 2 komplette deutsche Bundeshaushalte. 20-mal die kompletten Kosten, um die Wasserprobleme Afrikas zu lösen. Etwa 2.000 Dollar für jeden Bürger der USA oder 80,45 Euro für jeden Menschen der Erde, vom Säugling bis zum Greis. Ca. 14 Monate Arbeitslosengeld II für alle BundesbürgerInnen oder 16 Jahre lang für alle, die heute schon von von HARTZ IV leben müssen. Ca. ein Jahr Gehalt zu Mindestlohnbedingungen für alle Beschäftigten der Bundesrepublik. 16 Millionen Mittelklasse-Neuwagen. Das 68-fache der gesamten Entwicklungshilfeausgaben der EU.

Wir erinnern uns: Während im neoliberalen Staat der westlichen Welt die Sozialausgaben gekürzt wurden und jede (im Verhältnis) noch so kleine Haushaltsmehrausgabe für Soziales, Bildung und Umwelt quasi zur Saus-und-Braus-Verschwendung-auf-Kosten-der-zukünftigen-Generationen umgelogen wird, während HARTZ-IV-EmpfängerInnen sich erst durch lange Montagsdemos die Auszahlung der Stütze zum 1. statt zum 30. erkämpfen müssen, während die 10-Euro-Zuzahlungsregelungen den Ärmsten die Angst vorm Arzt nochmals vergrößert - während dessen braucht die US-Regierung ungefähr eine Woche, um den 1000-fachen Betrag für die Stützaufkäufe der Schrottbörsenpapiere locker zu machen, braucht Finanzminister Steinbrück von Donnerstag bis Montag, um eine 23-Milliarden-Bürgschaft für die Zocker-Bank "Hypo Real Estate" freizugeben. Weshalb der Bundestag nicht beteiligt wurde? Weil der für die Alleinentscheidung der Bundesregierung zugestehende Bürgschaftsrahmen "noch nicht ausgefüllt" sei. Aha, von wegen kein Geld da. Zum Vergleich: 23 Milliarden ist mehr als der gesamte Jahresetat des Bundes für HARTZ IV.

Angesichts der aktuellen Finanzkrise geht also gerade einiges. Insbesondere geht das staatliche Geldausgeben wieder. Plötzlich finden alle, selbst die neoliberalen Mainstreamparteien, dass "Regulierung" her muss. Einzig die FDP und Hans-Olaf Henkel maulen ein bisschen herum, dass eigentlich doch der Staat daran schuld sei, dass den Banken die Auswirkungen ihrer Fondsgeschäfte über den Kopf wächst. Aber die Fratzen der Protagonisten der unverfälschten Markwirtschaft wirken schreckstarr und hölzern. Dass sich nach der aktuellen Pleite alles am Markt wieder von selbst einregelt, glaubt insgeheim auch von denen keiner mehr.

Die Finanzkrise hat also mehr aufgeklärt, als hunderte linke Veranstaltungen und tausende DemonstrantInnen gegen G8 & Co. Sie hat am eigenen Beispiel das ganze Gelaber von der globalen Marktwirtschaft als sich stets auspendelndes, leistungsgerechtes Ordnungssystem, das zu allgemeinem Weltwohlstand führt, widerlegt. Nachdem der Finanzmarkt das Totalbesäufnis eingeleitet und die Banken immer schlechteren Fusel dazugegeben haben, droht der knock-out, der Absturz. Katerstimmung ist angesagt. Und Besserung, "Regulierung" wird gelobt. Bis zum nächsten Mal.

Tatsächlich: Die Regulierung der Finanzmärkte ist nicht mehr nur eine linke Spinnerei eines deutschen Ex-Finanzministers. Sie ist schlicht notwendig, um die weitere Barbarisierung der Verhältnisse - bis hin zur völligen finanziellen Vernichtung von Existenzen - abzuwenden. Wichtig ist aber: Den notwendigen Stützkäufen muss die Staatsübernahme des Wertäquivalents bei den betroffenen Banken durch den Staat erfolgen. Die Teil-Verstaatlichung des Bankensektors ist notwendig, um die Ruinen, die der Neoliberalismus in der Weltwirtschaft hinterlassen hat und für die die verschleuderten falschen Eigenheim-Glücksversprechen an der Ostküste der USA nur ein plastisches Symbol sind, aufzuräumen. Die Linke sollte sich am Aufräumen beteiligen.

Der Lesestoff zwischen den Heften

Beitrag von Norbert Schepers, geschrieben am 25.09.2008
»prager frühling« beim Parteitag der LINKEN in Cottbus

Wem es bisher entgangen sein sollte: In der LesBar veröffentlicht »prager frühling« neben den Printausgaben weitere Artikel auf dieser Website: "Nicht alle Artikel finden Platz in der Printausgabe, obwohl sie lesenswert sind. Und nicht immer kann es warten, bis ein Beitrag publiziert werden möchte."

Das Warten auf das nächste Heft – »prager frühling« Nr. 02 erscheint Mitte Oktober – kann mensch sich aktuell mit folgenden Beiträgen verkürzen:

was ist realpolitik?
Anmerkungen zu einem Kampfbegriff. Von Thies Gleiss

einen raum zu schaffen, indem wir alle atmen können
Rezension: Pierangelo Maset, „Laura oder die Tücken der Kunst“. Von Katharina Köpping

zunehmende unsicherheit
Kampagne der Europäischen Linken gegen Prekarität. Von Graziella Mascia

unfrieds „öko“-elite
Interview mit dem stellv. Chefredakteur der taz. Von Alexander Wallasch

liebe ist auch keine lösung
Warum „Sex and the City – der Film“ eine einzige Enttäuschung ist. Von Caren Lay

die letzte chance verpasst
Antwort auf die Frage des ND am 21. August: „Prag '68: War die Intervention des Warschauer Paktes notwendig?“ Von Norbert Schepers

obamas „change“
Ein politisch-kultureller Bruch im Herzen des Empire. Von Pedram Shahyar

Was ist Realpolitik?

Beitrag von Thies Gleiss, geschrieben am 25.09.2008
Thies Gleiss

Die Mädels und Jungs vom prager frühling wollen es wissen und zwar am besten für alle Jahreszeiten: Was ist Realpolitik? Deshalb eine kleine Anfrage bei einem Mitglied des Parteivorstands der Partei DIE LINKE, in dessen Vorstandspostenvorstellungsvorschau im Rahmen der Parteiinternetseite als Motto steht: de omnibus dubitandum – An allem ist zu zweifeln. Das ist schon mal ein guter Anfang. Üblicherweise wird über Realpolitik nicht gesprochen, sondern sie wird gemacht. Eines der auffälligen Kuriosa der neuen linken Partei in Deutschland ist jedoch, dass es zum guten Ton in der Partei gehört, sich lautstark zur Realpolitik zu bekennen. Das findet sich in dem Grundlagentext mit dem erotischen Titel „Programmatische Eckpunkte“; das steht in fast jeder Stellungnahme der die Parteitreppenhäuser immer besonders sorgfältig fegenden mainstream-Strömung „Forum demokratischer Sozialismus“; das reklamiert bereits der Name der die Parteitreppenhäuser trotzdem immer noch nachwischenden zweiten großen PieP (= Partei in einer Partei), der „Sozialistischen Linken – realistisch und radikal“ und das hat bei den IdeologInnen und GeometrikerInnen der Partei geradezu Kultstatus, in Form eines angeblichen Dreiecks aus „gestaltender Realpolitik – opponierender Widerständigkeit – System übergreifenden Perspektiven“, vor dem niederzuknien Kernpunkt des kleinen Katechismus des Parteimitglieds ist, oder sein sollte. Als armer Wurm, der schon als Schüler im Musikunterricht mangels Talent für andere Instrumente nur die Triangel schlagen durfte, weiß ich, dass so ein Dreieck ausdrücklich dafür konstruiert und bestimmt ist, immer nur einen Ton zu erzeugen, egal wie es gehalten wird. Heute, mit Grundkenntnissen der Dialektik, hält sich die Begeisterung für „strategische Dreiecke“ bei mir deshalb in engen Grenzen.

So eine Selbstetikettierung der LINKEN als realpolitische Kraft ist zunächst als das berühmte Pfeifen im dunklen Wald zu erklären. Die Partei wähnt sich, trotz der beeindruckenden Erfolgsgeschichte der letzten vier Jahre, einem großen und einem kleinen Druck ausgesetzt, vor denen gerade eine so von alten Männern dominierte Partei keine Furcht, allenfalls Ehrfurcht zeigen darf. Leider wird der kleine Druck gern mal als der große angesehen – und auch umgekehrt.

Der kleine Druck kommt heute vom politischen Gegner. Nach einem Vierteljahrhundert relativ sorgloser Dominanz ihrer TINA-Politik (there is no alternative), sehen sich die herrschenden Kräfte und ihr Parteienkartell aus mittlerweile vier Parteien einer wachsenden Legitimationskrise ihrer Politik aus Lohnkürzung, Kriegstreiberei, Umweltzerstörung und Entdemokratisierung ausgesetzt. Die Zustimmung durch stummes Wählen ihrer Parteien nimmt stetig ab, die Mitgliedschaft in den großen Parteien, den Kirchen und den auf Sozialpartnerschaft – um nicht zu sagen auf Realpolitik – festgelegten Gewerkschaften schrumpft. Die Zustimmung durch stummes Nicht-Wählen ist zwar für sich genommen noch keine Bedrohung, aber doch von minderer Qualität als in Zeiten, wo „Willy Brandt noch Bundeskanzler war“. Aber es wächst Unruhe, die Streiktage nehmen zu, die „schweigende Mehrheit“ schweigt nicht immer, in allen gesellschaftlichen Bereichen, von den Kindern bis zu den Alten, schwelt ein kaum noch auszurottendes Gefühl großer sozialer Ungerechtigkeit und – vielleicht am bedeutendsten – die Perspektive der jungen Generation, zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten eine Generation zu sein, der es schlechter als der Elterngeneration gehen soll und wird, lähmt die Zustimmung gerade in den dynamischsten Milieus und Sektoren der Gesellschaft. Und jetzt noch die LINKE, die mit einer wahrlich nicht Kraft strotzenden Mischung aus einer RentnerInnenpartei, die tapfer die Interessen der Opfer der Restaurierung des Kapitalismus in der DDR verteidigt und mit dem DDR-Sozialismus partout nicht untergehen wollte, aus einer jahrelang jeden Fehler und jede Abwiegelei der SPD stumm ertragenden Truppe aus sozialdemokratischem und gewerkschaftlichem Fußvolk, aus einer Horde frustrierter, rechthaberischer und zerstrittener radikaler Westlinker und mit einem ehemaligen Vorsitzenden der SPD als charismatischen Lautsprecher an der Spitze, dennoch von Erfolg zu Erfolg läuft.

Angesichts dieser Legitimationskrise hoffen und spekulieren die herrschenden Kräfte noch relativ ungebrochen auf die „Vernunft der Massen“ und deren Verantwortung für das Ganze. Es wird wohl noch alles im Rahmen des Kapitalismus gut gehen, alles wird bezahlbar bleiben. Der LINKEN werden deshalb nur die kleinen ideologischen Geschütze entgegen gestellt: sie sei wahlweise mal utopisch, mal von Gestern, ihre Forderungen wären nicht finanzierbar und durchführbar – keine Realpolitik eben. Die Milliarden Dollar und Euros, die für scheinbar absurde Kriege in den Bergen des Hindukusch oder der Wüste Iraks ausgegeben werden können, nur damit langfristig das kapitalistische System überlebt, mögen vielleicht schnell vergessen oder übersehen werden, aber gerade die letzten Tage haben eindrucksvoll gezeigt, was der Kapitalismus notfalls über Nacht zu finanzieren bereit ist – ohne genau zu wissen, ob er dies jemals von den besitzlosen Klassen wieder eintreiben kann – damit sein System nicht zusammenbricht: 700 Milliarden Dollar und mehr, nur um sein seit Jahren profitabelstes Geschäftsfeld, die Finanzspekulation zu erhalten. Da sind die 154,7 Milliarden Euro (nicht etwa 154,8 – damit hier niemand zu lachen beginnt), die laut Peter Struck die Umsetzung der Politik der LINKEN angeblich kosten würde, doch fast im Peanutsbereich.

Die LINKE könnte dieser kleinen ideologischen Offensive völlig gelassen begegnen. Würde sie nichts dazu sagen und tun, würde ihre Erfolgsserie zumindest bei den Wahlen nicht abreißen. Wahlkampf machen zurzeit alle anderen politischen Kräfte für die LINKE durch ihre Realpolitik. Sie könnte jetzt ebenfalls realpolitisch klug reagieren, und die Ausgaben für auch in anderen Zeiten völlig wirkungslose Großfotos ihrer KandidatInnen, die an irgendwelche Bäume gehängt werden (die Fotos!), auf Null reduzieren. Sie könnte – und sollte! – einen sparsamen Wahlkampf führen, schon gar einen unter solchen hirnlosen Waschmittelparolen wie in Bayern „Original Sozial“, und sich auf das konzentrieren, was nur sie kann: die direkte Ansprache und Organisierung der Menschen im Stadtteil, im Betrieb, in den Schulen. Aber stattdessen reagiert die LINKE mehrheitlich so dumm, wie von der Gegenseite erhofft. Statt sich über die kleinen Geschütze der Strucks, Münteferings, Pofallas und wie sie alle heißen lustig zu machen, wird sich fleißig gerechtfertigt, wie billig die LINKE doch zu haben ist. Kostet alles nicht viel, geht kostenneutral, tut denen nicht weh, die so laut schreien, dass ihnen nicht weh getan werden darf, die LINKE sei keine Umverteilungspartei oder, wie unfreiwillig komisch der forsche FDS-Matthias höhnt: „Auch der Sozialismus muss gegenfinanziert werden“. Wer dies nicht aus Dummheit, sondern aus bewusster Zielsetzung macht, wird sehr schnell nicht anders können, als sich bei all diesen Gegenrechnungen als erstes selbst wegzurechnen. Stand zu Zeiten Fritz Tarnows noch die reale Perspektive der SPD als „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“ offen – bis die Nazi-Schergen sie in Blut erstickten – so bietet sich der LINKEN von heute auf dieser Tanzfläche höchstens noch die Rolle des Büglers vom Kittel eines Arztes am Krankenbett des Kapitalismus an – mithin ein prekäres Beschäftigungsverhältnis ohne jede Kündigungsfrist und bei kärglicher Entlohnung.

Soweit zum kleinen Druck. Der große Druck, der die LINKE zum heftigen Bekenntnis zur Realpolitik treibt, entspringt der historischen Krise der sozialistischen Gesellschaftsperspektive seit zwanzig Jahren. Ging 1989 die je nach Laune mal „realsozialistisch“, mal stalinistisch genannte Machtperiode der politischen Kräfte in der Tradition der kommunistischen dritten Internationale im Sturzflug zu Ende, so erlebten die sozialdemokratischen Kräfte in der Tradition der zweiten Internationale ihr nicht minder schweres und möglicherweise finales Fiasko ab 1998. Damals waren die Parteien, die in ihren Programmen immer noch den demokratischen Sozialismus fordern, weltweit und vor allem in Europa auf dem absoluten Höhepunkt ihrer Macht. Sie stellten in fast allen EU-Staaten die Regierung, sahen sogar in der US-Regierung unter Clinton einen ideologischen Verbündeten. Was hätten sie ohne Revolution und nur durch die Macht der Stimmzettel alles für den Sozialismus tun können – wenn sie es denn wollten? Stattdessen begann die Zeit der Kriege und der neoliberalen Umverteilung von unten nach oben, die wie zum Hohn von den Herren Schröder, Blair, Juspin und anderen noch als „moderne linke Politik“ verkauft wurde. Die Kunden blieben aber zu Recht und in Massen aus. Die neue Linkspartei kann sich dieser Hypothek aus dem Fiasko der beiden großen Strömungen der ArbeiterInnenbewegung nicht entziehen. Weder wird es jemanden geben, der diese Hypotheken kurzerhand auslöst, noch hilft der Hinweis, dass sowohl dem bürokratischen Sozialismus einer SED von der Bevölkerung zurecht die Höchststrafe erteilt wurde, die Entsorgung auf dem Misthaufen der Geschichte, als auch der Sozialdemokratie die Basis durch Massenaustritt und Nichtwahl berechtigterweise entzogen wurde. Es gibt deshalb tatsächlich viele gute Gründe, die Wiederbelebung einer sozialistischen Perspektive behutsam anzugehen, sie auf reale neue Erfahrungen der sozialen Bewegungen aufzubauen, bei der auch die Widersprüchlichkeit der politisch gegnerischen Parteien aufgegriffen und ausgenutzt wird. Die religiöse Berufung auf alte, vorgeblich unverfälschte Lehren wird nicht funktionieren, höchstens erneut zum Scheitern verurteilte Projekte eröffnen. Allein, es gibt einen Grund, der dies weit gehend verunmöglichen wird. Die Erneuerung der sozialistischen Perspektive erfolgt nicht im Labor, sondern im realen Klassenkampf. Und darin sind wir bereits die SozialistInnen, in der Propaganda der Gegner ebenso wie in der Reflexion durch die Menschen, die wir ansprechen. Es bleibt der LINKEN gar keine Wahl, als den großen Mantel anzuziehen, bevor sie überhaupt hineingewachsen ist.

Was ist Realpolitik? Zum Beispiel das: Im Sommer diesen Jahres hat sich in den USA die Men’s Dress Furnishing Association nach sechzig Jahren unermüdlichen Schaffens selbst aufgelöst. Der Verband der Krawattenindustrie hatte zuletzt noch 25 Mitglieder, weil die Repräsentanten der herrschenden Klasse der USA einfach keine Schlipse mehr tragen wollen, die burgergestopften Männer der Mittel- und Unterschicht auch nur noch unwillig. Wer es in der deutschen LINKEN zu etwas gebracht hat, legt sich stattdessen erstmal ein ordentliches Outfit auch ohne Kleiderordnung zu. „Ankommen in der Realität“ heißt hier die Parole, was ungefähr das Gegenteil von Realpolitik ist. Clown und Chefsprecher zugleich dieser Krawattenhaltung ist Gregor Gysi, der wie kein anderer der LINKEN eine Realitätsverzerrung einreden will, dass der Kapitalismus von heute, mit Hartz IV, mit dreißig Prozent prekär Beschäftigten, mit zwanzig Prozent der Kinder in Armut, mit weltweiter Ungleichheit und imperialistischen Kriegen nur ein Versagen, ein Irrläufer ist, der friedlich, schiedlich behoben werden kann. Statt einer ziemlich erfolgreichen Durchsetzung eines gewollten und mit allen Mitteln verfolgten Klasseninteresses des Kapitals, soll alles nur eine Fehlentwicklung der Politik sein. Als politische Strategie folgt daraus eine Wettbewerbskonstellation mit den anderen Parteien, die Dietrich Diederichsen halbwegs treffend so beschreibt: „Wir haben diese politische Matrix, die so unübersichtlich nicht ist: Rechts oben sitzen Wirtschaftsliberale, die gern mal das eine oder andere Bürgerrecht mittragen, wenn's nicht zu viel kostet; rechts unten sitzen Traditionalisten, die haben einiges gemeinsam mit den eher traditionalistischen Linken, die links unten sitzen; links oben sitzen linke Bohemiens, die manchmal die Typen von rechts oben beim Koksen auf dem Klo eines Clubs treffen. Rechts oben sitzen Teil der CDU und der FDP, rechts unten CDU/CSU und die Rechtsradikalen; links oben die intellektuellen Linksradikalen, aber auch die meisten Grünen und die Israel freundliche Fraktion der Partei Die Linke; links unten die ganze SPD und die Ost-Linke. Das Problem: Die Linke hat sich in diese Spaltung hineinmanövriert, aus der heraus sie ganz handlungsunfähig wird. Und: Migranten sind gar nicht vertreten.“ Die irreal reale oder real irreale Konsequenz lautet, innerhalb dieser Matrix die Plätze verschieben, durch Wahlkämpfe, parlamentarische Initiativen und Regierungskoalitionen. Das Ergebnis davon ist eine Politik, die insofern real ist, dass sie sich in gegebene Verhältnisse einschmiegt und die Realität bestätigt. Verändernd im Sinne der eigenen programmatischen Wünsche ist diese Politik aber nicht, oder nur, wenn sie von der Gesamtmatrix gebilligt wird. Oder in anderen Worten: die LINKE reduziert sich zu einer Gemeinwohlpartei, unglücklicherweise sogar in Kenntnis der Tatsache, dass in einer Klassengesellschaft das Gemeinwohl immer das der herrschenden Klasse ist. Beim Verlust einer von (Klassen)Interessen geleiteten Authentizität gibt es leider auch immer furchtbare Kollateralschäden vor allem in der demokratischen Verfasstheit der Partei. Sie werden in der Regel durch fast surreale Gebote und Verbote erzeugt: Eine Partei darf nicht streiten, muss einheitlich sein, immer gleich aussehen, um wieder erkennbar zu werden und ähnliche moralische Imperative. So ist die LINKE heute schon ein gutes Stück dahin gekommen, wo der politische Gegner und die Medien sie haben wollen: zu einer Partei wie jede andere.

Und was lesen wir hier, in Kids-Power, der „einflussreichen Kinderzeitung der Naturfreundejugend Deutschlands“? „Du kannst eine LobbyistIn für Kinderinteressen sein. Versuche deine Forderungen, auf unterschiedlichen Wegen und immer wieder in die Politik zu bringen. ... Mache keine Kompromisse! Eine LobbyistIn vertritt nur die Interessen ihrer Gruppe. Weil an einer politischen Entscheidung immer viele Menschen mitwirken, ist sie immer ein Kompromiss. Wenn du aber schon zu Beginn einen Kompromiss forderst, wirst du am Ende nicht mehr viele Kinderinteressen in der Entscheidung finden. Geht nicht, gibt es nicht! ‚Wie sollen wir das finanzieren?’ ist eine beliebte Frage von PolitikerInnen. Lobbyisten interessiert diese Frage nicht.“ Welch frischer Realismus. Ein Selbstverständnis der LINKEN als rabiate Interessenvertreterin der Lohnabhängigen, Erwerbslosen, Auszubildenden, MigrantInnen und RentnerInnen wäre in dreifacher Weise realistisch: erstens wäre dies eine nötige und langlebige Existenzgrundlage der Partei, weil es eine solche Vertretung heute nicht gibt. Zweitens würde sie realistisch von den tatsächlichen Zuständen einer Klassengesellschaft ausgehen und nicht von einer Illusion des Gemeinwohls. Und drittens hätte sie die Chance, verändernd zu wirken, würde also mehr oder weniger tiefe Spuren in der Wirklichkeit hinterlassen. „Veränderung beginnt mit Opposition“ – dieser einzige politisch geistreiche Wahlkampfslogan der alten PDS gilt für eine linke Partei, die ungefähr zehn Prozent der Wahlbevölkerung hinter sich weiß und davon gerade ein Prozent in ihren Reihen organisiert, ausnahmslos. Das alte Bonmot von Tucholsky, dass die Sozialdemokraten glaubten, sie wären an der Macht, dabei waren sie nur an der Regierung, bezog sich auf die damals Mitglieder- und WählerInnen stärkste Partei. Die LINKE gewinnt in einigen Ostbundesländern vielleicht ein Drittel der WählerInnenstimmen, bei sechzig Prozent Wahlbeteiligung. In den anderen Ländern ist sie eine fünf oder zehn Prozent Partei. Ist es unrealistisch anzunehmen, dass eine solche Partei auch nicht viel mehr als zehn Prozent der Regierungspolitik bestimmen wird? Man häuft also einen Riesenmisthaufen aus den neunzig Prozent an, um eventuell eine Butterblume zum Blühen zu bringen und als Wachstum förderndes Mittel wird noch die Hälfte der Glaubwürdigkeit geopfert. Irrealer kann die gegenwärtige „Regierungsdiskussion“ der LINKEN kaum sein. Schon das Einstiegswort „Regierungsbeteiligung“ enthüllt den Selbstbetrug, weil es nur um Beteiligung an etwas und mit jemandem geht, der gar nicht existiert. Die Gesamtbilanz der Regierungsbeteiligungen der LINKEN ist nur verheerend. Hätte sich die Partei konsequent als Oppositionskraft und Bündnispartner der gesellschaftlichen Widerstandskräfte eingesetzt, hätte sie bei jedem einzelnen angeblich durch die Regierungsteilhabe erzielten „Erfolg“ ganz real sehr viel mehr herausholen können.

Es geht also um eine andere Realpolitik, die in jedem Augenblick ihrer Umsetzung, das „revolutionäre“ Ziel, die Grund legende Veränderung der Produktionsweise nicht aus den Augen verliert. „Die Revolution ist immer unmöglich, bis sie unausweichlich wird“, lautet eine treffende Feststellung von Trotzki. Bereits im Sozialkundeunterricht der unteren Jahrgänge wird heute die Kluft zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit gelehrt, später, nach erster Lektüre von linken oder marxistischen Soziologen, begreift Jeder und Jede, dass in der bürgerlich-kapitalistischen Demokratie das Parlament nichts zu entscheiden hat. Im Zuge der EU-Verträge und der hohen Staatsverschuldung ist ihm sogar das immer so hochstilisierte „Budgetrecht“ genommen worden. In der LINKEN wimmelt es nur von derart „links“ überzeugten Mitgliedern, wahrscheinlich glaubt die Mehrheit, so zu denken. Wiederum fast surreal, auf jeden Fall alles andere als real angemessen, steht dem die fröhliche Hatz auf noch den letzten kleinen Parlamentssitz gegenüber. In allen Kreis- und Landesverbänden prägt nur noch ein Hauen und Stechen um parlamentarische Karrieren das Parteileben. Dass ist eine sehr affirmative, damit natürlich auch sehr reale Realpolitik, die vor allem die Jungs so übereifrig mit Sachen spielen lässt, die sie auf der Parteiversammlung gern mal als Spielbein oder als Ergänzung brandmarken „die zwar wichtig, aber eben nur Ergänzung sind“ zur außerparlamentarischen Arbeit. Das ist die Männermentalität, die den Playboy nur wegen der Interviews liest. Mit dem unverwüstlichen Ruf „Was für uns erledigt ist, ist für die Massen noch lange nicht erledigt“ hatte Lenin seinerzeit die ultralinken Kräfte zur Teilnahme an den Parlamentswahlen aufgerufen. Bei näherer Betrachtung der LINKEN von heute, wäre ich gar nicht mehr sicher, ob „das“ für die Mitglieder, die sich flott in Zirkeln mit Namen wie Sozialistische Linke, Kommunistische Plattform, Marx 21, Luxemburgkreis organisieren, wirklich schon „erledigt“ ist. Dass kleine Maßnahmen zur Eindämmung der Parlamentarisierung, die bei anderen linken Parteien praktiziert werden, wie zum Beispiel Befristung der Parlamentszeit, Rotation, Trennung von Amt und Mandat, rigide Abführung der Diäten und ähnliches in der LINKEN kaum auf Problembewusstsein stoßen, bestätigt und verstärkt dies.

Es geht also um eine andere Realpolitik. Eine Politik, die sich vollständig darauf orientiert, die realen gesellschaftlichen Kräfte- und Klassenverhältnisse in Richtung einer Stärkung der Schwachen und Besitzlosen zu verändern. Eine Politik, die dynamisch ist und Veränderungen auslöst und nicht nur das Bestehende bestätigt. Wer die Politik der Umverteilung von unten nach oben stoppen will, muss nicht nur „Mehr Geld für die da unten“ fordern, nicht nur höhere Lohnsteigerungen und Mindestlohn, sondern auch solche Forderungen, die, je mehr sie umgesetzt werden, desto mehr die Macht der Lohnabhängigen stärken: Festgeldforderungen statt Prozentforderungen in den Tarifrunden, automatische Anpassung der Löhne an die Inflation, um in den Tarifrunden reale Lohnerhöhungen zu erkämpfen und nicht nur den Preisen hinterherzulaufen. Es muss eine Politik sein, die gleichermaßen die bestehenden Strukturen dynamisch unterhöhlt: Vetorechte für Beschäftigte in allen wichtigen betrieblichen, umweltpolitischen und gesundheitspolitischen Fragen am Arbeitsplatz. Statt Beibehaltung der Pendlerpauschale, mit all ihren ökologisch fatalen Folgewirkungen, sollte die Bezahlung der Fahrtzeit zum Arbeitsplatz als Arbeitszeit gefordert werden. Wer die Arbeitszeitverlängerung verhindern und gleichzeitig die Erwerbsarbeit neu verteilen will, muss eine radikale Arbeitszeitverkürzung fordern, weil Zurückhaltung in dieser Frage nicht etwa mehr Realitätsbewusstsein, sondern nur Niederlage in diesem Kampf bedeutet. Es geht um den systematischen Ausbau der politischen Rechte für die Menschen ohne Geld, Besitz und Einfluss. Im Mittelpunkt davon steht der Ausbau von realen Gegenmachtstrukturen, den Druck auf die herrschenden Kräfte zu verstetigen. Nicht die Verpflichtung auf den sozialen Frieden darf Messlatte sein, sondern die Ermutigung der Mutlosen, die Eskalation der sozialen Konflikte zu einer dauerhaften Lösung im Sinne der Schwächeren. Eine linke Realpolitik muss also zu allererst parteiisch sein und dies muss sich in der organisatorischen Verfasstheit der Partei niederschlagen: Statt einer Repräsentationspartei und einer von den Medien und den Vorsitzenden dirigierten Wahlkampfmaschine, sind dauerhaft aktive Mitgliederstrukturen in den allen gesellschaftlichen Bereichen erforderlich.
In diesem Sinne ist die LINKE heute leider eher auf einem Kurs ins Irreale, ins parlamentarische Wunschdenken, denn in Richtung realer Klassenpolitik. Damit dies wenigstens tröstlich endet, widmen wir zum Schluss dieses Textes all den Rrrrrrrealpolitikern der fünften Partei im Reichstag, die in den Wartezimmern der herrschenden Klasse ausharren das kleine Gedicht von Ernst Jandl:

fünfter sein
tür auf
einer raus
einer rein
vierter sein
tür auf
einer raus
einer rein
dritter sein
tür auf
einer raus
einer rein
zweiter sein
tür auf
einer raus
einer rein
nächster sein
tür auf
einer raus
selber rein
tag herr doktor

Zum Autor:

Thies Gleiss, lebt in Köln und ist Mitglied im Bundesvorstand der Partei DIE LINKE, Erstunterzeichner des Aufrufs für eine "Antikapitalistische Linke" und Unterstützer der "internationalen sozialistischen linken" (isl).

Einen Raum zu schaffen, indem wir alle atmen können

Beitrag von Katharina Köpping, geschrieben am 25.09.2008
Katharina Köpping

Es ist schon erstaunlich wie unterschiedlich LeserInnen belletristische Werke interpretieren. Die Erkenntnis kann in vollständige Irritation umschlagen, wenn man nach dem eigenen Lesen die Kritiken der etablierten Zeitschriften liest. So ging es mir jedenfalls mit Pierangelo Masets Roman „Laura oder die Tücken der Kunst“ (Berlin 2007, Kookbooks).

Also um es kurz zu machen, ich geriet so sehr in den Strudel der geschilderten Ereignisse, dass ich einem regelrechten Lesesog unterlag. Zunächst einmal ermöglicht durch die einfache, mitunter fast programmatisch wirkende Sprache. Zudem ließ sich Maset glücklicherweise an keiner Stelle zu irgendwelchen hochtrabenden philosophischen Konstrukten oder lyrischen Weltschmerzergüssen hinreißen. Von daher also beste Voraussetzungen, um sich auf die aus exzentrischen Facetten fragmentarisch zusammengesetzte Welt der Ich-Erzählerin Laura auch einzulassen. Aber bitte, an die klassisch orientierten BildungsbürgerInnen: Keine übermäßige Erwartungshaltung an das als Roman bezeichnete Werk. Der Gattungsbegriff passt irgendwie nicht und keineswegs wird das Innenleben der Figuren psychologischer bzw. emotional entworfen. Für mich agieren diese eher scherenschnittartig auf einer Theaterbühne oder innerhalb eines bizarr ausgeleuchteten gesellschaftlichen Rahmens, der sich hier exemplarisch auf den aktuellen Kunstmarkt bezieht. Ein Bereich, der Pierangelo Maset offensichtlich gut bekannt ist und trotzdem genug Freiraum bietet, um die konstruierten Handlungsfäden – teilweise überhöht, mitunter durchaus realistisch – zu spinnen. In dieser Kunstwelt lebt Laura, eine gebildete, hübsche, sinnlich veranlagte, ziellos in dem Berlin der neunziger Jahre wandelnde junge Frau. Die von ihr vielleicht eher ahnungsvoll gefühlte Leere wird dann auch schnell von der geheimnisvollen Kunstmaklerin Ruth besetzt, die Laura als zahlende Auftraggeberin für nachträgliche Veränderungen an vollendeten Kunstwerken engagiert. Im Verlauf der geschäftlichen Zusammenarbeit und der privaten Begegnungen nimmt Ruth zunehmend die Rolle der Femme fatale ein, die abenteuerlustige Laura entwickelt sich mit stilvoller Leichtigkeit zur „Kunstterroristin“. Dabei fällt Lauras erste Wahl auf Picassos Plastik „La Vénus du Gaz“, wobei ihre innere Stimme feministisch argumentiert. Was plausibel erscheint, denn die Vorstellung, dass die von Picasso einst abgelegten Musen in Gestalt einer anderen Frau irgendwann auch einmal zurückschlagen könnten, ist doch so abwegig nicht. (Laura: „ Mich ärgerten solche Männer, die so einseitig an der Lebensform Frau interessiert waren, dass nur Mutter, Muse oder Nutte übrig blieben.“)

Soviel zum Inhalt, darüber hinaus wurde mir klar beim zweiten Lesen, dass Maset offensichtlich Spaß daran hat, andere Werke zu zitieren oder aber bei der Benennung von Gegenständen, Orten und Personen reale Dinge zu beschreiben. Es ist scheinbar nichts frei erfunden. Und dann muss m.E. ein Name einfach Beachtung finden: Pierre Klossowski (1905 - 2001). Laura liest „Die Gesetze der Gastfreundschaft“ von Klossowski und bezeichnet dieses Buch als die Eintrittskarte in Ruths Umfeld. Pierre Klossowski – der Bruder des bekannteren Malers Balthus (Balthasar Klossowski de Rola) – Autor, Philosoph und bildender Künstler, ist v.a. als bildender Künstler in Berlin einem kleineren Kreis bekannt. Hier gilt er als Meister der Inszenierungskunst des erotischen Raffinements. In seinen Werken setzt er sich mit den “ethischen Konsequenzen der geschlechtermetaphysischen Psychologie in heterosexuellen Beziehungen“ auseinander – wie auch immer. Die beschriebene Begegnung zwischen Laura, Monica und Bob in der Szene in Riehmers Hofgarten ist für mich stark von Klossowskis Zeichnung „Diana und Acteon“ (1954) inspiriert, in der ein bereits zum Hirsch gewordener Acteon – die zwischen Abwehr und Begehren schwebende – nackte Göttin von hinten umfängt. In dieser und in anderen Begegnungen nimmt die LeserIn an Lauras Liebesleben teil bzw. darf sich einige erotische Situationen ausmalen. Alles scheint miteinander verwoben, wobei die Situationen mit wechselnden Partnern schemenhaft umrissen werden.

Darüber hinaus finden sich weitere Zitate. Ein Satz genügt Masset, um „William Wilson” als Metapher für “das fremde Selbst” einzubeziehen und damit auf den möglichen Widerspruch zwischen tatsächlichem Handeln und Gewissen anzuspielen. Alles in allem ist die beschriebene Gesellschaft nicht unbedingt nett. Es wird skrupellos gelebt, abseits gestorben und zwischenzeitlich gegessen, getrunken, inhaliert sowie gekotzt – Körperflüssigkeiten entwickeln ein Eigenleben. Meist ergreift es Laura, doch sie bleibt jung und dynamisch, der ferne Freund Bob stirbt, Ruth altert. Die Ereignisse vom 11. September 2001 verändern die Welt. Der (Kunst-) Markt bricht ein, alles wird nüchterner. Vielleicht als Strafe für die gelebte gesellschaftliche Hybris oder ist die unschuldige Zeit der Kindheit einfach nur vorbei? In einer Passage klingt die gerne verdrängte Mitschuld der deutschen Bevölkerung an der Deportation der jüdischen MitbürgerInnen im Dritten Reich an: zwei Arbeitslose, welche die vorbeifahrenden Autos zählen, entdecken das Denkmal an der Moabiter Putlitzbrücke.

Und überhaupt, es sind die Randfiguren, die nicht angepassten AußenseiterInnen und die im Strudel des Marktes sich selbst vermarktenden KünstlerInnen bzw. die Leute mit der ewig leeren Geldbörse, die in ihrem schrägen Dasein sympathisch bleiben. Irgendwann am Anfang sagt Laura zu Ruth: „…es geht darum einen Raum zu schaffen, indem wir alle atmen können“. Dieser Raum entsteht nicht, aber alle finden Platz und manche leben weiter. Das Buch ist jung, zeitgemäß und lesenswert für ambitionierte ÜberlebenskünstlerInnen.

Zur Autorin:

Katharina Köpping studierte Archivwissenschaften und Kunstgeschichte/Archäologie an der Humboldt Universität zu Berlin. Sie arbeitet seit 2006 als Archivarin bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung; als freie Autorin publizierte sie Aufsätze und Texte zur deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts und zu zeitgenössischen bildenden KünstlerInnen.
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