Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog

Crossover

Beitrag von Norbert Schepers, geschrieben am 13.05.2010

Auch in der siebten Ausgabe vom "prager frühling" Magazins wird es wieder spannend:

„Crossover“ ist der Versuch, eine Diskussion über politische Kooperation von sozialistischen, grünen und sozialdemokratischen Positionen in Gang zu setzen, deren Ergebnis hegemoniefähige progressive Reformprojekte werden sollen. So nahe liegend dies angesichts des Niedergangs der neoliberalen Ära ist, so blockiert ist diese Perspektive dennoch. Es fehlt an halbwegs kohärenten theoretischen und praktischen Ansätzen, an Erfahrungen über Chancen und Grenzen solcher Kooperationen, an Vertrauen der Akteure zueinander, an Kenntnis der eigenen Stärke als auch Schwäche.
Nicht zuletzt fehlt der Charme des Neuen, des nach vorn Gerichteten. Ganz besonders nerven deshalb diejenigen, die erst gar nicht drüber reden wollen, wie eine rot-rot-grüne Kooperation aussehen könnte. Gleichzeitig treibt das scheele Schielen auf das blockierte Naheliegende Sumpfblüten: rosa-rot-grüne Funktionäre treffen sich und „loten aus“ – ja, was eigentlich? Der Hinterzimmer-Crossover gleicht zuweilen dem Grabschfieber in einem Kleinstadt-Anbaggerschuppen.
Rot-Rot-Grün: Wir wollen wissen, was da geht – und was nicht. Und wie es geht – und wie nicht.

Flotter Dreier!
Mit links GegenMacht regieren
Regieren wollen Martin Sonneborn, Andrea Ypsilanti, Doris Achelwilm, Klaus Dörre, Anne Knauf, Sonja Buckel, Robert Zion, Benjamin Hoff, Peter Siller und Kai Burmeister.

Oder tote Hose?
Europäisches Sozialforum am Wendepunkt
Ausblicke auf Istanbul geben Silke Veth, Julia Strutz und Juliane Nagel.

Ab 15. Juni in Deinem Briefkasten, wenn Du es willst: Jetzt abonnieren oder bestellen!

Kapitalismus dot com

Beitrag von Norbert Schepers, geschrieben am 13.05.2010
Kapitalismus dot com

Tagung in Berlin, 29. Mai 2010, 10 Uhr bis 17:30 Uhr
Haus der Demokratie und Menschenrechte,
Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin

Die Entwicklung von Technologien ist wesentlicher Bestandteil kapitalistischer Reproduktion. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird die kapitalistische Dynamik durch digitale Informations- und Kommunikationstechnologien geprägt. Von der "Wissens- und Informationsgesellschaft" ist die Rede, von der "Digitalen Revolution", dem "Information Super Highway" oder dem "Cyberspace". Die neuen Technologien durchdringen alle Sphären bürgerlicher Gesellschaft wie Kapital, Eigentum, Arbeit, Staat, Recht und Öffentlichkeit. Diese waren zwar in der Geschichte der Linken immer wieder Gegenstand politischer Kritik und Praxis, vor dem Hintergrund der "digitalisierten" gesellschaftlichen Realität stellt sich jedoch die Frage einer angemessenen Situationsanalyse und Ausrichtung emanzipativer Politik neu. Entsprechend sollen auf der Tagung folgende Fragen diskutiert werden: Wie funktioniert Ausbeutung und Herrschaft im "digitalisierten" Kapitalismus? Welche gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, Kräfteverhältnisse und Widerstandspotentiale entstehen? Welche Debatten werden darum geführt und wie könnte linke Intervention aussehen?

Kapitalismus dot com: Die globale Wissensökonomie • Konflikte um Arbeit und Eigentum im "digitalen" Kapitalismus • Regieren und Regiert werden 2.0 • Linke Intervention und Digitalisierung.
Mit Ursula Huws, Constanze Kurz, Susanne Lang, Andrea Baukrowitz, Nadine Müller, Stefan Meretz, Sabine Nuss, Christoph Engemann, Boris Traue, Albrecht Maurer, Lars Bretthauer, Tobias Schulze, Katharina Weise, Norbert Schepers.

Programm und weitere Informationen sowie Anmeldung bei den VeranstalterInnen der Tagung:
Rosa-Luxemburg-Stiftung und »Helle Panke« e.V. - Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin.

Massenproteste mit Todesopfern

Beitrag von Redaktion und Haris Triandafilidou, geschrieben am 05.05.2010

Heute hat in Griechenland ein Generalstreik mit hundertausenden DemonstrantInnen stattgefunden. prager frühling veröffentlicht einen Bericht über die Hintergründe. Die Autorin Haris Triandafilidou ist gegenwärtig in Athen und engagiert sich in der griechischen Linken. Doch lest selbst:

Mit dem Tod dreier Menschen bei einem vermutlich von protestierenden aus Reihen des Black Blocks ausgelösten Feuer, nahm die verzweifelte Wut über die harte Sparmaßnahmen der griechischen Regierung, bisher unbekannte Ausmaße an. Zuvor hatte Athen beim gestrigen Generalstreik mit 200.000 Teilnehmern die größte Demonstration seit über fünfunddreißig Jahren erlebt. Trotz sommerlicher Temperaturen um die dreißig Grad erinnerte das Klima bereits am Morgen stark an den Dezember 2008, als der Tod einer Jugendlichen durch Hand eines Polizisten wochenlange, zum Teil gewaltsame Proteste ausgelöst hatte.
Vor dem Parlament ging die Polizei mit Tränengas und Schlagstöcken gegen die gestern dort versammelten Gewerkschafter vor, welche das Wort an den abwesenden Ministerpräsidenten richteten und immer wieder „Du hast uns verraten! Nie wieder werden wir dich Wählen“ riefen, bevor sie versuchten, in das Parlamentsgebäude einzudringen.
Die Luft für die Regierung von Ministerpräsident Papandreou wird zunehmend dünner. Deren Bemühungen, die Griechen davon zu überzeugen, dass es keine Alternativen zu den von ihr propagierten antisozialen Maßnahmen gibt, sind wenig erfolgreich.
Bereits am Montag hatten Lehrergewerkschaften und verschiedene Initiativen der vielen stundenweise im öffentlichen Schulwesen beschäftigten Lehrer Büros des Bildungsministeriums in Thessaloniki besetzt. Am Abend drangen einige von ihnen in während der Hauptnachrichtensendung des Staatsfernsehens ein und forderten die Regierung auf, endlich eine Politik zu verfolgen, die an den Bedürfnissen ihrer Bevölkerung statt an den Interessen des IWF und der internationalen Märkte orientiert ist.
Wie in keinem anderen Wahlkampf zuvor standen die wirtschaftlichen Probleme des Landes und das große Finanzdefizit des Landes bei den Parlamentswahlen im vergangenen Herbst im Zentrum der politischen Auseinandersetzung. Der überwältigende Wahlsieg der sozialdemokratischen PASOK war dabei vor allem Resultat eines Programmes, das durch die Umverteilung von Reichtum, sozialstaatliche und arbeitsrechtliche Absicherung sowie die lange überfällige Sanierung des Bildungs- und Gesundheitswesens versprach. Statt diese Versprechen in die Tat umzusetzen, stellte die PASOK Regierung, am vergangenen Sonntag nun das dritte neoliberale Maßnahmenpaket in weniger als drei Monaten vor. Dieses sieht die erneute Erhöhung der Mehrwertsteuer auf nun 23%, die Kürzung eines weiteren Monatsgehalts für die im Angestellten des Öffentlichen Dienstes sowie die Erhöhung der gesetzlich zulässigen Entlassungen von 2% der in einem Betrieb Angesellten pro Monat auf 4% vor. Darüber hinaus wird die Höhe der bei Kündigungen fälligen Abfindung für die Beschäftigten aller Bereiche dem bisher geltenden Minimum angepasst und das Tarifrecht durch ein Bündel von Regelungen praktisch abgeschafft. Vor allem junge Arbeitnehmer trifft das neue Maßnahmenpaket der Regierung hart. Der Lohn für Berufseinsteiger wird nach dessen Vorgaben nicht mehr als 560 Euro betragen und das unversichert.
Welches Ausmaß die Proteste in den kommenden Tagen und Wochen annehmen werden ist im Augenblick schwer absehbar. Ebenso wie die politischen Konsequenzen, die auf diese folgen werden. Eine Bevölkerung, die zu zwanzig Prozent unterhalb der Armutsgrenze lebt, die schon vor Erhöhung der Mehrwertsteuer mit niedrigen Einkommen und einer Teuerungsrate zu kämpfen hatte, die deutlich über EU Durchschnitt lag dürfte jedoch wenig Bereitschaft zu Kompromisse zeigen, die ihnen noch weitere Opfer abverlangen.


Geschichte – Modelle – Debatten

Beitrag von Norbert Schepers, geschrieben am 03.05.2010
Grundeinkommen, RLS-Texte 67

Anfang Mai 2010 erscheint beim Karl Dietz Verlag Berlin:
Grundeinkommen. Geschichte – Modelle – Debatten
von Ronald Blaschke, Adeline Otto, Norbert Schepers (Hrsg.)

Die Idee des Grundeinkommens hat eine lange Geschichte hinter sich gebracht und eine spannende Geschichte vor sich. In Deutschland, in Europa und im globalen Kontext nimmt die Debatte um das Grundeinkommen an Fahrt auf – auch vorangetrieben von Linken. Dieses Handbuch nähert sich auf unterschiedliche Art und Weise dem Thema Grundeinkommen – auf einer eher prinzipiellen und grundsätzlichen und auf einer eher konkrete Ansätze und Modelle diskutierenden Ebene.

Neben einer umfassenden historischen und ideengeschichtlichen Darstellung werden die verschiedenen aktuellen Modelle steuerfinanzierter Sozialtransfers vergleichend dargestellt. Des weiteren werden linke Ansprüche an ein Grundeinkommen
entwickelt und Beiträge aus der europäischen Debatte dokumentiert.
Mit einem Essay zum Thema Demokratie und Grundeinkommen ist auch "prager frühling" Redakteurin Katja Kipping vertreten.

Ronald Blaschke, Adeline Otto, Norbert Schepers (Hrsg.)
Grundeinkommen. Geschichte – Modelle – Debatten
Karl Dietz Verlag Berlin 2010
(Reihe Texte der Rosa-Luxemburg-Stiftung Nr. 67)
ISBN 978-3-320-02223-5, 422 Seiten, Broschur
Ab etwa 05. Mai 2010 im Buchhandel.

Weitere Information (Werbeflyer zum Buch, Umschlag und Titelbild, sowie die Einleitung nebst ausführlichem Inhaltsverzeichnis) finden sich hier bei mindestsinn.de.

Die Anti-Atom-Bewegung bittet zur Menschenkette

Beitrag von Norbert Schepers, geschrieben am 22.04.2010
Logo KETTENreAKTION

Die Anti-Atom-Bewegung erfährt spätestens seit den letzten zwei Jahren eine deutliche Revitalisierung. Zentrale Mobilisierungen sind v.a. der Protest gegen Atommülltransporte („Castoren“) und gegen Verlängerungen der Laufzeiten für Atomkraftwerke. Letztere Auseinandersetzung steht für Versuche, die Atomkraft wieder als Zukunftsoption für die Energieversorgung politisch zu setzen.
Nach dem Atomkompromiss der Rot-Grünen Bundesregierung kam es teilweise zum Bruch der Anti-Atom-Bewegung mit den beiden Parteien, da dieser Kompromiss in recht weiten Teilen der Bewegung nicht mitgetragen wurde. Die darauf folgende Bewegungsflaute von Anfang des Jahrzehnts ist inzwischen jedoch überwunden. Dies betrifft auch die klassischen Bewegungsstrukturen, die seit mehreren Jahrzehnten das Rückrat dieser immer wieder neu auflebenden Bewegung bilden, nicht zuletzt z.B. der Widerstand im Wendland gegen die Atommülllagerung. Letzte Highlights der Bewegung waren 2008 die Aktionen und Proteste gegen den Castor, sowie eine besonders gut besuchte Demonstration vor der Bundestagswahl 2009.

Die Vorbereitung der Menschenkette zwischen Brunsbüttel und Krümmel am 24. April 2010 (vor dem Tschernobyl-Gedenktag) zeigt wahrscheinlich die Rückkehr des gesellschaftlichen Bündnisses, welches jahrelang die Anti-Atom-Bewegung trug: Hier sind zum ersten Mal bei einer Anti-Atom-Großaktion mit der SPD wieder alle Rot-Grün-Roten-Parteien – neben BewegungsaktivistInnen, Gewerkschaften, Kirchen – im Trägerkreis der „KETTENreAKTION“ vertreten. Dies war seit der Rot-Grünen Regierung nicht mehr der Fall, Rot-Grüne Akteure mussten sich im letzten Jahrzehnt als Folge des Regierungsprojektes mit spürbaren Vertrauensverlusten von Seiten der BewegungaktivistInnen auseinandersetzen und hatten sich teilweise auch aus Bewegungsstrukturen zurück gezogen. (Der vorläufige Tiefpunkt dieses Verhältnisses ist wohl mit den G8-Protesten 2008 in Heiligendamm markiert.)

Zu dieser Protestaktion kommen wieder Spektren zusammen, die politisch zusammen gehören: Der Widerstand gegen die Nutzung der Atomenergie ist offensichtlich ein Essential eines jeden übergreifenden linksalternativen gesellschaftlichen Bündnisses. Wie weit das aktuelle Bündnis trägt, mag sich schon bald beweisen: Die nächsten Castoren kommen im Herbst 2010...

KETTENreAKTION, Großaktion wegen der durch die Bundesregierung beabsichtigten Laufzeitverkürzungen: Am 24. April 2010 sollen Zigtausende mit einer eine Menschenkette zwischen Brunsbüttel und Krümmel auf ca. 120 Kilometern ein starkes Zeichen für das Ende der Atomenergie und eine zukunftsfähige, ökologische Energiewende setzen.
Siehe www.anti-atom-kette.de

Erweiterte historische Traditonsbildung als Identitätsstütze?

Beitrag von Bernd Hüttner, geschrieben am 07.04.2010
Bernd Hüttner, RLS

Klaus Kinner (Hrsg.): DIE LINKE – Erbe und Tradition. Teil 1: Kommunistische und sozialdemokratische Wurzeln, Bd. XI der Reihe , 320 S.; Teil 2: Wurzeln des Linkssozialismus, Bd. XII der Reihe, 320 S., je 24,90 EUR, Karl Dietz Verlag, Berlin 2010. Band 3 ist in Vorbereitung.

Die voluminöse Neuerscheinung in der sogenannten „Roten Reihe“ zur „Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus“ zeigt die Probleme der Geschichtsarbeit im Umfeld der LINKEN, vor allem in den neuen Bundesländern, eindringlich.

Der Zweibänder enthält 26 Beiträge von 24 AutorInnen, die ein weites Feld aufmachen. Der behandelte Zeitraum reicht von 1848 bis zur Gegenwart, die vorgestellten Personen vom zeitweiligen KPD-Vorsitzenden Paul Levi über den im Umfeld des Institut für Sozialforschung wirkenden Arkadij Gurland bis zum 2008 verstorbenen und langjährigen SPD-Politiker Peter von Oertzen. Thematisch kreisen die Aufsätze um den Gegensatz oder die Vereinbarkeit von Demokratie und (sozialistischer) Organisation. Sie bringen in weiten Teilen der Linken verschüttete Traditionen, vor allem des mit Namen wie Abendroth, Kofler oder Agartz verbundenen Linkssozialismus, wieder in die Debatte. Durch die in erster Linie ereignis- und organisationsgeschichtliche Herangehensweise verbleibt der Großteil der AutorInnen in klassischen Bahnen: Die ideelle Gesamtenzyklopädie der (Theoriegeschichte der) Arbeiterbewegung wird um einige Aspekte erweitert.

So ist dieser Band seltsam widersprüchlich. Im Verhältnis zum kanonisierte Geschichtsbild der SED und den mangelhaften Geschichtskenntnissen innerhalb der LINKEN ist er sicher eine Bereicherung und sehr nützlich. Im Vergleich zur zeitgenössischen Geschichtsschreibung der ArbeiterInnenbewegung und anderer sozialer Bewegungen, die es ja sehr wohl gibt, wirkt er etwas antiquiert. Man muss ja nicht gleich vom Theorem der Negri´schen Multitude ausgehen, aber von einer Kenntnis der Debatten etwa um global labour history , wie sie nicht nur im Rahmen der Internationalen Tagung der HistorikerInnen der Arbeiterbewegung (ITH) geführt werden, ist hier nichts zu spüren. Askekte der transnationalen Kommunikation, der Überwindung der Vorstellung eines Nationalstaat orientierten Handlungsraums der Arbeiterbewegung, die Kenntnis, dass es in der Geschichte eine Vielzahl von handelnden Subjekten jenseits des weißen, heterosexuellen und sesshaften Mannes gegeben hat, samt allen daraus resultierenden Widersprüchen für linke Praxis, ist hier schwach ausgeprägt.

„Geschichte“ wird immer noch vorrangig als Identitätsstütze gesehen, weniger als Anlass zur Verunsicherung. Das, was Themen, Sichtweisen und Autoren angeht, vorrangige Agieren in den eigenen Kreisen ist für andere wenig attraktiv. Unter den AutorInnen des Zweibänders sind drei Frauen, ebenfalls drei sind unter 45 Jahre alt. Selbst wenn man berechtigterweise nicht jede postmoderne Mode in den Geschichtswissenschaften mitmachen will, sollte man sich schon mit Mentalitätengeschichte, der global labour history oder allgemein den vom cultural turn angestoßenen Fragen widmen.

Nicht zuletzt bleibt zu fragen, was eigentlich zu tun wäre, wenn man die im Band aufgeworfenen Kritiken und Fragen, etwa zur innerparteilichen Demokratie, auf DIE LINKE anwenden würde. Der Band zeigt, wo die Geschichtsarbeit im Umfeld der LINKEN steht, dass sie sich noch weiter entwickeln muss und dass ein Verharren in der viel zitierten „zweiten Geschichtskultur“ für die linke Bildungsarbeit angesichts einer bundesweit agierenden 10-Prozentpartei bei weitem nicht ausreicht.

Zum Autor:

Bernd Hüttner, Jahrgang 1966, Politikwissenschaftler, arbeitet als Regionalmitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Bremen. Koordinator des bundesweiten Gesprächskreises Geschichte der RLS und Mitglied der Historischen Kommission der Partei DIE LINKE.
Weiteres siehe hier auf der Website der Bremer Landesstiftung der RLS.

Herzlichen Glückwunsch, Helmut!

Beitrag von Thomas Lohmeier, geschrieben am 02.04.2010

Nun bist Du 80 Jahre, lieber Helmut. Deine erste Wahl zum Bundeskanzler (niemand kann dieses Wort so lustig aussprechen wie Du!) war die erste politische Fernsehsendung, die ich mir bewusst ansah. Am 1.10.1982 war ich krank und musste nicht zur Schule. Damals gab es nur drei Fernsehprogramme und vormittags um 10 Uhr wurde eigentlich noch Testbild ausgestrahlt - es sei denn, im Bundestag geschah etwas wirklich Wichtiges. Das mit dem Fernsehprogramm hast Du dann schnell geändert und so erfreute ich mich während meiner Pubertät an Tutti-Frutti und anderen Highlights der privaten Fernsehsender.

Anfangs fand ich Dich toll, weil mein Vater sicher war, dass nun der wirtschaftliche Aufschwung käme und die Arbeitslosigkeit verschwinde. So kam es natürlich nicht. Während meiner Pubertät emanzipierte ich mich auch noch von meinem katholisch-konservativen Elternhaus; mein Blick auf Dich wurde immer kritischer.

Aber trotzdem bliebst Du ein Bollwerk, wie ich heute weiß. Obwohl Du mit Graf Lambsdoff regiertest, steuertest Du Dein Land nicht so neoliberal um, wie Reagan oder Thatcher es taten. Dabei warst du gar kein katholischer Sozialromantiker oder Herz-Jesu-Sozialist. Dein Antikommunismus war ein Antitotalitarismus, denn Du wusstest du um den Zusammenhang von sozialer Sicherung, fairen Löhnen und einer stabilen demokratischen Ordnung. Und so blieb während Deiner Regentschaft der Spitzensteuersatz der Einkommenssteuer bei über 50%, die Mehrwertsteuer erhöhtest Du nur moderat und "Die-Renten-sind-Sicher"-Blüm blieb bis zum Schluss Dein Sozialminister.

Auch wenn ich Dir heute zum Geburtstag gratuliere, darf ein kritisches Wort nicht fehlen: Du hast 1985 in Bitburg Waffen-SS-Schergen in eine versöhnliche Geste einbezogen, das war einfach ekelhaft. Du hast die Gewerkschaften mit der Änderung des §116 Arbeitsförderungsgesetztes 1986 nachhaltig geschwächt, was heute zu miserablen Löhnen führt. Du hast das Asylrecht faktisch abgeschafft. Und Du hast die Kosten der deutschen Einheit über die Sozialversicherungssysteme vor allen den abhängig Beschäftigten aufgedrückt.

Dennoch war in einem Punkt immer auf Dich Verlass: Du kanntest die besondere Rolle Deutschlands, warst oft besonnen gegenüber den europäischen Nachbarstaaten - auch wenn du mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze unnötig lange gezögert hast. Diese historische Weitsicht ist leider zusammen mit Dir aus dem Kanzleramt verschwunden. Vor allem Dein großkotziger Nachfolger kannte keine Zurückhaltung. Gewählt habe ich ihn selbstverständlich nicht, schließlich - und da bin ich ganz bei Dir - würden wir beide niemals Sozialdemokraten wählen!

Lieber Helmut, trotz der genannten Kritikpunkte vermisse ich Dich doch ein wenig. Über viele Jahre gab es nur Dich als Bundeskanzler. Als du weg warst, wurde der Sozialstaat von Deinem sozialdemokratischen Nachfolger eingerissen, Deutschland führte Krieg in der Welt und in der europäischen Union wurden mit Arroganz deutsche Interessen vertreten. Dir wurde oft - auch von linken Kritikern - nachgesagt, du seist einfalls- und ziellos. Das stimmt nun wirklich nicht. Du wusstest, wie wichtig die europäische Integration war, sie war Dein zentrales Anliegen (die Deutsche Einheit war ja nur ein Geschenk der "Gechichte" an Dich). Im Kontext der Einführung des Euros nanntest Du die europäische Vereinigung einmal eine Frage von "Krieg und Frieden". Ich will dir hier ausdrücklich zustimmen. Trotzdem finde ich, Du hättest Dich stärker für eine europäische Sozialpolitik einsetzen sollen, um die Akzeptanz der EU in Europa zu sichern. Als Historiker wusstest Du doch um den Zusammenhang zwischen einer stabilen sozialen Ordnung und Akzeptanz der politischen Ordnung. In der nationalen Politik hattest du darauf ja noch Rücksicht genommen.

Gewählt habe ich Dich übrigens nie, das hast Du bestimmt auch nicht erwartet. Aber heute würde ich es mir glatt noch einmal überlegen, wenn Du nochmals gegen die Schröders, Steinmeiers, Stoibers oder Merkels antreten würdest, die mir seit Deiner Abwahl zur Auswahl angeboten wurden. In diesem Sinne: Von Herzen alles Gute, Helmut!

Erste Überlegungen zum vorliegenden Programmentwurf

Beitrag von Katja Kipping, geschrieben am 01.04.2010
Katja Kipping

Der von der Programmkommission vorgelegte Programmentwurf enthält viele zu begrüßende Aspekte, z.B. das klare Bekenntnis zu Selbstbestimmung, die strategische Ausrichtung auf die Verbindung von parlamentarischer mit außerparlamentarischer Arbeit und die eindeutige friedenspolitische Ausrichtung. Aus sozialpolitischer Sicht jedoch muss dieser Entwurf dringend verbessert werden.
Zu den kritikwürdigen Punkten gehört u.a.:

Idee sozialer Grundrechte komplett unterbelichtet

Die Idee des demokratischen Sozialstaats, also die Begründung sozialer Rechte durch die Idee der Teilhabe aller an der Demokratie, ist im Entwurf komplett unterbelichtet. (Daran ändert auch der Umstand nicht, dass der demokratische Sozialstaat einmal in einer Aufzählung erwähnt wird, da es keine ausführliche Begründung dazu gibt.)
Vor dem Hintergrund des aktuellen Bundesverfassungsgerichtsurteils zu den Hartz-IV-Regelsätzen ist das besonders blamabel für uns. Selbst das Bundesverfassungsgericht hat deutlich unterstrichen, es gibt ein Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Das ergibt sich aus dem Sozialstaatsgebot. Und dieses Existenzminimum erfasst nicht nur das physische Überleben, sondern auch ein Mindestmaß an kultureller und politischer Teilhabe. Das erzählen inzwischen selbst CSU-Politiker. Aber in unserem Programmentwurf ist dieser Aspekt unterbelichtet.

Schutz vor Altersarmut nur für Erwerbstätige

Im Programm heißt es: „DIE LINKE kämpft für eine armutsfeste gesetzliche Rente für alle Erwerbstätigen“ (S. 6) sowie „Um Altersarmut zu verhindern, wollen wir eine erhöhte bedarfsgerechte Grundsicherung im Alter.“ (S. 27) Das heißt im Klartext: Für Nicht-Erwerbstätige gibt es keine armutsfeste gesetzliche Rente, sondern nur eine Lösung im Rahmen der Grundsicherung im Alter. Diese Formulierungen zementieren im Alter das Zwei-Klassen-System: AlGruSi für die einen, Rente für die anderen.
Hier war der Parteivorstand schon einmal weiter in seiner Beschlussfassung. So fasste er auf seiner Klausurtagung im Sommer 2008 folgenden Kompromisstext zur Verhinderung von Altersarmut:
„Zukünftig soll dies [Schutz vor Altersarmut] innerhalb der Erwerbstätigenversicherung abgesichert werden. Das Ziel ist, dass nach Anrechnung von Einkommen und Vermögen keine Rentnerin und kein Rentner im Monat unter 800 Euro fallen dürfen.“
Der PV verständigte sich damals ganz bewusst darauf, dass der Schutz vor Altersarmut diskriminierungsfrei in einem System erfolgen soll. Und auch im Bundestagswahlprogramm heißt es: „Keiner soll im Alter unter 800 Euro fallen.“

Begrenzter Zumutbarkeitsbegriff

Zitat aus Entwurf: „Wir fordern ein Ende des Zwangs, untertariflich bezahlte oder der eigenen Qualifikation nicht angemessene Arbeit anzunehmen.“
Hier geht es also um Zumutbarkeitskriterien. Schon zu Beginn der 16. Wahlperiode hatte die Fraktion sich einvernehmlich darauf verständigt, die Zumutbarkeitskriterien zu ergänzen. Es geht eben nicht nur um Qualifikation und Entlohnung, sondern es geht auch um zumutbare Fahrtwege und die Gewissenfreiheit (also der Frage nach dem Inhalt der Erwerbsarbeit). Wortwörtlich hieß es im Fraktionsbeschluss im Jahr 2006:
„Niemand soll zur Ausübung einer Beschäftigung gezwungen werden, die für ihn kein Existenz sicherndes Einkommen schafft, die berufliche Qualifikation nicht in Wert stellt, die zu hohe Ansprüche an die Flexibilität und die Fahrtzeiten bedeuten würde oder die gegen die politische und religiöse Gewissensfreiheit verstoßen würde. Die Bereitschaft zur Ausübung solcher Tätigkeiten darf nicht die Voraussetzung der Gewährung einer Grundsicherung sein. Dies gilt auch für arbeitsmarktpolitische Fördermaßnahmen, deren Teilnahme freiwillig sein muss. Die Ablehnung von Ein-Euro-Jobs darf keine Sanktionen nach sich ziehen.“

Sanktionsfreiheit nicht ausreichend gewürdigt

DIE LINKE hat sich auf die Abschaffung der Sanktionen im Bereich Hartz IV verständigt. Das heißt: Die Mindestsicherung ist unter keinen Umständen zu kürzen und die Sanktionsparagraphen im SGB II sind umgehend zu streichen. So steht es auch in unserem Bundestagswahlprogramm. Zwar wird im Programm die sanktionsfreie Mindestsicherung erwähnt, allerdings macht man sich nicht recht die Mühe, diese zentrale Forderung entsprechend zu würdigen und zu begründen.
Mein Vorschlag lautet, die ab Seite 40 aufgeführten Mindestbedingungen für Regierungsbeteiligungen mindestens um die Abschaffung der Sanktionen im Bereich Hartz IV zu ergänzen.

Gute Arbeit auf gut bezahlte Erwerbsarbeit begrenzt / 4in1-Perspektive eine Leerstelle

Im Programmentwurf ist viel von „Guter Arbeit“ die Rede. Leider wird darunter ausschließlich gut bezahlte Erwerbsarbeit behandelt. Fragen nach dem Inhalt von Arbeit, Fragen nach dem entfremdeten Charakter von Erwerbsarbeit im Kapitalismus, die Tatsache, dass gute Arbeit niemals erzwungene Arbeit sein kann, all dies sind Leerstellen im Programm.
Die Erkenntnis, dass es vier gleichberechtigte Arbeitsbereiche gibt, die eine Arbeitswoche zu vier gleichen Teilen prägen, also ein Viertel Erwerbsarbeit, ein Viertel Fürsorge- und Reproduktionsarbeit, ein Viertel politische Einmischung und ein Viertel Arbeit an sich selbst, vorstellbar als Weiterbildung und Muße, fehlt im Programm.

Mangel an diskursiver Offenheit bezüglich des Grundeinkommens

Komplett ausgeblendet wird im Programmentwurf die Debatte um ein linkes Bedingungsloses Grundeinkommen. Dies zeigt in eklatanter Weise einen Mangel an diskursiver Offenheit.
Gut ist, dass es sich bisher nur um einen ENTWURF handelt. Dieser soll nun diskutiert und verändert werden. Emanzipatorische Kräfte sind jetzt gefragt, auf entsprechende Veränderungen hinzuwirken.

Linke Programmdiskussion

Beitrag von Redaktion, geschrieben am 31.03.2010

Jeder Nebensatz ist wichtiger als tausende Bewegungen

Beitrag von Alban Werner, geschrieben am 31.03.2010

Es ist nun also soweit – seit dem 20. März liegt der Entwurf eines Grundsatzprogramms für DIE LINKE vor. Und die Tinte der ersten gedruckten Exemplare war noch kaum getrocknet, da wurde die Debatte um eben jenes Programm Schnurrstracks wieder in die Bahnen gelenkt, die aus altbekannten Auseinandersetzungen schon bekannt sind. Wenn die Diskussion sich so weiter entwickelt, wie sie angefangen hat, so meine Befürchtungen, wird die Chance vertan, eine linke Programmdebatte stärker ergebnis- und vor allem erkenntnisoffen als bisher zu führen als bislang, so dass sie auch einen wirklichen Lernprozess darstellen könnte. Lernen verstehe ich dabei allerdings so, dass es die bisweilen auch schmerzhafte Verabschiedung von bis dahin vertretenen Glaubenssätzen und Gewissheiten, und das Einlassen auf neue oder bislang verdrängte Fragestellungen einschließt. Von beidem ist bislang allerdings wenig zu spüren. Das ist schade, weil nach meiner Einschätzung die ernsthafte Einbeziehung von anderen emanzipatorischen gesellschaftlichen AkteurInnen in die Programmdebatte, aus Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und Wissenschaft (im Gegensatz zu einer rein kosmetischen Bezugnahme auf diese AkteurInnen als passende StichwortgeberInnen) jene solche Lern- und Leidensbereitschaft voraussetzt. Linke Programmdebatten haben es aber oft so an sich, dass das Leiden, dass sie hervorrufen, eher mit der unterentwickelten Debattenkultur, als mit greifbarer Weiterentwicklung von Strategien und Inhalten zu tun hat. Dem Autor geht es darum, das zu ändern – vorsätzliche Überspitzungen bitte ich mir nachzusehen.

I. Erwartungen an den Entwurf

Bei Kritiken an Programmentwürfen ist Vorsicht geboten. Wenn ein Programmentwurf der Öffentlichkeit vorgestellt wird, stellt er bereits das Ergebnis von Verhandlungen und (Formel)kompromissen dar, denen bei den Beteiligten unterschiedliche Erfahrungen, Deutungsmuster und Erwartungen zugrunde liegen. Das Ziel eines jeden Entwurfes, ein stimmiges Gesamtbild abzuliefern, steht in unauflösbarer Spannung zur gleichrangigen Intention, möglichst alle potentiellen Mitglieder, und haben sie auch unterschiedliche Orientierungen, politisch zusammenzubringen. Damit nicht am Ende alle aneinander vorbeireden, sollte man die eigenen Erwartungen und Maßstäbe, die an einen Programmentwurf gerichtet werden, möglichst deutlich offen legen.

Meine lauten so:
(1) Ein Grundsatzprogramm muss konkret genug sein, um einen Konsens aller Mitglieder für ihr gemeinsames kollektives Handeln zu ermöglichen. Es kann noch keine „Blaupause“ für den Sozialismus liefern, weil die Vorstellungen zum Gesicht des Sozialismus in der Mitgliedschaft noch weit auseinandergehen und es nicht sinnvoll ist, alle Lernprozesse der politischen Bewegung, die in das Sozialismusbild hoffentlich noch einfließen werden, vorweg nehmen zu wollen.
(2) Zwei weitere Maßstäbe, denen ich mich anschließen kann, liefert die Abschlusserklärung der diesjährigen AKL-Konferenz: „Ein Programm einer Partei […] muss der Mitgliedschaft eine gemeinsame Orientierung und Identität geben, die jedem einzelnen Mitglied in seinen täglichen Auseinandersetzungen, in Diskussionen mit NachbarInnen, KollegInnen und politischen MitstreiterInnen nützlich sind und sie im Rahmen einer die Gesellschaft verändernden Strategie weiter voran bringt. Und es muss der breiten Öffentlichkeit vermitteln, warum sich die LINKE eigenständig organisiert und sich von allen anderen Parteien unterscheidet, wobei dabei auch die Frage des ‚Wie organisieren‘ eine große, auch programmatische Rolle spielt“. (Erklärung der Antikapitalistischen Linken, siehe http://www.antikapitalistische-linke.de/article/227.abschlusserklaerung-der-konferenz-der-antikapitalistischen-linken.html)

II. Erwartungen an die Debatte

Linke Programmdebatten nehmen bisweilen für Außenstehende kuriose Züge an. Und kurios meint hier fast ausnahmslos: Abstoßend. Ich habe ernsthafte Zweifel daran, ob ausgerechnet das Satz-für-Satz Diskutieren und Abstimmen von Textpassagen als Ausweis urdemokratischer Basiskultur gelten sollte. Auf Neulinge wirkte so ein Verfahren meistens noch immer abschreckend und erbsenzählerisch – ob bei Fachschaftsvollversammlungen oder Parteikonferenzen.

Der für linke Bekenntnisbestätigung geführte Kampf um jeden Nebensatz lenkt die Aufmerksamkeit jedenfalls unterm Strich unnötig weg von den Großfragen, welche gesellschaftspolitische Alternativen (1) plausibel sind (in dem Sinne, dass die neue Gesellschaft im Schoße der alten ausgebrütet werden muss), ob sie, wenn wirklich zuende gedacht, (2) unseren Zielen wirklich dienen (besorgt die ultimative Absage an jegliche Militäreinsätze wirklich eine friedenspolitische Wende? Ist ein kollektives Sicherheitssystem ohne demokratisch legitimierte Gewaltanwendung als der allerletzten zulässigen Maßnahme wirklich haltbar, ohne doch nur die linkspazifistische Variante einer „eierlegenden Wollmilchsau“?), und (3) ob uns zu ihrer Realisierung in der Gesellschaft BündnispartnerInnen zur Verfügung stehen, deren Reichweite größer ist als die der bekannten linken Gruppierungen. Ansonsten würde nämlich der Vorwurf zutreffen, DIE LINKE kämpfe vornehmlich nach dem Motto „wir gegen den Rest der Welt“ (Stefan Liebich), und diese heroische Pose ist zwar Balsam für manches linke Gewissen, aber mittel- und langfristig handlungs- und durchsetzungsfähig wird man damit sicherlich nicht.

Wirklich absolut kein guter Stil ist es außerdem, schon am Anfang der Programmdebatte Ultimaten in die Welt zu schicken wie die AKL in ihrer Erklärung („Wir werden keinem Programm zustimmen, in dem diese Mindestpositionen nicht enthalten sind“). Auch hier handelt es sich wieder um eine Praxis, die wichtig für das Selbstverständnis als authentische „linke“ Parteiströmung sein mag, die aber in der Konsequenz nur für größeres innerparteiliches Misstrauen sorgt. Am Ende steht dann doch wieder der o.g. „Kampf um jeden Nebensatz“, bei dem man quasi mit der Wortzählung abzuschätzen versucht, wann die Abkehr vom Katalog der Glaubensbekenntnisse vollzogen ist.

Überhaupt: Sicherlich ist das Links-Rechts-Kontinuum unverzichtbar zur Selbstverortung im politischen Raum. Und eine ganze Reihe wichtiger politischer Differenzierungen auch innerhalb von Parteien lassen sich damit zuverlässig beschreiben: Die Christlich-demokratische Arbeitnehmerschaft der CDU ist mit Sicherheit „linker“ als die Mittelstandsvereinigung oder der „Arbeitskreis konservativer Christen“. Aber bei einer Partei, die das Label „links“ identitätsstiftend im Namen trägt und es wieder populär macht, nachdem lange Zeit damit wahlpolitisch kein Blumentopf zu gewinnen war, erhält die Selbstverortung als „linker Flügel“ eine andere Bedeutung. So, wie er verstanden und gehandhabt wird, bezeichnet er das Verständnis, näher am wahren „Kern“, eben an der Identität der Partei zu sein als der Flügel, dem man gegnerisch gegenübersteht. Diese Zuordnung wird dann ärgerlich, wenn schon die Identifikation eines Vorschlags als vom nicht-linken Flügel stammend ausreicht, um ihn ohne Diskussion in der Mülltonne zu versenken. Sie wird aber langfristig richtig gefährlich, wenn der Kampf innerhalb der Partei vollkommen selbstrefentiell und nur noch nach „links“ und „rechts“ codiert wird. Für viele der Fragen, die im vorliegenden Entwurf strittig sind oder eigentlich Streitfragen sein sollten, ist die Links-Rechts-Unterscheidung nämlich schlicht unbrauchbar.
Wie ist beispielsweise das Verhältnis von Nah- und Fernziel auszubalancieren? In welchen Bereichen wollen wir statt Privateigentum Genossenschaftsbetriebe, in welchem Staatsunternehmen? Wollen wir den bundesdeutschen Föderalismus so lassen, wie er ist oder gehört zum demokratischen Sozialismus eine Entflechtung politischer Kompetenzen oder generell Dezentralisierung?
Auch um solche und andere Fragen, die sich nicht so passgenau zur Profilierung als Aushängeschild wahlweise der „Linken“ oder „Realos“ eignen, sollte aber gestritten werden.
Ein sinnvoller Maßstab innerhalb der Programmdebatte könnte deswegen lauten: Wer eine Position ablehnt, sollte sie nicht nur als „falsch“ oder „nicht links“ brandmarken, sondern die Ablehnung begründen können müssen. Und eine gewisse logische Konsistenz der eigenen Position sollte auch allen denjenigen abgefordert werden können, die sich besonders lautstark an der Programmdebatte beteiligen. Darüber hinausgehend sollten diejenigen, die Positionen als falsch ablehnen zumindest begründen können, warum das der fraglichen Position zugrunde liegende Problem nicht wichtig oder falsch dargestellt ist. Wer also UN-mandatierte Auslandseinsätze der Bundeswehr rundherum ablehnt, sollte Beweise dafür anbringen können, dass in keinem Fall UN-Truppen Menschenleben hätten retten können bzw. nicht gerettet haben (nur dann wäre die strikte Formulierung im vorliegenden Programmentwurf unproblematisch), ohne imperialistischen Zielen zu dienen. Die- oder derjenige sollte dann auch begründen können, warum Militär auf europäischem Boden, auch wenn es nur zu Verteidigungs- und ausdrücklich nicht zu Eroberungs- oder Besatzungszwecken eingesetzt wird, grundsätzlich des Teufels ist, die Abschaffung von Armee und Militärgerät in Venezuela, Bolivien und anderen links regierten Staaten aber niemals gefordert wird (nur dann wäre die Forderung logisch konsistent, ein kollektives Sicherheitssystem in Europa, das die NATO ablöst, dürfte ausschließlich zivil sein).

III. Erste Vorschläge zur Weiterentwicklung des Entwurfs

Hier beschränke ich mich auf einige Punkte, die mir beim ersten Lesen aufgefallen sind, die mir aber besonders dringend erscheinen.

a) Das Programm berücksichtigt unterschiedliche Erfahrungshintergründe der Genossinnen und Genossen in beiden Landesteilen nur unzureichend. Für viele ostdeutsche Genossinnen und Genossen, die sich seit mittlerweile zwei Jahrzehnten in den Kommunal- und Landesparlamenten und in den Bastionen der Zivilgesellschaft der neuen Länder abrackern, bietet die bisweilen betont auf Antagonismen abzielende Sprache, bieten teilweise die implizit oder explizit mitschwingenden Feindbilder des Programmentwurfes wenig Anknüpfungspunkte. Das bedeutet nicht, dass beispielsweise die lobenswert treffsichere Kritik der Finanzmärkte als Resultat jahrzehntelang verschärfter Ausbeutung der Arbeitskraft und entsprechender Verteilungsverhältnisse nicht nötig ist. Aber für einen großen Teil der Partei bedeutet das Fehlen ähnlich gut ausgearbeiteter Analyse von Widersprüchen politischen Handelns auf der kommunalen und –Landesebene unter den Bedingungen knapper öffentlicher Kassen, dass dieses Programm für den Großteil ihrer politischen Arbeit, die sich (oh Schreck!) meistens außerhalb linker Diskussionszirkel, nämlich zum erheblichen Teil in so profanen Milieus von KiTas, von KleingärtnerInnen- und Schützenvereinen abspielt, ohne praktischen Wert bleibt. Wenn das Programm hier nicht an Realitätsnähe zugewinnt, kann es sehr schnell, wie Wolfgang Lieb bemerkt, „bei politischer Handlungsverantwortung in einer Regierungsbeteiligung sozusagen in den ‚Gebetswinkel‘ gestellt werden und dort zwar ‚angebetet‘ werden, aber in der praktischen Politik kaum mehr eine Rolle spielen und zu opportunistischer Anpassung führen“ (siehe http://www.nachdenkseiten.de/?p=4874).

(b) Hieran anschließend: Der Abschnitt zum Antifaschismus ist karg, das gilt qualitativ wie quantitativ. Die verkürzte Abhandlung der Problematik der extremen Rechten und menschenfeindlicher Denkmuster ist auch Verbreitung und Dringlichkeit des Problems nicht angemessen, geschweige denn dem politischen Handlungsdruck, vor allem in den neuen Bundesländern. Das Programm sollte deutlicher klarstellen, wie die Bekämpfung der Ursachen von Rassismus und Antisemitismus konkret angegangen werden kann und konkrete antifaschistische Handlungsoptionen vorgeben. Zudem zeigt das antikommunistische Treiben der neuen Familienministerin, wie dringlich die Konkretisierung einer genuin linken antifaschistischen Arbeit ist.

(c) Die europäische Dimension erscheint meistens nur „angeklebt“ an die sonstigen Forderungen und zu wenig integriert in die Analyse und die transformatorische Strategie. Aber eine erfolgreiche Linke wird nur europäisch sein, oder sie wird nicht sein. Es ist ein Missverständnis zu glauben, dass die Europäische Integration im Text nur eine Statisten-Rolle spielen könnte, nur weil es sich um das Grundsatzprogramm einer nationalen Partei handelt. Denn Gestaltung der Europäischen Integration geschieht weiterhin maßgeblich durch die nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten, die wiederum – zumindest dem Gesetzeslaut nach – ihren Parlamenten gehorchen. Beim Programm könnte die Herausforderung, DIE LINKE als Teil einer europäischen und internationalistischen Bewegung zu positionieren, noch stärker aufgenommen und überzeugender gelöst werden. Nur mit dem Hinweis auf die Europäische Linkspartei, die außerhalb nur von den Politikeliten besuchter Konferenzen nur wenig konkrete Realität für das einfache Parteimitglied des Parti Communiste Français, der Rifondazione Comunista oder der LINKEN hat, ist es jedenfalls nicht getan.

(d) Ähnlich großer Aufholbedarf besteht beim Abschnitt zur internationalen Politik. Was man dort vorfindet, ist eine verdichtete Ansammlung von Bekenntnissen, aber definitiv kein Konzept. Dass erst vor zehn Jahren SPD und Bündnisgrüne ihre friedenspolitischen Grundsätze mit „Bomben der Vernunft“ (Ulrich Beck) über Belgrad blutig beerdigt haben, mag erklären, dass die Münsteraner Beschlüsse der PDS von 2000 bis heute als heiliger Gral linker Glaubwürdigkeit verteidigt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass die Debatte um friedenspolitische Positionen immer organisch mit der um „Koalitionsfähigkeit“ verbunden wird. Letztere ist zumindest auf Bundesebene nicht ohne Akzeptanz von NATO und Bundeswehr zu haben. Beides sind heiße Eisen, die nicht anfassen zu wollen im bisherigen Vereinigungsprozess der Partei sicherlich nachvollziehbar war. Aber wann, wenn nicht jetzt kann und sollte ohne vorschnelle Denunziationen einer- und taktisches Schielen auf Regierungsoptionen andererseits diskutiert werden, wie wir uns ein kollektives Sicherheitssystem vorstellen? Eine plausible progressive Alternative zur herrschenden Sicherheitspolitik böte auch die Möglichkeit, jenseits von Moralisierungen SPD und Grüne politisch unter Druck zu setzen. Den Abzug der Bundeswehr von ihren „out of area“-Einsätzen zu fordern ist eine Sache. Zu behaupten oder anzudeuten, damit sei schon Friedenspolitik geleistet, etwas völlig Anderes.

(e) Aus Sicht der GenossInnen der Antikapitalistischen Linken „stören die immer wieder aufgenommenen undifferenzierten Preisungen der vermeintlichen Leistungen des Kapitalismus. Ebenso halten wir es für unangemessen, dass immer wieder von Freiheit und Sozialismus die Rede ist. Diese Formulierung verschleiert, dass Freiheit nur durch Sozialismus zu erreichen ist“ (siehe http://www.antikapitalistische-linke.de/article/227.abschlusserklaerung-der-konferenz-der-antikapitalistischen-linken.html).
Ich sehe das genau andersrum. Sich positiv zu beziehen auf die Fähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise, ein vorher ungekanntes Wohlstandsniveau zu ermöglichen, überkommene Lebensweisen aufzulösen, Menschen unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Alter zu integrieren, ohne deswegen zusammenzubrechen, sollte in ein sozialistisches Programm als analytischer Grundbestand schon einfließen. Sich der Ambivalenz des Kapitalismus zu stellen und dessen fortschrittliche Seiten im Hegelschen Sinne aufheben (zerstören, bewahren, auf eine höhere Stufe stellen) zu wollen, bedeutet keine Anpassung an bürgerliche oder gar neokonservative Diskurse, sondern folgt im Gegenteil der Linie des „Manifestes der Kommunistischen Partei“, dem bislang noch niemand Anpassung an den Klassenfeind unterstellt hat. Außerdem: Wenn doch die neue Gesellschaft nur im Schoße der alten ausgebrütet werden kann, dann sind die „Preisungen des Kapitalismus“ mehr als gerechtfertigt. Auch gestandene AntikapitalistInnen werden sich damit abfinden müssen, dass bislang noch jede Variante der kapitalistischen Produktionsweise sich in punkto Wohlstandserzeugung den verschiedenen Regimes staatssozialistischer Prägung als haushoch überlegen erwiesen hat. Jedes ernst zu nehmende sozialistische Projekt muss von den Voraussetzungen ausgehen, die der Kapitalismus geschaffen hat.
Auch beim Freiheitsbegriff sollte man es sich nicht zu einfach machen – wir wissen zwar, dass Kapitalismus Quelle vieler Unterordnungen, von Ausbeutung und Elend ist. Aber wir sind genauso den Beweis schuldig, dass ein demokratischer Sozialismus es besser kann. „Freiheit durch Sozialismus“ kann nur bedeuten, über die Freiheiten, die der Kapitalismus bietet, hinauszugehen. Angesichts der enormen Hypothek des Staatssozialismus, der ein historisches Emanzipationsprojekt bis zur Unkenntlichkeit in sein Gegenteil pervertiert hat, ist die Herausarbeitung und Verteidigung eines linken Freiheitsbegriffs vielleicht die schwierigste Aufgabe dieser Programmdebatte. Lohnt es sich nicht, solidarisch darum zu streiten?

Blättern:
Sprungmarken: Zum Seitenanfang, Zur Navigation, Zum Inhalt.