Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog

Leben wir im Zeitalter der Dummen?

Beitrag von Norbert Nicoll, geschrieben am 01.09.2010

Ja, man reibt sich verwundert die Augen. In China, das im Jahr 2009 zum weltgrößten Energieverbraucher geworden ist, werden gerade die großen Städte fahrradfrei gemacht, damit die Autos ungestört zirkulieren können. Ebenfalls in China geht jede Woche ein neues Kohlekraftwerk ans Netz. In ganz Europa sind derweil vor den Gerichten hunderte Prozesse gegen den Bau von Windrädern anhängig, die von Anwohnern initiiert wurden, die sich gegen die angebliche Verschandelung der Landschaft wehren. In vielen europäischen Staaten gehen noch mehr gigantische Kraftwerke ans Netz. Mehr Autobahnen werden gebaut und viele Flughäfen vergrößert.

Leben wir, wie der im Mai 2010 in die Kinos gekommene Dokumentarfilm »The Age of Stupid«[1] postuliert, im Zeitalter der Dummheit? Werden so unsere Kinder und Kindeskinder mal über uns urteilen?

Warum tun wir also nichts? Welches Sedativum haben wir genommen? Eine beliebte Antwort lautet: »Der Mensch ist egoistisch. Er möchte nicht auf industrielle Bequemlichkeiten wie das Auto, das Flugzeug oder das Handy verzichten. Daher handelt er nach der Devise ‚Nach mir die Sintflut’. Motto: ‚Hauptsache, ich habe noch schöne Erlebnisse’«

Der Befund ist hart, aber sicher teilweise zutreffend. Jeder Mensch ist ein Stück weit Egoist – das gilt auch für die größten Altruisten. Es mag stimmen, dass viele Menschen in den reichen Ländern von einer Versäumnisangst getrieben werden, sie möchten sich von dem (vermeintlich) überwältigenden Angebot der »Multioptionsgesellschaft«[2] so wenig wie möglich durch die Lappen gehen lassen.

Dennoch ist diese erste These in vielerlei Hinsicht unbefriedigend. Die Antwort auf die Frage danach, warum wir passiv sind und uns an die Zuschauerrolle gewöhnt haben, ist verzwickter und komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint.

1. Wissen und Information

Es ist zunächst sinnvoll, einige Begriffe näher zu bestimmen, nämlich den Begriff der Information und den Begriff des Wissens. Eine Information kann alles Mögliche sein, z.B. die Nachricht, dass Barack Obama Urlaub in Indonesien macht, dass Bayern München gegen den Hamburger SV gewonnen hat oder dass Britney Spears unten ohne gesichtet wurde. Das sind Nachrichten ohne Belang. Es ist Informationsmüll.

Eine Nachricht ist aber ebenso, dass sich das Artensterben beschleunigt oder dass der Meeresspiegel um 2 cm steigt.

Die Menschen haben das Problem der kontinuierlichen, schnellen und variantenreichen Informationsübermittlung gelöst, aber sie wissen nicht, wie sie mit der enormen Menge an Informationen, die sie tagtäglich erreicht, umgehen sollen.[3] Wissen ist organisierte Information, genauer eine in einen Kontext eingebettete Information; eine Information, die einen Zweck hat und die einen dazu bringt, sich weitere Informationen zu verschaffen, um etwas zu verstehen. Ohne organisierte Information mögen wir etwas von der Welt wissen, aber nichts über sie. Wer über Wissen verfügt, weiß, wie er Informationen einzuschätzen hat, weiß, wie er sie in Beziehung zu seinem Leben bringt. Vor allem weiß er aber, welche Informationen ohne Bedeutung sind.[4]

Die Medien überhäufen uns mit Informationen, stellen aber kaum Zusammenhänge her. Sie präsentieren uns eine Welt, die voll ist mit »Unds«. Dies geschah und dann das und dann etwas anderes. Es fehlt die Einbettung, es fehlt das »Weil«.[5]

Eine erste wesentliche Handlungsschranke ist also Nichtwissen. Wissen muss man sich häufig mühevoll aneignen, es fällt nicht vom Himmel. Ist diese erste Schranke überwunden, gibt es weitere. Oder anders formuliert: Wissen ist eine notwendige, aber allein nicht ausreichende Bedingung für Handlungen und Verhaltensänderungen.

2. Erkenntnisse der modernen Psychologie

Es gibt viele Menschen in den Industrieländern (wir alle kennen welche – und wir kennen uns auch selber), die wissen, dass ihr Lebenswandel der Natur Schaden zufügt, die aber dennoch systemtreu bleiben. Zwischen dem Wissen und dem Handeln stehen eine Reihe von intervenierenden Faktoren. Menschen sind komplex – der Mensch ist nicht vergleichbar mit dem Pawloschen Hund, bei dem ein Reiz sofort einen Reflex auslöst.[6]

In gewisser Weise ist der Mensch aber ein »Gewohnheitstier«, das sich kulturell und biologisch in eingefahrenen Bahnen bewegt.

Evolutionstheoretisch betrachtet ist der Mensch immer auf die Gegenwart ausgerichtet. Die Gattung Homo sapiens sapiens hat sich vor 150 000 Jahren in Ostafrika entwickelt. Sie hat nur überlebt, indem sie sich immer auf das unmittelbar Bevorstehende konzentriert hat. Überlebt hat, wer sich auf den herannahenden Säbelzahntiger konzentriert hat und schleunigst verschwunden ist – und nicht, wer darüber räsoniert hat, welche Getreidesorte in zehn Jahren den Anbau verdiene.

Der Mensch hat zudem im Laufe der Evolution Schutzmechanismen entwickelt, die immer dann aktiv werden, wenn eine Lähmung durch bedrohliche Gefühle droht.

Der Mensch ist kein widerspruchsfreies Wesen. In der Moralphilosophie und auch in der Theologie wird genau das unterstellt, aber psychologisch ist diese Vorstellung nicht haltbar. Der Mensch kann ein bestimmtes Maß an Widersprüchen und Konflikten aushalten. Jeder Mensch hat innere Konflikte und trägt Widersprüche mit sich herum.[7] Die Strategien, die der Mensch anwendet, um ein lähmendes und krank machendes Übermaß an Widersprüchen zu vermeiden, sind nicht sehr zahlreich:

Die eine ist Verdrängung, ein Mechanismus, durch den wir ausblenden, was wir nicht wahrhaben wollen, weil es unser Selbstgefühl stört. Verdrängen heißt nicht vergessen. Jeder Mensch ist in der Lage, zu verdrängen – folglich kennen wir den Mechanismus, auch wenn jedes Verdängen qua definition ein unbewusster Vorgang ist. Bedrohliche Wahrheiten, die unser »Funktionieren« verhindern oder stören, halten wir von uns fern.[8] Gute Nachrichten lassen wir dagegen näher an uns heran. Man erspart sich durch den Vorgang des Verdrängens die Auseinandersetzung mit Problemen und die Schwierigkeit, sich in einem Dilemma bewusst zu entscheiden. So bleibt der Konflikt ungelöst. Zwar beschäftigt er uns nicht mehr bewusst, aber er schwelt unkontrolliert weiter. Er kann sich dem Wandel der äußeren Umstände nicht anpassen, sondern erhält sich unverändert. In Träumen, in Fehlleistungen, in Neurosen oder psychosomatischen Krankheiten macht er sich mehr oder weniger unerkannt geltend.[9]Es versteht sich von selbst, dass man nur etwas verdrängen kann, was man weiß oder erfahren hat. Im Falle von Nichtwissen spart man sich die Verdrängung.

Nicht minder interessant, aber weit weniger bekannt, ist das, was in der Psychologie mit dem Begriff der »kognitiven Dissonanz« beschrieben wird. Wenn Menschen eine Diskrepanz zwischen ihren Überzeugungen und Einstellungen auf der einen Seite und der Wirklichkeit auf der anderen Seite erleben, erzeugt das ein tiefes Unbehagen und damit das dringende Bedürfnis, die Dissonanz zu beseitigen oder wenigstens zu reduzieren. Psychologen sprechen von »Dissonanzreduktion«. Daher wird die Wahrnehmung der Wirklichkeit der eigenen Überzeugung angepasst. Man weiß aus zahlreichen Studien, dass Raucher Lungenkrebsstatistiken für überbewertet halten. Genauso weiß man, dass Anlieger von Kernkraftwerken das Strahlungs- und Unfallrisiko niedriger einschätzen als Menschen, die weit entfernt von Atomkraftwerken entfernt leben.[10]

3. Erfahrungen, die mit dem Wissen kontrastieren

Verdrängung und kognitive Dissonanz dürften vor dem Hintergrund der heraufziehenden Umweltkrise wirkmächtige Faktoren sein. Dennoch ist damit die Reihe der Ursachen für unser passives Verhalten längst noch nicht vollständig. Anders formuliert: Es gibt noch mehr Probleme. Zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir wahrnehmen oder erfahren, liegt ein überaus großer Graben.

Unsere Infrastrukturen funktionieren ganz wunderbar, wie wir tagtäglich feststellen können. Busse fahren, Flugzeuge fliegen, Metzger und Bäcker machen pünktlich auf, Zeitungen erscheinen, die Müllabfuhr kommt regelmäßig, der Strom kommt aus der Steckdose und das Wasser aus dem Hahn – alles wunderbar. Wir erleben darüber hinaus unsere Umwelt als weitgehend intakt und die etwas Älteren bemerken sogar Verbesserungen gegenüber vergangenen Jahrzehnten. Unsere Flüsse sind zum Beispiel sauberer als vor fünfzig Jahren, es gibt praktisch nirgendwo mehr wilde Müllhalden und die Luftqualität ist mancherorts gestiegen.

Die Generationen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben oder die in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten zur Welt kamen, haben einen beispiellosen materiellen Aufstieg erlebt. Die letzten fünfzig Jahre waren eine Epoche stetiger Wohlstandssteigerungen.

Horrormeldungen in der Tageszeitung können da nur bedingt beeindrucken, schließlich sieht unsere Lebenswirklichkeit ganz anders, eben viel freundlicher, aus.

Allerdings ist diese Lebenswirklichkeit häufig komplett künstlich. Die meisten Menschen in den Industrieländern leben in einer abgeschotteten Welt. Sie sind in gewisser Weise von der Natur abgeschnitten und damit entfremdet. Die Erfahrungen stammen aus dritter oder vierter Hand. Ein großer Teil der Menschen lebt in Städten. Sie nehmen die Brüche in ihrer Umwelt nicht wahr. Wir steigen in unsere klimatisierten Autos, arbeiten in klimatisierten Gebäuden, gehen in riesigen Supermärkten ohne Fenster einkaufen. Wir sehen nicht, wie das Gemüse, das wir kaufen, gemacht wird. Abends schalten wir das Fernsehgerät ein oder setzen uns vor den Computer – auch diese Geräte vermitteln keine echten Erfahrungen.

Wir leben in einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Die schönen bunten Geschäfte, in denen wir unsere Waren kaufen, sind weit entfernt von den Leidensorten – den Orten, wo viele Güter produziert werden. Die räumliche Entfernung trägt wesentlich dazu bei, dass wir nicht wahrnehmen, dass wir auf Kosten anderer leben.[11]

Eng mit diesem Themenkomplex verbunden ist ein Konzept aus der Umweltforschung. Es nennt sich »Shifting Baselines«. Mit diesem Begriff, den Harald Welzer popularisiert hat, wird ein Phänomen beschrieben, wonach sich die Orientierungspunkte, anhand derer die Menschen ihre Umwelt beurteilen, schleichend und unbemerkt verschieben.[12]

Menschen halten immer jenen Zustand ihrer Umwelt für den »natürlichen«, der mit ihrem Lebens- und Erfahrungshorizont zusammenfällt, und Menschen verändern sich mit ihrer Umwelt in ihren Wahrnehmungen und Werten gleitend, ohne dass sie dies jedoch selber bemerken.[13] Shifting baselines sind insofern auch dafür verantwortlich, was wir für normal halten und was nicht.

Im Zusammenhang mit »Shifting Baselines« – von unmerklichen schleichenden Veränderungen unserer Wahrnehmung – wird zur Veranschaulichung immer wieder eine Studie aus dem Jahr 2005 zitiert.[14] Diese untersuchte die Wahrnehmung von Fischbeständen an der kalifornischen Küste. Forscher befragten hier drei Generationen von kalifornischen Fischern, wie sich der Fischbestand in ihrer Bucht ihrer Meinung nach verändert habe. Allen war bewusst, dass sich der Fischreichtum verschlechtert hat. Während die ältesten Fischer sich noch an elf Arten erinnerten, die sie früher vor der Küste fingen und die verschwunden sind, nannten die jüngsten Fischer nur zwei Fischarten, die es früher einmal gegeben hat und jetzt nicht mehr gab. Ihre Wahrnehmung von Umweltveränderungen setzte an einem ganz anderen Referenzpunkt an, sie nahmen nur die Verschlechterung der Fischbestände aus ihren verschobenen Referenzpunkten wahr. Das Fehlen der Fischarten gegenüber dem früheren Zustand in unmittelbarer Küstennähe war ihnen gar nicht mehr bewusst. Schon aus diesem Beispiel wird deutlich, wie schwer der Umgang mit Umweltproblemen wird, wenn sich die Referenzpunkte zu ihrer Bewertung kontinuierlich verschieben.[15] Das Konzept kann unter dem Strich erklären, warum Menschen ökologische Veränderungen nicht registrieren.

Und dann gibt es noch ein Problem. Die Menschen in den Industrieländern haben in der Vergangenheit allzu häufig die Erfahrung gemacht, dass viele Schreckensmeldungen nicht eintreten. Krisen- und Katastrophenmeldungen gibt es in den Medien häufig – oft genug erweisen sich diese jedoch als Sturm im Wasserglas. Die »Schweinegrippe« hat es kürzlich wieder bewiesen. Manche werden sich spontan auch an den Hype um den vermeintlichen globalen Computerabsturz im Zuge des Jahrtausendwechsels erinnern (»Millenium-Bug« oder »Y2K«). Da ist es nicht verwunderlich, da sich bei vielen Menschen ein Denkreflex auf Schreckensmeldungen herausbildet: »Es wird schon nicht so schlimm kommen.«

4. Krake Lobbyismus

Erst in Krisen beginnen die Menschen zu handeln. Das hat das Ozonloch gezeigt. Oder die Kuba-Krise, die erst zur Rüstungskontrolle und dann zur atomaren Abrüstung führte.

Das Problem ist nur: Wir haben keine Zeit. Veränderungen in der Sphäre der Umwelt vollziehen sich nur sehr langsam und machen sich oft erst nach Jahrzehnten bemerkbar. Abzuwarten, bis die schlimmsten Konsequenzen der ökologischen Krise eingetreten sind, ist keine Option.

Und dennoch wählen die (nicht-)handelnden Politiker genau diesen Weg des Abwartens. Gründe dafür gibt es viele. Der vielleicht wichtigste ist der Einfluss der Lobbyisten der alten Industrien auf die politischen Entscheidungsträger. Vor allem die Auto-, Energie- und Ölindustrie nehmen beträchtliche Summen in die Hand, um selbst kleine Fortschritte im Keim zu ersticken. So gab der berüchtigte Ölkonzern Exxon Mobil im ersten Halbjahr 2009 mit 14,9 Millionen US-Dollar mehr Geld für Lobbyarbeit in Washington aus als alle Hersteller von Solarzellen und Windrädern zusammengenommen (12,9 Millionen US-Dollar).[16] Zwischen 1998 und 2005 wandte Exxon Mobil nahezu 67 Millionen US-Dollar zur Finanzierung von Lobbygruppen in den USA auf, um marktradikale Think Tanks und klimaskeptische Gruppen zu unterstützen oder überhaupt erst zu gründen. Mit diesen Aufwendungen liegt der Ölriese mit Sitz in Houston vor seinen Branchenkonkurrenten Chevron und Shell, die 41 Millionen US-Dollar bzw. 28 Millionen US-Dollar für die politische Landschaftspflege im gleichen Zeitraum ausgaben.[17] Summen, an die weder Unternehmen aus dem Bereich der regenerativen Energien noch Umweltschutzgruppen auch nur annähernd heranreichen.

Die Lobbyarbeit der Unternehmen zielt natürlich auch auf die Bürger und den schon beschriebenen Mechanismus der Dissonanzreduktion. Beim Bürger soll sich die Überzeugung einstellen: »Die einen Wissenschaftler sagen das, die anderen behaupten das Gegenteil. Warten wir ab, bis sie sich geeinigt haben«.

Für die politischen Entscheidungsträger, für die Obamas, Camerons, Merkels und Sarkozys, ergibt sich nicht nur das Problem, dass sie persönlich auf dem Feld der Umweltprobleme nicht ausreichend kompetent[18] sind, sondern dass die Kosten, jetzt etwas zu tun, aus persönlicher Sicht höher sind als nichts zu tun. In ein paar Jahren sind sie nicht mehr im Amt. Sie schreiben dann ihre Memoiren.

5. Kulturelle Mythen

Und das sind noch immer nicht alle Hindernisse. Keinesfalls zu unterschätzen sind kulturelle Einflussfaktoren.

Der Geograph Jared Diamond hat sich in seiner äußerst gründlichen Studie »Kollaps« u.a. mit dem Niedergang der Osterinseln befasst. Er fragt: »Was sagte der Bewohner der Osterinsel, der gerade dabei war, die letzte Palme zu fällen?«[19]

Die Antwort liefert Diamond fast 400 Seiten später: Weil Bäume (aus religiösen Gründen) schon immer gefällt wurden und es als völlig normal empfunden wurde, dass auch der Letzte fällt.[20]

Menschen sind Gruppenwesen. Und die Gruppe, in der sie leben, prägt ihre Werthaltungen. Wir wachsen mit vielen nützlichen Dingen auf und halten sie für das Normalste der Welt. Dass diese Dinge uns eines Tages nicht mehr zur Verfügung stehen könnten, kommt uns nicht in den Sinn. Es ist die kulturelle Lebensform selbst, die manchmal ausschließt, dass bestimmte Sachverhalte gesehen oder schädliche Gewohnheiten geändert werden können. Aus der Außenperspektive erscheint völlig widersinnig, was aus der Binnensicht große Rationalität besitzt.[21] Um bei dem Beispiel der Osterinseln zu bleiben: Die soziale Katastrophe der Osterinsel beginnt nicht mit dem Fällen des letzten Baumes, sondern deutlich vorher, nämlich mit dem Fällen des ersten Baumes. Für die Insulaner war freilich das Ende nicht absehbar.

Zu den Mythen unserer Kultur gehört unsere Überzeugung, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben, dass wir so, wie wir leben, richtig leben. Dass unser vermeintlich gutes Leben auf der Ausbeutung anderer Menschen, aber auch auf der Ausbeutung der Natur fußt, kommt uns nicht in den Sinn. Wir sind davon überzeugt, die Krone der Schöpfung zu sein. Daraus leitet der Mensch die Schlussfolgerung ab, dass er Tiere und Pflanzen für seine Zwecke benutzen darf. Diese Überzeugung nehmen wir mehr oder weniger mit unserer Muttermilch auf. Sie gehört seit Jahrtausenden zu den unhinterfragten Grundsätzen der meisten menschlichen Lebensweisen. Im Grunde lässt sich die Idee bis zur neolithischen Revolution zurück verfolgen. Waren die Menschen vor der Jungsteinzeit noch nomadisierende Jäger und Sammler, lebten sie noch mit statt von der Natur, veränderte die neolithische Revolution als die mit Abstand bedeutendste Revolution der Menschheitsgeschichte praktisch alles: Die Menschen wurden sesshaft. Die Jäger und Sammler entwickelten sich zu Ackerbauern und Viehzüchtern, die nun von statt mit der Natur lebten. Gesellschaftliche Klassen entstanden. Weil die neue Produktions- und Lebensweise Überschüsse erbrachte, mussten nicht mehr alle Menschen arbeiten. Manche nutzten die freie Zeit für Erfindungen. Der technische Fortschritt und das, was man gemeinhin »menschliche Entwicklung« nennt, begann.

Technischer Fortschritt ist übrigens ein weiteres wichtiges Stichwort. Der Begriff ist in unserer Gesellschaft außerordentlich positiv besetzt. Der technische Fortschritt hat dazu geführt, dass wir nicht mehr in Strohhütten leben und nur noch zum Hobby auf Pferderücken reiten. Er hat uns Haartrockner, Espressomaschinen und Zeitungen beschert, aber auch Fernsehen, das uns verblödet, Fahrzeuge, die die Luft verpesten, oder Uranmunition, welche, einmal verschossen, Jahrtausende die Umwelt verstrahlt, Leukämie erzeugt und zum Tode führt.

Man muss kein Anarchoprimitivist sein, um zu sehen, dass der technische Fortschritt nicht nur positive Seiten hat, sondern auch jede Menge Schattenseiten. Erst der technische Fortschritt hat die Menschheit in die Lage versetzt, sich selbst vernichten zu können. Das konnte früher nur Gott.

Der Glaube an den technischen Fortschritt, auch in der Literatur als »Baconhypothese«[22] bekannt, ist tief in unserer Kultur verwurzelt.[23] Wir begegnen Problemen optimistisch, weil wir glauben, dass die technologische Entwicklung schon rechtzeitig Lösungen finden wird. Dieser Glaube mag vor dem Hintergrund unserer Alltagserfahrungen manchmal sogar berechtigt sein, mit Blick auf die Umwelt-, Klima- und Ressourcenkrise könnte er sich jedoch als verhängnisvoll erweisen. Die Herausforderungen, vor die unser Planet und mit ihnen die Menschheit in den nächsten Jahrzehnten stehen, sind immens. Man kann es am besten mit Albert Einstein sagen: »Die Probleme, die es in der Welt gibt«, so schrieb der Schöpfer der Relativitätstheorie, »sind nicht mit der gleichen Denkweise zu lösen, die sie erzeugt hat.« Dem ist nichts hinzuzufügen.


Anmerkungen

[1] The Age of Stupid, Großbritannien 2009, Regie: Franny Armstrong, 89 Minuten.

[2] Vgl. dazu Gross, Peter: Die Multioptionsgesellschaft, 3. Auflage, Frankfurt am Main 1994.

[3] Vgl. Postman, Neil: Die zweite Aufklärung. Vom 18. ins 21. Jahrhundert, 2. Auflage, Berlin 2007, S. 114.

[4] Vgl. ebenda, S. 118.

[5] Vgl. ebenda, S. 120.

[6] Vgl. Leggewie, Claus/Welzer, Harald: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, Bonn 2009, S. 97.

[7] Vgl. Leggewie, Claus/Welzer, Harald: a.a.O., S. 74.

[8] Das Paradebeispiel in diesem Kontext ist sicher der eigene Tod. Jeder Mensch weiß, dass er sterblich ist. Das Nachdenken über den Tod löst bei den meisten Menschen allerdings Ängste aus, so dass wir den Fakt unserer eigenen Sterblichkeit mit Nachdruck verdrängen und ausblenden.

[9] Vgl. dazu Kalle, Matthias/Lebert, Stephan: Das Glück der Verdrängung – Interview mit dem Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer, in: Die Zeit vom 19.3.2009, Nr. 13. Vgl. dazu auch o.V.: Verdrängung. Online unter: http://www.psychology48.com/deu/d/verdraengung/verdraengung.htm [Stand: 23. Juli 2010]

[10] Vgl. Leggewie, Claus/Welzer, Harald: a.a.O., S. 78.

[11] Die Journalistin Tanja Busse formuliert in diesem Zusammenhang treffend: »Eigentlich wollen wir keine Mobiltelefone, an denen das Blut von Kindersoldaten klebt, und keine Steaks und Taschentücher aus abgeholzten Regenwäldern. Geschähe das unmittelbar vor unseren Augen, wir würden es nicht ertragen. So aber schiebt sich die hippe heile Welt der Werbung zwischen uns und unsere Waren, und die weltweite Arbeitsteilung tut ein Weiteres. Wir sehen nicht, wie unsere Kleider in Südostasien genäht werden... Wir sehen nicht einmal, wie Kühe und Schweine in deutschen Ställen gehalten werden.« Das Zitat findet sich in: Busse, Tanja: Die Einkaufsrevolution. Konsumenten entdecken ihre Macht, München-Zürich 2006, S. 20.

[12] Vgl. Welzer, Harald: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, 2. Auflage, Frankfurt am Main 2008, S. 210.

[13] Vgl. ebenda, S. 214.

[14] Sáenz-Arroyo, Andrea et al.: Rapidly shifting environmental baselines among fishers of the Gulf of California, in: Proceedings, Royal Society of London, 272/2005, S. 1957-1962.

[15] Natürlich sind auch andere Beispiele vorstellbar. Man denke etwa an die Systeme der Überwachung: Die Generation, welche in diesem Jahrzehnt aufwächst, wird Videokameras, Gentests und biometrische Daten für ein normales Prozedere halten, und die Abfrage persönlicher Daten ist für diese Generation selbstverständlich.

[16] Vgl. Konicz, Tomasz: Lobby gegen Klimaschutz, in: Junge Welt vom 6.1.2010, S. 9.

[17] Zum Nachlesen: www.exxposeexxon.com/exxonMobil_politics.html [Stand: 18.1.2010]

[18] Es gilt zu bedenken, welchen Hintergrund die politischen Entscheidungsträger in ihr Amt einbringen. Viele sind ökonomisch geschult (oder werden zumindest von zahlreichen Ökonomen beraten, die erfahrungsgemäß hohen Einfluss auf Entscheidungen haben), viele haben einen juristischen Hintergrund, manche sind Ingenieure. Ihnen fehlen die Antennen für ökologische Belange – und auch das nötige Wissen. Sie spielen lieber auf den Feldern, auf denen sie sich auskennen (oder sich auszukennen glauben). Kommt man auf Umweltfragen zu sprechen, weichen sie dieser Thematik lieber aus oder verlagern das Gespräch auf ein Feld, auf dem sie kompetent sind.

[19] Diamond, Jared: Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen, Frankfurt am Main 2006, S. 147

[20] Vgl. ebenda, S. 533.

[21] Vgl. Leggewie, Claus/Welzer, Harald: a.a.O., S. 87.

[22] Nach dem britischen Philosophen Francis Bacon (1561-1626). Er war der Erste, der ausführlich den Gedanken äußerte, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt in der Naturbeherrschung der Garant dafür sei, dass gesellschaftlich-sozialer Fortschritt möglich werde. Vgl. dazu ausführlich und kritisch Ullrich, Otto: Forschung und Technik für eine zukunftsfähige Lebensweise. Online im Internet unter folgender URL: http://www.otto-ullrich.de/Texte_files/Forschung%20und%20Technik%20fuer%20eine%20zukunftsfaehige%20Lebensweise.pdf [Stand: 16. Juli 2010]

[23] Im Grunde ist es sogar mehr als nur ein Glaube. Es ist eine Ideologie, weil mit der Überzeugung, dass der technische Fortschritt unsere Probleme löst, handfeste Interessen verbunden sind.

¬ Dr. Norbert Nicoll ist ein belgischer Politikwissenschaftler und Ökonom. Er arbeitet für Attac Belgien und beschäftigt sich eigentlich mit Think Tanks und der neoliberalen Ideologie. Seit einem knappen Jahr arbeitet er an einem Buchprojekt zur Umweltkrise.

Demokratischer Rechtsstaat oder Atomstaat

Beitrag von Thomas Lohmeier, geschrieben am 26.08.2010

Das Institut Solidarische Moderne (ISM) hat aus Anlass des „energiepolitischen Appells“, der am vergangenen Wochenende von den vier Stromkonzernen verbreitet wurde, einen parteiübergreifenden Aufruf „Demokratischer Rechtsstaat oder Atomstaat“ initiiert.

Der „energiepolitische Appell“ der Stromkonzerne wurde ausschließlich von Männern unterzeichnet, was vielleicht kein Zufall ist. Der vm ISM initiierte Aufruf hat deshalb bewusst nur Frauen als Erstunterzeichnerinnen.

Diesen Aufruf kann man und sollte man online unterzeichnen. Ihr findet den Aufruf und die Möglichkeit zur Unterschrift auf der ISM-Website unter:
http://www.solidarische-moderne.de/de/topic/50.aufruf.html

„Genossinnen und Genossen, was haben wir noch mit der DDR zu schaffen?“

Beitrag von Wilfried Gaum, geschrieben am 17.08.2010

Das vorliegende Buch ist empfehlenswert, weil es einen wichtigen Beitrag zu einer Historisierung der DDR und einer Phase der sozialen Bewegungen , die wir als Arbeiterbewegung kennen, leistet. Schütrumpf setzt sich dabei gründlich mit der durch den deutschen Obrigkeitsstaat massiv geprägten Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung auseinander, stellt schon für die Zeit vor 1914 das Abrücken ihrer Organisationen von einem wie auch immer gearteten Sozialismus fest und schlägt einen weiten, auch durch Detailbeobachtungen angereicherten Bogen zur Gründung und Geschichte der DDR her. „Nach dreißig Jahren, immer wieder unterbrochener, Forschungen zur DDR scheint es mir an der Zeit, mit dem Thema endlich abzuschließen – ohne mich um eine Bilanz zu drücken.“

Dabei geraten die Klassen und Milieus der deutschen Gesellschaft nie aus dem Blick, oft genug werden Näherungen an die Mikrophysik der Macht geleistet, ohne denunziatorisch zu werden, kann Schütrumpf Motive und Deformationen präzise und anschaulich beschrieben, scheint sein enormes Faktenwissen auf – das doch nie trocken und überheblich daherkommt. Man glaubt Schütrumpf, dass er an dem Scheitern der Emanzipationsbewegungen in Deutschland leidet, man spürt seine Verachtung und seinen Groll über mediokre Gestalten wie Noske, Ebert, Ulbricht, Honecker und Mielke und spürt dabei aber auch, dass seine eigentliche Frage sein dürfte: weshalb hat die deutsche Arbeiterbewegung solche Apparatschiks an ihre Spitze gelassen, weshalb ist es nach der Ermordung Liebknechts und Luxemburgs mit Billigung der damaligen SPD-Spitze nicht gelungen, eine nicht durch Kominterngelder und UdSSR-Hörigkeit blockierte Alternative herauszubilden? Die verhängnisvolle Weichenstellung hin zu der nach 1933 folgenden Katastrophe sieht er darin, dass die große Mehrheit in den Organisationen der Arbeiterbewegung die Öffnung der bürgerlichen Gesellschaft für die individualisierten Ansprüche der Aufsteiger aus der Arbeiterschaft faktisch theoretisierte zu einem möglichen Hineinwachsen in den Sozialismus. Dem hatte die emanzipatorische Linke nichts entgegenzusetzen, auch weil sie an die Stelle einer präzisen Klassen- und Milieuanalyse ihre Erkenntnisfähigkeit durch einen Verratsvorwurf gegenüber den Spitzen der SPD und Generalkommission ersetzte. Im Grunde war sie nicht in der Lage zu verstehen, weshalb sich die übergroße Mehrheit der Arbeiterschaft nach dem 3. August 1914 für den Krieg und für den Chauvinismus entschied.

Die Revolution 1918/19 war dann nach Schütrumps Erkenntnissen auch keine, die im Kern die Überwindung eines mörderischen kapitalistischen Systems zum Ziel gehabt hat, sondern die einfach den Krieg beenden und ein Mindestmaß an Ordnung schaffen sollte. Die aktivistischen linken Minderheiten von KPD und KAPD verkannten auch dies und konnten sich mental nicht auf eine deutsche Republik einlassen, die auf der Grundlage eines blutbesudelten Bündnis von Reichswehr und Ebert-Noske entstanden war. Sie phantasierten sich an Stelle dessen ein idealisiertes Sowjetrußland als „konkrete Utopie“ herbei, dass mit den realen Kampfbedingungen Deutschlands wenig zu tun hatte und durch eine kominternfinanzierte KPD eine Schicht von Opportunisten, Verbalrevolutionären und Apparatschiks erzeugte. Schütrumpf beschreibt diese Entwicklung mit einer erschütternden Nüchternheit und Klarheit.

Dazu gehört auch die Befassung mit der Verstrickung großer Teile der deutschen Arbeiterschaft in das Mordregime der Nazis. Große Teile der Arbeiterschaft wurden in die sozialen Strategien der Nazis verstrickt, konnten im Krieg gegenüber den „Fremdarbeitern“ den Herrenmenschen spielen bzw. in den besetzten Ländern sich individuell auf Kosten der einheimischen Bevölkerung bereichern. Wie hätte es auf der Grundlage dieser faktischen und moralischen Korruption möglich sein sollen, nach dem Krieg in aller Unschuld mit diesen Menschen eine Gesellschaft der Freien und Gleichen aufzubauen? Schütrumpf konzentriert sich im zweiten Teil seiner Arbeit auf die Entwicklung und Geschichte der DDR. Er beschreibt die verschiedenen Fraktionen in der KPD und ihre Kämpfe, die die stalinistische Apparatfraktion um Ulbricht nicht nur gestützt durch die russische Besatzungsmacht sondern auch die in den Antifaschulen der in der UdSSR umerzogenen nationalsozialistisch indoktrinierten Kriegsgefangenen recht bald für sich entschied. Er beschreibt die systematische Entwaffnung und Entmündigung der mehrheitlich an sozialdemokratischen Vorstellungen orientierten Arbeiter.

Die Juni-Insurrektion dieser ostdeutschen Arbeiterbewegung im Juni 1953 nimmt in gewisser Weise den Klassenkompromiss vorweg, der nach dem Mauerbau 1961 novelliert wird: wenn schon keine politische und gewerkschaftliche Freiheit, dann zumindest soziale Freiheiten (S. 96): „Die Arbeiterschaft bekam auch etwas mehr als nur Wechselgeld heraus: Im Tausch gegen politische Mündigkeit errang sie für mehr als dreieinhalb Jahrzehnte soziale Sicherheit – und eine ermäßigte, den ökonomischen Möglichkeiten wie Notwendigkeiten immer weniger entsprechende Arbeitsbelastung.“(S. 98) Wichtig ist aber auch die Einsicht, dass die (auch in der CSSR und in Workuta stattgefundenen) Aufstände „den Übergang in eine totalitäre Gesellschaft rückgängig gemacht und es der Sowjetunion erleichtert (haben), den Übergang vom Stalinismus zur autoritären Diktatur zu bewältigen....Den Weg zu einer lebensfähigen sowohl demokratischen verfassten als auch sozial gerechten Gesellschaft jedoch vermochte er nicht zu öffnen.“(S.101)

Was nach dieser glänzend geschriebenen und mitreißenden Darstellung stört ist Schütrumpfs resignatives Fazit: „Und dann sind da noch einige Unbelehrbare, die immer noch von einer Gesellschaft träumen, in der soziale und politische Freiheiten einander bedingen – doch diese Spezies, von Politikern gern als Ideologen denunziert, scheint auszusterben.“(S. 127) Die Anzahl dieser „Unbelehrbaren“ dürfte wesentlich größer sein, als der Autor vermutet. Sie dürften aber nicht genügend vernetzt und um eine Debatte der von Schütrumpf aufgeworfenen Fragen organisiert sein. Dazu käme darauf an, nach dem erschütternden Scheitern der historischen Arbeiterbewegung nicht nur in Deutschland die Stimmen und Strömungen ernster zu nehmen, die schon seit mehr als hundert Jahren ihre Kritik am Zentralismus der Arbeiterorganisationen, deren Fortschrittsgläubigkeit im Rahmen kapitalistisch gesteuerter Produktivkraftentwicklung, ihrem Etatismus, ihrem Misstrauen in die mobilisierende Kraft der moralischen Ökonomie nicht nur der Unterklassen formulieren. Es käme darauf an, einen wie auch immer definierten Marxismus als Bezugssystem und die immergleichen Wiederholungen der Bildung von früher oder später im Parlamentarismus versackenden Organisationen hinter sich zu lassen. In diesem Sinne ist Landauer wichtiger als Kautsky, Luxemburg lohnenswerter als Lenin, 1968 bedeutsamer als 1949. Wenn wir uns wirklich darauf einlassen, dass das Grundparadigma die Herstellung einer selbstverwalteten und autonomen Gesellschaft ist, dann können wir in diesem Sinne die Geschichte der DDR und der Arbeiterbewegung hinter uns lassen, ihr Erbe aufheben. Zu dieser Arbeit leistet Schütrumps Buch einen wertvollen und wichtigen Beitrag.

Judith Butler auf dem Berliner CSD - Ein Eklat als Chance

Beitrag von Bodo Niendel, geschrieben am 07.08.2010

Am 19 Juni sollte die Philosophin Judith Butler für ihre Arbeit an der Kritik der kulturellen Einschreibung und Selbstverständlichkeit der Heterosexualität in der westlichen Kultur mit dem Zivilcouragepreis des Berliner CSD geehrt werden. Nach der Laudatio der Grünen-Politikerin Renate Künast betrat Judith Butler die Hauptbühne des Berliner CSD und verweigerte die Annahme des Preises, da die „Mitveranstalter sich explizit rassistisch geäußert haben beziehungsweise sich nicht von diesen Äußerungen distanziert haben. Die veranstaltenden Organisationen weigern sich, antirassistische Politiken als wesentlichen Teil ihrer Arbeit zu verstehen. In diesem Sinne muss ich mich von Komplizenschaft zu Rassismus, einschließlich antimuslimischen Rassismus, distanzieren.“ Dies war ein Paukenschlag.

Die Nichtannahme des Preises und die von ihr geäußerte Kritik löste eine hitzige Diskussion in der lesbisch/schwulen/trans* Community aus. Für einige Irritationen sorgte die Bezeichnung Mitveranstalter, da der Berliner CSD keine Mitveranstalter aufweist. In der Folge präzisierte Butler ihre Vorwürfe. Sie bezog sich auf eine strukturelle und personelle Nähe zum Lesben- und Schwulenverband Deutschland(LSVD)-Berlin und dem schwulen Überfalltelefon Maneo. Beide Organisationen thematisierten in den vergangenen Jahren die Zunahme von Überfällen auf Lesben, Schwule und Transgender. Diese Überfälle wurden auch in den Berliner Tageszeitungen ausführlich erwähnt. Maneo wie auch der LSVD-Berlin verwiesen auffallend häufig auf den Migrationshintergrund einiger Täter. Der LSVD Berlin machte Anfang Januar 2006 bundesweit auf sich aufmerksam, als er den Gesprächsfaden zur Einbürgerung des Landes Baden-Württemberg begrüßte, insbesondere muslimischstämmige EinwandererInnen sollte hierin befragt werden, wie sie die Homosexualität ihres Kindes akzeptieren würden.

Das schwule Überfalltelefon Maneo weist bei den antischwulen Gewalttaten in besonderer Weise auf den Migrationshintergrund hin. So erläuterte der Projektleiter Bastian Finke im Maneo Bericht 2007/08 „Ohne dass wir danach gefragt haben, haben 16 Prozent der Befragten in einer offenen Rubrik angegeben, dass es sich bei den Tätern um Personen nichtdeutscher Herkunft gehandelt hat. (…) Doch nicht die Schwulen, die diese Rückmeldung gegeben haben, sind das Problem. Vielmehr sind es die Täter, die Schwule zu Opfern machen, und die wiederum vermehrt mit Wut und Unverständnis reagieren. Das liberale Nebeneinander – hier die Schwulen, da die Migranten – ist mittlerweile Geschichte.“

Die Kritik Judith Butlers scheint nicht aus der Luft gegriffen zu sein, wenn der Projektleiter von Maneo einen Anteil von 16 % unter den Tätern offensichtlich für sehr viel hält, obwohl der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Berlin bei 25 % liegt. Warum er daraus schließt, dass der Multikulturalismus gescheitert sei, bleibt wohl sein Geheimnis. Auch der LSVD-Berlin bediente sich dieser Vorurteile, wenn er die Forderung einer CDU geführten Landesregierung begrüßt, die als Hürde für die Einwanderung, einen Maßstab für Toleranz anlegt, den ein Großteil der CDU-Mitglieder selbst nicht aufbringen würde.

Die Veröffentlichungen des LSVD-Berlin wie auch von Maneo legen nahe, dass die Rechte von Schwulen (und manchmal auch von Lesben) den Rechten von Menschen mit Migrationshintergrund gegenübergestellt werden. Dabei wird nicht nur übersehen, dass lesbische/schwule und trans* Menschen mit Migrationshintergrund in Berlin leben, sondern ein schablonenhaftes Bild von MigrantInnen gezeichnet, die sich nicht an die hiesigen (scheinbar aufgeklärten) Normen anpassen wollen. Diese Position argumentiert aus einer Überlegenheit und ist seltsam blind gegenüber den Defiziten fehlender Akzeptanz der deutschen Mehrheitskultur.

Das Kind mit dem Bade ausschütten würde man hingegen, wenn man den LSVD-Berlin und Maneo als rassistische Organisationen zu bezeichnen würde. Es wäre eine Überdehnung des Rassismusbegriffs. Beide Organisationen kooperieren eng mit dem Türkischen Bund, der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Türkiyemspor und dem Zentralrat der Sinti und Roma, oder rufen zu Protestaktionen gegen die Gründung der rassistischen Partei Pro Berlin auf (wie zuletzt der LSVD Berlin am 17.7.2010). Vorurteilsgeschwängerte Veröffentlichungen stehen hier im Widerspruch zu einer durchaus emanzipatorischen Praxis.

Judith Butlers Eklat sollte als Chance gesehen werden, die normativen Grundlagen und Ausschlüsse des Denken und Handelns zu hinterfragen, um die Akzeptanz von sexueller und kultureller Vielfalt - als Einheit verstanden - zu erhöhen, statt sie gegeneinander auszuspielen. Auch die vom LSVD-Berlin in Auftrag gegebene Studie des Bremer Soziologen Bernd Simon endete damit, „Solchen Versuchen muss sich auch die Lesben- und Schwulenbewegung entgegenstemmen, trotz kurzfristiger realpolitischer Verlockungen, die möglicherweise lauern. Lesben und Schwule würden sich in der Gesellschaft des islamophoben Beelzebub nicht lange wohlfühlen bzw. dort nicht lange unbehelligt bleiben, da der Abgrenzung nach außen meist sehr bald die >Säuberung< im Innern folgt.“

Bodo Niendel

Referent für Queerpolitik der Bundestagsfraktion DIE LINKE. und Vorstandsmitglied des Berliner CSD e.V.

Der schlanke (Sozial)Staat.

Beitrag von Jörg Schindler, geschrieben am 05.08.2010

Die Bundesrepublik ist ein Sozialstaat. Und ihre Behörden sind an Recht und Gesetz gebunden. Heißt es so schön. Doch unter HARTZ IV ist davon wenig übrig geblieben.

Übertrieben? HARTZ IV war "im Ansatz richtig"? Hierzu ein Ausschnitt aus einer Entscheidung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen, in der das Gericht die Argumentation der HARTZ-IV-Behörde bewertet, die klagenden Leistungsempfänger könnten doch bis zur abschließenden Entscheidung eines Gerichts zunächst auf die strittigen 20% der Leistungen vorläufig verzichten.

"Es ist verwunderlich, wenn der Antragsgegner [ARGE] hervorhebt, dass im Eilverfahren eine Kürzung von Grundsicherungsleistungen um 20 % bis zur Durchführung des Hauptsacheverfahrens anerkannt sei. Denn dies entspricht nicht der Rechtsprechung des LSG. Der erkennende Senat hat mehrfach hervorgehoben, dass es sich auch bei niedrigeren Beträgen, als sie in diesem Verfahren streitig sind [33,66 ¤], nicht mehr um Bagatellbeträge handelt. Diese Bewertung gebietet bereits der Charakter von Grundsicherungsleistungen als Sicherung des unbedingt notwendigen sozio-kulturellen Existenzminimums. Der verweigerte Rechtsschutz wird nicht dadurch plausibler und erträglicher, wenn - wie vorliegend das SG im aufgehobenen Beschluss festgestellt hat - dem Antragsteller zugemutet wird, nicht an einer bestimmten Zahl von Tagen pro Monat nichts zu essen oder zu trinken, sondern an jedem Tag im Monat 10 % weniger zu essen und zu trinken. Spätestens seit der Entscheidung des BVerfG v. 9. Februar 2010 (1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09) wird dieser Begründung endgültig der Boden entzogen, zudem das SG dem Antragsteller nicht offenbart hat, wie er nach Durchführung des Hauptsacheverfahrens die ihm täglich für sechs Monate vorenthaltenen 10 % an Essen und Trinken existenzsichernd nachholen soll. Artikel 1 Grundgesetz gewährleistet ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Das bedeutet nicht nur die Sicherung der physischen Existenz, sondern auch ein Mindestmaß an Teilhabe an gesellschaftlichem, kulturellem und politischem Leben. Dieses Grundrecht ist dem Grunde nach unverfügbar und muss vom Grundsicherungsträger und notfalls durch die Rechtsschutz gewährenden Instanzen eingelöst werden." LSG NB v. 24.02.2010 - L 7 AS 1446/09 B ER.
Vielen Dank an Harald Thomé. (www.tacheles-sozialhilfe.de)

Robuste Öffentlichkeit

Beitrag von Holger Schmidt, geschrieben am 26.07.2010
Holger Schmit schaut in den Spiegel

I. Spiegelgasse

Es gibt Begegnungen, die niemals stattgefunden haben, die aber spekulativ nachzuholen sich lohnt. Ein solches Gedankenexperiment erhellt vergangene Möglichkeiten und mit ihnen die Geschichte, die ja dann doch anders kam. Der Reiz solcher Spekulationen steigt, wenn es sich um Begegnungen handelt, die in einer spezifischen historischen Situation geradezu in der Luft lagen.
Eine solche Begegnung hätte sich im Jahre 1916 in der Züricher Spiegelgasse ereignen können, zwischen zwei exponierten Vertretern der politischen und der künstlerischer Avantgarde. Während des 1. Weltkrieges ist die neutrale Schweiz, insbesondere die Stadt Zürich, Anlaufstelle für Flüchtlinge, Deserteure, Pazifisten, Künstler und Sozialisten aus ganz Europa. Das politische Klima in den kriegführenden Nationen wird bestimmt von Kriegspropaganda und Zensur, nationaler Mobilmachung und politischem Burgfrieden.
In der Spiegelgasse 1 eröffnen die Flüchtlinge Hugo Ball und Emmy Hennings am 5. Februar 1916 in einem leerstehenden Saal mit Bühne eine Künstlerkneipe, die etwa 50 Menschen Platz bietet und taufen sie Cabaret Voltaire. Die Kneipe gilt als Geburtsort einer der radikalsten Kunstbewegungen der historischen Avantgarden, des Dadaismus. Während ein Großteil der künstlerischen und wissenschaftlichen Intelligenz in Deutschland den Krieg rechtfertigt, ihn als notwendig begreift, um die eigene Kultur zu verteidigen, versammeln sich im Cabaret Voltaire linkssozialistische Kriegsgegner und Künstler aus ganz Europa. Sie identifizieren den Krieg und den Ungeist der Zeit mit der bürgerlichen Gesellschaft - und sie wenden sich dagegen, »dies zivilisierte Gemetzel in einen Triumph der europäischen Intelligenz umzulügen«.
Nur wenige Wochen nach Eröffnung des Cabaret Voltaire bezieht einige Häuser weiter ein Exilant sein Domizil in der Spiegelgasse 14: Wladimir Iljitsch Lenin. Es ist 1916, der Vorabend der Oktoberrevolution. Lenin schreibt in dieser Zeit vermutlich pausenlos an seiner Schrift »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus«. Wenig später wird er als trojanisches Pferd vom deutschen Oberkommando in einem versiegelten Eisenbahnwaggon nach Sankt Petersburg eingeschmuggelt werden und dort die Revolution organisieren.
Auf der Bühne des Cabaret Voltaire tönt es: »gadji beri bimba glandridi laula lonni cadori / gadjama gramma berida bimbala glandri galassassa laulitalomini / gadji beri bin blassa glassala laula lonni cadorsu sassala bim …« Hugo Ball trägt beim Vortragen dieser Verse eine Verkleidung, die er später so beschrieb: »Meine Beine standen in einem Säulenrund aus blauglänzendem Karton, der mir schlank bis zur Hüfte reichte, so daß ich bis dahin wie ein Obelisk aussah. Darüber trug ich einen riesigen Mantelkragen, der innen mit Scharlach uns außen mit Gold beklebt, am Halse derart zusammengehalten war, daß ich ihn durch ein Heben und Senken der Ellenbogen flügelartig bewegen konnte. Dazu einen zylinderartigen, hohen, weiß und blau gestreiften Schamanenhut.« Schwer, sich Lenin im Publikum vorzustellen; schwerer noch, seine Reaktion zu erraten.
Möglicherweise hätte diese Aufführung das Verdikt des Anarchismus ereilt. Den Anarchisten wirft er vor, ihre Ansichten drückten »die Herrschaft des blinden Zufalls über den vereinzelten, alleinstehenden Kleinproduzenten« aus. Anarchismus und ultralinke Positionen führt Lenin auf dieselbe Wurzel, den »wildgewordenen Kleinbürger«, zurück, der sich von dieser oder jener bürgerlichen Modeströmung bis zur »Tollheit« fortreißen lasse. Tollheit scheint auch im Voltaire zu herrschen, und vollends zufällig mutet die dadaistische Sprache an.
Hinter dem, was auf den ersten Blick als bloßer Unernst erscheinen mag, verbirgt sich allerdings ein verzweifelt ernsthaftes Anliegen. Hugo Ball verortet sich selbst in einer linkssozialistischen Tradition: »Ich lebe ganz ausschließlich in sozialistischer Natur. Ich denke Dinge, die an Radikalität vieles übertreffen, was man bis jetzt vorgebracht hat.« Und er selbst stellt den Dadaismus in eine spannungsreiche Beziehung zu den politischen Avantgarden, wenn er fragt: »Ist der Dadaismus wohl als Zeichen und Geste das Gegenteil zum Bolschewismus? Stellt er der Destruktion und vollendeten Berechnung die völlig donquichotische, zweckwidrige und unfassbare Seite der Welt gegenüber? Es wird interessant sein zu beobachten, was dort und was hier geschieht.«
Genau daran sollen in diesem Text einige Überlegungen zu dem Verhältnis von politischen und künstlerischen Avantgarden angeschlossen werden. Beide Seiten sehen sich mit dem Problem konfrontiert, dass die bürgerliche Gesellschaft eine eigentümliche Schwerkraft ausbildet, die radikale Kritik potentiell neutralisiert. Die Positionen Lenins und der Dadaisten repräsentieren die beiden extremen Pole der linken Reaktion darauf. Während Lenin Kommunikation als massenwirksame Propaganda, Agitation und straffe politische Organisierung bis zum Extrem praktiziert, gilt Dada bis heute als denkbar radikalste Verweigerung von Kommunikation und Ordnungsprinzipien. Das Ausbleiben der Begegnung zwischen beiden, das Fehlen jedweder Kommunikation zwischen dem großen Kommunikator und den radikalen Kommunikationsverweigerern ist bis heute nicht abgegolten, denn alle Überlegungen zu linker Kommunikation bewegen sich bis heute zwischen diesen beiden Polen und ihr Gegensatz lässt sich nicht nach einer Seite hin auflösen. Produktiv ist diese Spannung, wo sie ausgehalten und problematisiert wird.

II. Lenin und die Dadaisten

Bevor Hugo Ball nach Zürich emigrierte, hatte er in Deutschland die Ohnmacht und Vergeblichkeit politischer Agitation erfahren müssen. Er schrieb unter anderem für das von Franz Pfemfert herausgegebene Antikriegsblatt »Die Aktion« und arbeitete in München als Dramaturg und Regisseur am Theater. Aber ganz gleich, ob Agitation in der linken Presse, Demonstrationen, Kundgebungen oder politisches Theater: Alle Aktions- und Praxisformen schienen wirkungslos zu bleiben und ins Leere zu laufen, während es den ideologischen Apparaten der bürgerlichen Gesellschaft problemlos gelang, die Massen ideologisch zu mobilisieren und in Bewegung zu setzen. Ähnliche Erfahrungen hatten auch die meisten anderen Mitglieder des Cabaret Voltaire gemacht. Das Scheitern der Ideale bürgerlicher Kunst und Kultur wurde ihnen auf den Schlachtfeldern Europas vorgeführt. Dieser Bankrott hatte sich indes schon lange angekündigt; bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts verdichteten sich die Anzeichen einer tiefen Krise der bürgerlichen Kultur.
Nietzsche hatte in seiner Vierten Unzeitgemäßen Betrachtung die Spraceh als ein Symptom dieser Krise ausgemacht. Sie sei „erkrankt“ und ihre Kraft „erschöpft“, »so dass sie nun gerade Das nicht mehr zu leisten vermag, wessentwegen sie allein da ist: um über die einfachsten Lebensnöthe die Leidenden miteinander zu verständigen: [...] bei diesem dunkel gefühlten Zustande ist die Sprache überall eine Gewalt für sich geworden, welche nun wie mit Gespensterarmen die Menschen fasst und schiebt, wohin sie eigentlich nicht wollen«. Unter der »Gewalt« der Sprache versteht Nietzsche jene unsichtbaren, gespenstischen Kräfte der Sprache, die in der bürgerlichen Kultur ihre Wirkung entfalten, ohne dass es den Menschen so recht bewusst werden müsste. Wenn Nietzsche diese Kräfte metaphorisch als »Gespensterarme« umschreibt, dann erweckt er damit ein Bild, das, ohne es so zu nennen, die ideologische Funktion der Sprache trifft.
Die Dadaisten reagierten auf diese fundamentale Sprachkrise: Sie spielten nicht mehr mit. Ihre Gedichte wollten, so Ball, »die Verschlungenheit des Menschen in den mechanistischen Prozeß verdeutlichen« und »den Widerstreit der vox humana mit einer sie bedrohenden, verstrickenden und zerstörenden Welt, deren Takt und Geräuschablauf unentrinnbar sind«, darstellen.
Diese Worte hätten Lenin vermutlich allzu resignativ geklungen. In Was tun? geht Lenin davon aus, dass das Klassenbewusstsein der Arbeiterklasse gegenüber der bürgerlichen Ideologie schwächer sei, da diese »viel älter ist als die sozialistische, weil sie vielseitiger entwickelt ist, weil sie unvergleichlich mehr Mittel der Verbreitung verfügt«. Das politische Klassenbewusstsein entstehe nicht spontan, es könne den Arbeitern und Arbeiterinnen »nur von außen gebracht werden«. In derselben Schrift stellte er die zentrale Bedeutung der Parteizeitung für die Konstituierung und Organisierung der Partei heraus. Die Parteizeitung verstand er als einen »Kollektiven Organisator«, der die Kontinuität des Alltags der Partei gewährleistet. Ihre regelmäßige Produktion sollte die innerparteiliche Diskussion anregen, die Verteilung unter den Arbeiterinnen und Arbeitern das politische Klassenbewusstsein stärken. Lenins politische Strategie mag als eine große Erfolgsgeschichte linker Kommunikation erscheinen; was unter den spezifischen historischen Bedingungen seiner Zeit erfolgreich war, lässt sich aber nicht einfach auf die Gegenwart übertragen. Dada kann verstanden werden als eine Reaktion auf das Scheitern dieser Strategien in den Staaten Westeuropas, in denen die kulturellen und ideologischen Apparate viel weiter entwickelt waren.
Entscheidend für das Entstehen des Dadaismus war, dass seine frühen Protagonisten die gesellschaftlichen Krisenerfahrungen und die Krisenerfahrungen linker Politik im selben Zusammenhang zu reflektieren suchten. Vielen von ihnen ging es um eine Radikalisierung des Sozialismus mit künstlerischen Mitteln. Die Aktionen der Dadaisten unterliefen ein Fundament der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft – nicht das private Eigentum an Produktionsmitteln, sondern die Rationalität und die Verkehrsformen der bürgerlichen Kultur. Sie gingen davon aus, dass die Menschen im Banne dieses Kultursystems, der herrschenden Kultur und Rationalität, gefangen bleiben – zumindest solange, wie die kulturellen Zeichen und bürgerlichen Alltagsrituale entsprechend den Regeln und Normen des Kultursystems gebraucht werden.
Dada setzte dagegen die Geste der Verweigerung. Das war jedoch nicht bloß Geste, sondern durchaus auch ein Verfahren praktischer Kritik. Indem bürgerliche Ordnungsprinzipien mittels gezielter Verletzung markiert wurden, sollten die entleerten Rituale der bürgerlichen Gesellschaft als solche kenntlich werden. Die Dadaisten fielen damit nicht hinter die Aufklärung in den irrationalen Mythos zurück, sondern zeigten den Zusammenhang von Rationalität und Irrationalität der bürgerlichen Gesellschaft auf. Der Dadaismus entwickelte künstlerische Verfahren, die Mechanismen, die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln der Öffentlichkeit zu demaskieren. Bezogen auf die Problematik von Öffentlichkeit und Kommunikation, wirft der Dadaismus Fragen auf, die diese als Phänomen einer »robusten Öffentlichkeit« aufreißen.

III. Museale Momente linker Intervention

Dada hängt heute im Museum; Lenin liegt im Mausoleum am Roten Platz. »Museum und Mausoleum verbindet nicht bloß die phonetische Assoziation«, schreibt Adorno, an beiden Orten sind die nunmehr leblosen Überbleibsel der Avantgarden ausgestellt. Was im Museum oder Mausoleum landet, dem ist trotz aller Bewunderung der Zahn bereits gezogen. Es ist eine merkwürdiger Sache: Noch die radikalsten Kunstwerke verlieren, sobald sie ins Museum gestellt werden, ihre Wirkung. Politische Öffentlichkeit funktioniert heute ganz ähnlich. Was sie ausstellt und sichtbar macht, ist zugleich neutralisiert. Das liegt nicht zuvorderst an dem, was Öffentlichkeit ausschließt und draußen hält, sondern an der Form, in der sie kritische Inhalte zulässt. Dies lässt sich beschreiben mit dem Begriff der »robusten Öffentlichkeit«. Seine wesentlichen Züge lassen sich mit der Metapher des Museums gut begreifen: Diese steht nicht allein und nicht zuerst für etwas Veraltetes, sondern vielmehr für die Neutralisierung des Unbotmäßigen durch seine Ausstellung.
Kunstmuseen sind bürgerlich im besten Sinne, liberal und demokratisch. Demokratisch gewähren sie Eintritt, und zwar allen, die Eintritt begehren. Das ist ein Fortschritt gegenüber den abgeschotteten Sammlungen des Feudalismus, welche in der Regel dem bürgerlichen Publikum verschlossen waren. Liberal ist das Museum, da es die unmittelbar politischen und polizeilichen Ausschlusskriterien ersetzt hat durch ästhetische – noch das inhaltlich Unbotmäßigste wird im Museum zugelassen, als »Kunst«, bestaunt, bewundert, in distinguierter Empörung abgelehnt oder genossen. Innerhalb der abgegrenzten Sphäre der Kunst sind Intentionen erlaubt und toleriert, die sonst nirgendwo gestattet sind.
Doch was museal wird, ist zugleich kanonisiert; es ist neutralisiert durch seinen Erfolg. Das lässt sich an der Geschichte des Dadaismus studieren. Die bürgerliche Institution Museum hat das Radikale akzeptiert und es sich zugleich einverleibt: Bestaunt wird, was abgetrennt von seiner historischen Substanz und isoliert von dem, was es geschichtlich einmal ausdrücken wollte, als bloßes Moment von Kunst gelten kann. Kritik wird hier zur willkommenen Frechheit, in Besitz genommen und im rechten Licht des Museums genießbar. Jedes Werk wird eingeordnet, kategorisiert und mit einem Wort Heiner Müllers »erkennungsdienstlich behandelt«. Die museale Pluralität fingiert eine höhere Einheit: Sie unterstellt, dass die Widersprüche zwischen den Werken, das Unduldsame eines jeden Stückes immerhin doch einer gemeinsamen Institution zugehören und diese bekräftigen – die Kunst. Gerade gegen diese Besitzergreifung wendeten die Avantgarden alle Energie. Doch das Museum war stärker.
Die bürgerliche Öffentlichkeit ist heute so demokratisch und liberal wie das Museum. Sie demontieren zu wollen, wäre ebenso barbarisch wie das Niederbrennen von Museen. Die Funktion politischer Öffentlichkeit war die Auflösung der vordemokratischen Arkanpolitik; ihre zumindest dem eigenen Anspruch nach demokratischen Zugangsbedingungen kann niemand, der bei Verstand ist, aufheben wollen. Doch was mit Dada im Museum geschieht, widerfährt der Kritik in der robusten Öffentlichkeit auf ähnliche Weise: Die Wirkung noch der radikalsten Informationen, Demonstrationen, Kundgebungen verpufft, sobald sie in die Institutionen der Öffentlichkeit eintreten. Das ist nicht allein der mangelnden Masse und der mangelnden Organisation der linken Kritiker geschuldet; wie die Stücke im Museum werden Kritiken im Augenblick ihres Zugelassenwerden zugleich ausgestellt als Momente einer größeren Einheit. Als Momente von Öffentlichkeit bestärken partikulare Äußerungen den Absolutheitsanspruchs des Ganzen. Und so büßen Inhalte ihre Radikalität ein, sobald man sich den geschriebenen und ungeschriebenen Spielregeln der robusten Öffentlichkeit unterwirft und in ihr das eigene Anliegen ausstellt – auch dort, wo gar keine wortwörtlichen Abstriche gemacht werden müssen. Robust ist an Öffentlichkeit also weniger ihre Grenze nach außen, als ihre Widerstandskraft im Inneren.
So wie man fragen muss, verändert radikale Kunst das Museum, oder wandelt doch die Institution Museum die Wirkung der Kunst, so lässt sich für die robuste Öffentlichkeit formulieren: Verändert radikale Kritik die Öffentlichkeit, oder verändert Öffentlichkeit die Kritik? Der Ausdruck »museal« wird umgangssprachlich mit etwas Verstaubtem, Veraltetem in Verbindung gebracht. Linkes Agieren zeichnet sich in der gegenwärtigen Öffentlichkeit eher durch das Gegenteil aus; dadurch, dass es gezwungenermaßen mithält im Kampf um die Aktualität der Informationen und die Modernität ihrer Darbietung. Dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach dem Allerneusten, der Sensation, dem Skandal wird zwar kritisch begegnet; doch zugleich ist man genötigt mitzuspielen: Keine linke Kampagne ohne Skandalisierung des Tatbestandes, den es abzuschaffen gilt, keine linke Mobilisierung ohne ein Moment der Verheißung des Sensationellen. Die betreffenden Techniken kann man erlernen. Linke PR ist mittlerweile ein eigener Bereich, der sich trainieren und professionalisieren lässt wie ehedem die Staatsableitung: In welcher Form muss ich meine kritischen Inhalte in modernen Medien darbieten, damit sie die Menschen erreichen? Der Sprung in die nichtlinke PR, in die bürgerliche Karriere fällt dann mit einer solchen Ausbildung häufig leicht – wer linke Plena und linke Medien zu leiten gelernt hat, wer von links mit Öffentlichkeit zu spielen wusste, wird vielen betrieblichen Anforderungen des modernen Karrierelebens auch jenseits der Linken außergewöhnlich gut gewachsen sein.
Spott über solcherart gehetztes Zeitgemäß-Sein der Linken ist billig und Renegaten-Schelte langweilig. Problematisch wird es jedoch, wo die Gummizellenerfahrung linker Politik – alles geht, nichts hilft raus – einzig mit einem verkappten Vulgär-Leninismus gedeutet wird: Wir sind zu wenige, zu schlecht organisiert und die Propaganda (wahlweise: die PR) zu schwach. Übersehen wird hier jedoch zweierlei: Erstens ist das durch und durch instrumentelle, aber weitgehend ungebrochene Verhältnis dazu, wie Sprache und Rationalität öffentlich funktionieren, nolens volens einer Tradition zugehörig, die mit Lenins Agitprop begann. Sprache gilt demnach als taugliches Vehikel für die richtigen Inhalte. Linke Öffentlichkeitsarbeit ist darin anti-dadaistisch; sie ist berechenbar und neutralisierbar gerade dort, wo sie entschieden Stellung bezieht: Sie beißt sich an der robusten Öffentlichkeit die Zähne aus, ohne dass es auch nur jemand wahrnimmt.
Zweitens eignet den von Linken mitbestimmten Skandalen und Erregungszyklen der Öffentlichkeit selbst etwas Museales nicht nur im Sinne ihres Ausgestelltseins, sondern auch im Sinne des Kanonisierten: Als würden die nun einmal vorfindlichen Formen gerade dort bemüht, ja bloß zitiert, wo angeblich Neues oder Gewichtiges zu verhandeln wäre. So wie es Kunst-Skandale im alten Sinne nicht mehr gibt, sondern allenfalls die durchgenudelten Skandalmaschinerien mal kalkuliert, mal versehentlich angeworfen werden, so vermag keine linke Intervention heute anders als zitierend aufzutreten. Sie schmeißt eine öffentliche Mühle an, die schon da ist.
Dieser Falle ist schlechterdings nicht zu entkommen. Doch das Bewusstsein dessen, in welcher Situation sich der historische Dadaismus und sein Gegenpol befanden, könnte einige Illusionen zu vermeiden helfen. Sein vermeintlicher Erfolg, als »Kunst« zu gelten, war Inbegriff seines Scheiterns. An linke Erfolge in der Öffentlichkeit ergeben sich daraus Fragen grundsätzlicher Art. Sobald bloße Publizität als Erfolgskriterium politische Relevanz ersetzt, geht man der robusten Öffentlichkeit auf den Leim.

IV. Wieder Dada?

Im Bereich der Kunst war es die Intention des Dadaismus, dieses Spiel und die immer gleichen Mühlen des Betriebs durch mutwillige Sinnverweigerung zu Bewusstsein zu bringen; keine Kunstrichtung zu kritisieren, sondern die Institution Kunst, indem man ihre geschichtlichen Voraussetzungen und Wirkungsweisen offenlegt. Wäre heute eine linke Öffentlichkeitsarbeit denkbar, die sich ähnlich zu Öffentlichkeit verhielte wie Dada zur Kunst und die nicht in die weithin aufgestellten Fallen träte? Dies würde bedeuten, dass eine Begegnung nachzuholen wäre, die damals nicht zustande kam: diejenige zwischen politischen und künstlerischen Avantgarden. Kunst und Politik können nicht ineinander aufgehen, aber der Möglichkeitsraum politischer Praxis könnte erweitert werden, wenn sie sich in ein kritisches Spannungsfeld zu den experimentierfreudigeren Künsten setzen würde. Auch wenn Dada im Museum landete – heute fehlt dem verbreiteten linken Umgang mit der robusten Öffentlichkeit eine Spur Dada: dekonstruieren, demaskieren und delegitimieren anstatt immer nur mitzuspielen. Und das Bewusstsein darum, wie selbst Dada im Museum landen konnte, würde so manche linke Ohnmachtserfahrung begreifen helfen.

Dieses Essay unseres Autors Holger Schmidt erschien im Buch zur 10. Linken Medienakademie
"Linke Kommunikation - Kommunikation mit links?", das im VSA Verlag Hamburg erschien.

Wissen schafft Neues

Beitrag von Thomas Lohmeier, geschrieben am 26.07.2010

Das Ende des Eigentums» ist die prophetische Unterzeile des neuen Werks der postmodernen Theoretiker Michael Hardt und Antonio Negri, FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher sinniert in seiner Zeitung über die «Revolution der Piraten», die partiell kommerzfeindlich und marxistisch[1] seien (vgl. FAS v. 21.9.09) und Spiegel Online fordert während der Opelkrise «Lasst Google Autos bauen!». Geistiges Eigentum, Urheberrecht oder Commons-based Peer Production sind längst nicht mehr nur Stichworte einer intellektuellen Feuilleton-Debatte oder linksradikaler Computer-Nerds. Die Produktion von Wissens hat sich schon längst zu einem beachtlichen Wirtschaftszweig entwickelt. Die Frage, in welchen Rechtsformen diese Wissensproduktion stattfindet und wer ihre Produkte zu welchen Bedingungen konsumieren darf, ist daher gegenwärtig Gegenstand vielfältiger politischer und juristischer Auseinandersetzungen, in denen das Urheber- und Patentrecht neu geregelt wird. Das Kampffeld ist dabei ausgesprochen unübersichtlich: Die Musikindustrie verklagt Schüler, Apple den Hersteller des Google-Handys HTC, Schwellen- und Entwicklungsländer bedrohen internationale Patenrechte und alle bekämpfen Mircosoft.

Die unübersichtliche Lage ist nicht nur Ausdruck einer Neuordnung eines spezifischen Eigentumsrechts, sie verweist auf ein grundsätzliches Problem der kapitalistischen Gesellschaft. Das Besondere der Wissensproduktion ist, dass das Produkt Wissen im Gegensatz zu anderen Produkten seine Potentiale nicht durch Abnutzung und Verbrauch verliert, sondern diese erst durch Teilung und Weitergabe erst entfaltet. Die Monopolisierung von Wissen mittels künstlicher Eigentumstitel (Patente, Urheberrecht) hingegen wirkt aufgrund der privaten Aneignung und Verfügungsgewalt als Beschränkung seiner produktiven Potentiale. Damit wird das Eigentumsrecht, also der Kern der bürgerlichen Gesellschaft, das in der Verbindung mit der auf Konkurrenz basierenden Warenproduktion einst erst das ganze produktive Potential des Kapitalismus entfaltete, zu einer Schranke der ökonomischen Entwicklung.

Zwanghafte Verbindung: Eigentum und Wissen

Weil sich bei der Produktion von Wissens die Beschränkungen des produktiven Potentials der kapitalistisch organisierten Ökonomie durch seine eigenen spezifischen Rechtsverhältnisse zeigt, ergeben sich aus diesen Auseinandersetzungen interessante Anknüpfungspunkte für eine transformatorische Linke. Marx erkannte im Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen (Eigentumsverhältnissen) und der Produktivkraftentwicklung sogar den letztinstanzlichen Motor geschichtlicher Veränderungen – also nicht im Widerspruch zwischen Produktionsmittelbesitzern und Arbeitskraftverkäufern, sondern zwischen den ökonomischen Potentialen der Gesellschaft und ihrer Eingrenzung durch die Form der Produktion. Nicht der Widerstand gegen die scheinbar widerrechtliche Aneignung des Mehrwerts führt demnach zur Transformation, sondern die Erkenntnis, dass die Rechtsverhältnisse, die die gesellschaftliche Reproduktion regeln, die Gesellschaft in ihrer eigenen Entwicklung behindern (vgl. MEW 13, S. 8f). Die Frage, die demnach einer transformativen Praxis vorausgeht, muss lauten: Welche ökonomischen Entwicklungen stehen im Widerspruch zu den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen und können Ansatz für eine emanzipative und transformative Politik sein?

Dieser Widerspruch drückt sich bereits in vielfältigen politischen Kämpfen aus. Beispielsweise sei an denr Kampf verschiedener Schwellenländer (Südafrika, Brasilien, Indien) um bezahlbare Medikamente zur Behandlung von HIV-Erkrankten Anfang der 2000er Jahre erinnert. Durch den TRIPs-Vertrag der WTO, der die Patente der Pharmakonzerne in Europa und den USA schützte, war diesen Ländern die Herstellung von Medikamenten zur Behandlung von HIV/AIDS untersagt. Erst ihre Drohung, die Verträge schlichtweg zu ignorieren, führte schließlich zum Kompromiss innerhalb der WTO und mit den Pharmakonzernen. Aktuell wollen die nördlichen Industrieländer bei den Verhandlungen über ein neues Handelsabkommen gegen Produktpiraterie (Anti-Counterfeiting Trade Agreement – Acta) die internationale Arbeitsteilung mittels des Patent- und Urheberrechts weiter festschreiben. Frei nach dem Motto „Wir mögen kein Öl haben, wir haben aber Ideen.“ (Luc Devigne, europäischer Chef-Unterhändler), soll das Patent- und Urheberrecht dafür Sorge tragen, dass die Kreativarbeit weiterhin im Norden, während die Produktion in den Schwellenländern und die Landwirtschaft im Süden stattfindet.

Generika sind für die medizinische Versorgung der Bevölkerung in ärmeren Ländern lebensnotwendig. So konnte durch den Import von Generika aus Billigpreisländern wie Indien der Preis für HIV-Inhibitoren um 10.000 Dollar auf unter 350 Dollar pro Patient und Jahr reduziert werden. Hier zeigt sich ganz deutlich, wie sehr die Ausgestaltung des Patentrechts im Wortsinne lebenswichtig ist. Trotz des 2001 über patentrechtlich geschützte Medikamente gefundenen Kompromisses führen Beschlagnahmungen immer wieder zu Behinderungen von Hilfsorganisationen bei der Versorgung mit bezahlbaren Generika-Medikamenten.

In der Wissensproduktion wird das Eigentumsrecht vom Motor zur Bremse der kapitalistischen Ökonomie. Dies zeigen besonders gut Beispiele aus den Bereichen der Produktion, bei denen die stofflichen Träger kaum von Bedeutung sind: Die freie Software. Zugegeben, diese These ist nicht neu. Erinnert sei an das The dotCommunist Manifesto von Eben Moglen (Moglen 2003) und die Keimformdebatte(vgl. Merten 2002 und Nuss / Heinrich 2002). Aber gerade die Keimformdebatte zwischen den freien Softwareentwicklern des Projekts Oekonux und den beiden marxistischen TheoretikerInnen Sabine Nuss und Michael Heinrich verdeutlichte, dass die Diskussion über die Form der Produktion des Wissens noch am Anfang steht. Die Produktionsbedingungen freier Software weisen in der Regel nicht über die bestehende kapitalistische Form der Warenproduktion hinaus, weil die gemeinsame Arbeit oft auf selbstausbeuterischen Bedingungen fußt. Nuss und Heinrich kritisieren diese romantischen Vorstellungen der Keimformvertreter zurecht.

Die Community der freien Software-Entwickler ist zwar nicht die kommunistische Vorhut, für die sie sich selbst manchmal hält. Aber indem sie das eigene Arbeitsprodukte der Gesellschaft zur Verfügung stellt, andere auf ihre Ergebnisse zurückgreifen und diese weiter entwickeln lässt, schafft sie nicht nur gute Produkte. Sie zeigt ganz praktisch: Die freie Assoziation der Produzenten kann der Produktion unter den Bedingungen der privaten Verfügungsgewalt überlegen sein. Das genuin Revolutionäre daran ist demnach, dass sie ähnlich wie die ersten bürgerlichen Manufakturbesitzer im Schoßsse der alten Gesellschaft passendere und effektivere Produktionsverhältnisse ausbrütet, schließlich ist die unter Open Source und General Public License (GPL) produzierte Software ist oft gleichwertig oder besser als die ihrer kommerziellen Konkurrenz. Während die Manufakturbesitzer damals den (doppelt) freien Menschen benötigten und daher Leibeigenschaft bekämpften und Bürgerrechte forderten, richten sich moderne Wissensproduzenten gegen den privaten Besitz des Wissensprodukts, indem sie gegen Urheberrechte und Patente kämpfen.

Über die Frage, wie die in der freien Software-Produktion bereits erfolgreich eingeübten Produktionsprozesse, Rechtsformen und Distributionsregeln auf stofflichere und kapitalintensivere Produktionen ausgeweitet werden können, wird bereits in der Debatte um die Commons-based Peer Production diskutiert. Auch wenn mancher Vorschlag vor dem Hintergrund der Komplexität nationaler und internationaler Volkswirtschaften naiv anmutet, zeichnen ihre Vorschläge doch das Bild einer vernetzten und selbstbestimmten Ökonomie, in der die Dominanz zwanghafter Profiterzielung gebrochen ist (vgl. Siefkes 2009: 252ff). Und so wundert es auch nicht, dass Spiegel-Online ironiefrei während der Opelkrise forderte „Lasst Google Autos bauen“ – es gibt kein Argument dafür, die Erkenntnisse aus aerodynamischen Studien und energiesparenden Motoren nicht Open Source zu stellen.

Andere Aneignungspraxen im Web sind zwar scheinbar unpolitisch, aber ihre Radikalität der Negierung des Privateigentums in seiner Form als Urheberrecht findet kaum vergleichbare Beispiele in klassischen sozialpolitischen Auseinandersetzungen. Die Totalüberwachung des Internets ist weder mit Kinderpornografie (konservatives Argument) noch mit Aufstandsprävention (linke Illusion) zu rechtfertigen. Der Grund der Überwachungsmaßnahmen dürfte vielmehr in der massenhaften Missachtung "geistigen Eigentums" durch die User begründet liegen – Diebstahl muss im Kapitalismus eben geahndet werden. Der Widerstand, der sich gegen diese Form der Überwachung richtet, ist vielfältig und mittlerweile sogar in Form der Piratenpartei wählbar.

Dass die Produktion des Wissens zunehmend in Widerspruch mit dem Urheberrecht gerät, zeigt sich auch an anderen Beispielen. Nicht nur, dass Wikipedia als Enzyklopädie anderen Informationsquellen in Aktualität und Umfang den Rang abgelaufen hat, auch der Zugang zu wissenschaftlichen Fachartikeln wird durch teurer werdende Fachpublikationen und der Einschränkung des Rechts auf elektronische Kopien immer schwerer. Wissenschaftler fordern bereits gesetzliche Regelungen zum „Open Access“ und eine kostenfreie Veröffentlichung von Forschungsergebnissen, die mit öffentlichen Geldern gefördert wurden. Auch die Deutsche Forschungsgesellschaft (DFG) kündigte jüngst eine Open-Access-Initiative an, die Forschungsergebnisse frei zugänglich machen soll und der Leiter der Bibliothek der Universität Harvard forderte gleich die Verstaatlichung von Googles Buchsuchdienst (vgl. FAZ v. 14.10.2009).

Sinnlose Verbindung: Arbeit und Eigentum

Für die Linke ist die politische Auseinandersetzung um die Rechtsform des Wissens auch aus einem weiteren Grund bedeutsam, solange sie noch im klassischen Eigentumsbegriff John Lockes gefangen ist: Eigentum wird als Ergebnis von Arbeit gedacht, die prinzipiell allen Menschen gehörende Natur durch Arbeit angeeignet. Durch Arbeit erwirbt der Mensch sein Recht an seinem Arbeitsprodukt. Entsprechend wird die Kritik am Kapitalismus vorgetragen: Der Arbeiter erhalte nicht den vollen Lohn seiner Tätigkeit. Gegen diese Ungerechtigkeit wird aufbegehrt - der volle Lohn soll es sein. In der Kritik des Gothaer Programms wandte sich bereits Marx gegen diese Gerechtigkeitsvorstellung, weil sie in einem bürgerlichen Rechtshorizont befangen sei, und setzte ihr seine Vorstellung von Gerechtigkeit entgegen: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“

Die Parole „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ verträgt sich nicht mit Marx' Gerechtigkeitsvorstellung, denn ihm ging es um die Trennung von Arbeit und Eigentum. Marx sieht, dass jederR gesellschaftliche Arbeit verrichtet (ob in der Produktion oder in der Reproduktion) und dass die Gesellschaft verpflichtet ist, für die Befriedigung der Bedürfnisse jedes Individuums zu sorgen. Die Open-Source- und GPL-Bewegung oder offene Enzyklopädien sind dementsprechend auch hier Vorbild: Die Trennung von Arbeit und Eigentum ist hier bereits praktisch, das Produkt der eigenen Arbeit wird nicht mehr als privates Eigentum verstanden. Im Gegenteil, das Eigentumsrecht am Produkt wird so gestaltet, dass es kollektives Eigentum bleibt. JedeRr arbeitet nach seinen Fähigkeiten, jederR konsumiert nach seinen Bedürfnissen.

Aus dem Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit haben sich bisher nur politische Praxen entwickelt, die entweder einen sozialpartnerschaftlichen Kapitalismus hervorgebracht haben oder – Lenin hatte dieses Dilemma früh erkannt und mit einer Praxis der Avantgarde beantwortet – zum autoritären Sozialismus führten. Eine transformatorische Linke muss den aus der Wissenproduktion erwachsenden Widerspruch aufgreifen und ihn mit der Aufhebung des Zusammenhangs von Arbeit und Eigentum verbinden. Nur so hat sie die Chance, aus dem Stellungskrieg zwischen Kapital und Arbeit auszubrechen. Statt einem bürgerlichen Gerechtigkeitsideal nachzuhängen und statussichernde, ausgrenzende und patriarchale Sozialfürsorgesysteme zu verteidigen, muss sie für ein bedingungsloses Grundeinkommen streiten. Auch in anderen Bereichen werden Modelle erdacht, die auf eine Trennung von Arbeit und Einkommen, von Bezahlung und Konsum hinauslaufen: Beispiele sind die Kulturflatrate, kostenloser ÖPNV und Kommunikation.

SelbstverständNatürlich darf die klassische soziale Frage nicht aus den Augen verloren und das "Revolutionäres Subjekt" (früher: Fabrikarbeiter, heute: Biochemikerin) nicht einfach ausgetauscht werden. Bezöge sich der Kampf nur auf die neue Elite des Proletariats, würde er Gefahr laufen, nur eine neuerliche Modernisierung des Kapitalismus anzustoßen. Eine Transformation kann aber nur emanzipatorisch und anti-avantgardistisch als Zusammenschluss zwischen hochqualifizierten WissensarbeiterInnen und klassischen LohnarbeiterInnen gedacht werden, weil sich der Kampf um gesellschaftliche Veränderung hin zu einer Gesellschaft der freien Assoziation auf alle beziehen muss. Ganz pragmatisch muss die sozialstaatsorientierte Linke zudem als Bündnispartner gewonnen werden, weil die Produktion von Wissen nur einen (allerdings wachsenden) Teilbereich der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens ausmacht, weshalb die sich in diesem Bereich entwickelnden Widersprüche alleine noch kein transformatorisches Potential werden entfalten können.

Neue Verbindung: Wissen und Arbeit

Die Verbindung der aus dem Kapitalverhältnis erwachsenden sozialen Ungerechtigkeit mit denm aus der Produktion des Wissens entstehenden Widersprüuchene eröffnet der Linken vielfältige Perspektiven und entfaltet vielleicht sogar transformatorisches Potential: Die soziale Ungerechtigkeit im Kapitalismus ist evident. Das Wissen um sie hat ihn nicht gefährdet. Wenn es aber nun gelingt deutlich zu machen, dass die gesellschaftliche Produktion des Lebens als freie Assoziation der Menschen wirklich zu organisieren ist und dass die Keimformen hierzu bereits entwickelt werden; dass Wissen nur dann sein Potential entfalten kann, wenn es der ganzen Gesellschaft ungeteilt zur Verfügung steht; dass Privateigentum und Konkurrenzwirtschaft die ökonomischen Potentiale eingrenzen und nicht mehr freisetzen – kurz: wenn die Menschen also wieder die Veränderbarkeit der Welt für möglich halten, weil sie die Bedingungen der neuen sich im Schoße der alten entwickeln sehen und die Grenzen des Bestehenden offenbar geworden sind, dann wäre die wichtigste Voraussetzung für eine Gesellschaft, in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist (Marx), bereits vorhanden: Das praktische Wissen zur Neugestaltung der Welt.

Literatur:

Merten, Stefan (2002): Eigentum und Produktion am Beispiel der freien Software. Online: http://www.oekonux.de/texte/eigentum/index.html [31.3.2010] .

Molgen, Eben (2003): The dotCommunist Manifesto, Online: http://emoglen.law.columbia.edu/publications/dcm.html [31.3.2010].

Nuss, Sabine / Heinrich, Michael (2002): Freie Software und Kapitalismus, erschienen in: Streifzüge 1/2002, S.39-43. Online: http://www.oekonomiekritik.de/504Nuss-Heinrich.htm [31.3.2010].

Siefkes, Christian (2009): „Ist Commonismus Kommunismus? Commonsbasierte Peer-Produktion und der kommunistische Anspruch."; in: Prokla Nr. 2/2009.

[1] Vgl. Schirrmacher, Frank, Aufstieg der Nerds, Die Revolution der Piraten, in: FAS v. 21.9.2009.


Dieses Essay unseres Redaktionsmitgliedes Thomas Lohmeier erschien im Buch zur 10. Linken Medienakademie "Linke Kommunikation - Kommunikation mit links?", das im VSA Verlag Hamburg erschien.

Rotrotgrünes Geschwafel beenden!

Beitrag von Jörg Schindler, geschrieben am 25.07.2010

Andere Zeitungen orakeln schon länger drumherum, jetzt hat es auch die "Zeit" zum Thema gemacht: "Die junge Generation" von SPD, LINKE und Grünen bandele miteinander an: "Der Mix des Sommers" heißt der Beitrag, und auch auf den "flotten Dreier" der aktuellen Ausgabe unseres Magazins wird als Beleg verwiesen. Doch mit der Realität haben diese Orakel nicht viel zu tun. Denn: 2013 wird es so kein rot-rot-grün geben.

Kreml-Astrologen auf der Suche

Die "Zeit" versucht sich hierbei in der bewährten Kreml-Astrologie-Methode: Irgendwer hat irgendwas mit anderen Worten als im Parteijargon gesagt, schon gilt er als "neue" oder "junge Generation", steht gegen die "Betonköpfe" der Parteiapparatschiks. Fertig ist die Story von Kabale und Liebe in der Linken.

Schwafelpapiere um den heißen Brei

Das ganze Zeitungsgeschreibsel um die rot-rot-grünen - ach nee: "R2G" heißt das ja jetzt, weiß die "Zeit" - Generationenverschwisterungen hat natürlich mit ernsthafter politischer Analyse nichts zu tun. Den Grund dafür liefert das Blatt gleich frei Haus mit, und man fragt sich, ob ihr nicht der Widerspruch direkt aufgefallen ist:
Denn diese "junge Generation" schwafelt. So schreibt die "Zeit" selbst über das Papier der Oslo-R2G-lerInnen: "Dem ungeübten Auge bietet sich wenig Kantiges, Eckiges, was bei den jeweiligen Parteispitzen Anstoß erregen könnte; mehr so das Übliche".

Genau das ist das Problem: Einerseits ist klar, dass zwischen SPD, Grünen und Linken mehr klafft als ein großes Missverständnis. Die Differenzen sind klar und nicht klein: Hartz IV, Afghanistan, Europa, NATO, Rente. Andererseits ist klar, dass diese Punkte nicht über Sprachregelungen, Formelkompromisse und ähnliche verbale Nettigkeiten einzuebnen sind.

konkrete Reformen oder abstrakte Lyrik

Wer es doch tut, belügt mindestens sich selbst. Und tut auch "R2G" letztendlich keinen Gefallen. Sondern hier muss "Butter bei die Fische". Deshalb seien an alle, die ein rotrotgrünes 2013 gar nicht erwarten können, folgende Fragen zur Beantwortung gestellt:

  1. Auf welchen Betrag will "R2G" den HARTZ-IV-Regelsatz erhöhen? Oder ist das "Alimentierungsgesellschaft", die man nicht will?
  2. Soll das Ehegattensplittung endlich abgeschafft werden oder sind das die "Werte von Familie", die man "neu definieren" will?
  3. Wann kommt die rotrotgrüne Rente mit 62 für alle?
  4. Zieht "R2G" ab 2013 die deutschen Truppen aus dem Ausland ab oder nicht? Oder sind sie eher Teil der "Verantwortung für Fragen des Nord-Süd-Ausgleichs, der Rolle der Vereinten Nationen und des Völkerrechts"?


R2G-Regierungen kommen und gehen. Verwaltung bleibt.

Das ist der Unterschied zwischen der "Veränderungslinken" und der "Verwaltungslinken": Eine Linke kann und darf die Antworten auf diese Fragen nicht der Interpretation der jeweiligen Parteivorsitzenden, der öffentlichen Medienmeinung oder der Ministerialbürokratie überlassen. Ohne klare und konkrete mobilisierungsfähige Ansagen an diese Agenturen der politischen Beharrung verfahren sie mit R2G regelmäßig so: Regierungen kommen und gehen, Verwaltung und BILD bleibt. Wenn Ullrich Deppendorf am Wahlabend 2013 nicht den klaren Wählerauftrag der Linkenforderung konstatieren kann, bleibt sie "Verwaltungslinke", wird sie Teil des moderierenden Lagers (siehe dazu hier).

Freundschaftsgeschwafel beenden, konkret werden.

Diese Fragen konkret - und nicht mit lyrischen Assoziationen zwischen Idealismus und Illusionen - zu beantworten, unterscheidet die "Veränderungslinke" also von der "Verwaltungslinken". Und deshalb sollte das rotrotgrüne papierne Freundschaftsgeschwafel dringend beendet werden.

Staatliche Herrschaft – ein blinder Fleck im Programmentwurf

Beitrag von Alex Demirović, geschrieben am 07.07.2010

„Die Linke“ handelt politisch in der Spannung, daß sie als parlamentarische Partei an Wahlen, an der öffentlichen Willensbildung und parlamentarischen Entscheidungen, also an der repräsentativ-demokratisch verfassten Staatsgewalt teilnimmt. Gleichzeitig zielt sie, dem neuen Programmentwurf zufolge, darauf, mittels Politik, gesetzlichen Regelungen und administrativen Maßnahmen alle gesellschaftlichen Verhältnisse zu überwinden, in denen Menschen ausgebeutet, entrechtet und entmündigt werden; grundlegende Veränderungen der herrschenden Eigentums-, Verfügungs- und Machtverhältnisse, Demokratie und Freiheit ohne Ausbeutung und Unterdrückung sind Ziel. Zu recht wird auf dem demokratischen Weg bestanden, dieses Ziel zu erreichen. Obwohl der Einschätzung des Staates durchaus eine wichtige Rolle zukäme, bleibt er im Programmentwurf eine Blindstelle. Das birgt zwei Gefahren für die Linke: die der Überschätzung, da der Staat überschätzt wird hinsichtlich dessen, was mit ihm erreichbar ist; die der Unterschätzung hinsichtlich seiner Gefährlichkeit.

Denn gerade als eine und vielleicht sogar die fürchterlichste Form der Machtausübung kommt ebenso wenig in den Blick wie andere Formen: das Recht, die Gefängnisse, die Medizin und Psychiatrie, die Wissenschaften, die Schulen und das Elternhaus.

Das Programm liest sich ökonomistisch, so, als seien nur der Kapitalismus, der Neoliberalismus, die Oligopole Herrschaft. Die Folge ist zu viel Vertrauen in den Staat. Das Verhältnis von Kapitalismus, Ökonomie, Markt und Herrschaftsverhältnisse auf der einen Seite und Politik, Demokratie und Staat auf der anderen Seite erscheinen als eine Art Nullsummenspiel. Wenn der Kapitalismus zu stark wird und sich entgrenzt, dann scheint dies zu Lasten der Politik zu gehen: die Staaten werden als „Geiseln der Vermögensbesitzer“ beschrieben. Deswegen muß nun gegengesteuert und der Kapitalismus erneut gefesselt werden. Es ist davon die Rede, daß die Dominanz des kapitalistischen Eigentums keine Vormacht mehr haben solle, die Renditefixierung zurück gedrängt werden müsse. So wird der Eindruck erweckt, als seien Politik, Staat und Recht nicht auch ihrerseits kapitalistisch. Aber seit Marx‘ Überlegungen zur „Judenfrage“ gehört es zu den kritischen Einsichten, daß die Trennung des Allgemeinwohls vom egoistischen Individualinteresse, der Gegensatz von Einzelnen und dem vom Staat verkörperten Gesamtinteresse, die Verselbständigung der Gattung gegenüber den Individuen, selbst ein wesentliches Merkmal moderner Herrschaft ist. Alle bisherigen Versuche der Demokratie waren nur Flickschusterei, diese Kluft notdürftig zu überbrücken. So ist der Konflikt auf Dauer gestellt, daß alle gesellschaftlichen Gruppen versuchen müssen, ihre jeweiligen Sonderinteressen als Allgemeinwohlinteressen zu propagieren und alle anderen dagegen immer Protest anmelden. Demokratie bleibt so grundsätzlich gefährdetes Projekt.

Die Abtrennung der Politik von der Gesellschaft, die Herausbildung des bürgerlichen Rechtsstaats, die Erfolge der sozialen Bewegungen, der staatlichen Herrschaftsorganisation Kompromisse aufzuzwingen und ihn demokratisch und sozial zu verfassen, sind große Schritte der Emanzipation gewesen. Doch diese Emanzipation ist gleichzeitig mit engen Grenzen für die gesellschaftliche Selbstbestimmung und Demokratie versehen worden. Das staatlich definierte Allgemeinwohl ist vorrangig das der Kapitaleigentümer. Der Staat organisiert die Kompromisse zwischen diesen und den vielfach der Macht Unterworfenen, er organisiert aber vor allem den Ausgleich zwischen den verschiedenen Kapitaleigentümergruppen, so daß sie nicht befürchten müssen, gegenüber den anderen benachteiligt zu werden: bei Steuern, Subventionen, Sozialstandards, Infrastrukturen oder Zugang zu kostenlosen Gemeingütern wie Sicherheit, qualifizierten Arbeitskräften oder Forschungsergebnissen. Welche der Eigentümergruppen sich bei der Definition der staatlichen Aufgaben, dessen, was als öffentlich gilt, durchsetzt, ist Gegenstand vieler Konflikte und veranlasst die herrschenden Kräfte, Bündnisse mit Gruppen der Bevölkerung einzugehen. Aber mit der transnationalen Akkumulation von Kapital verlieren solche Kompromisse auf nationalstaatlicher Ebene an Bedeutung. Machtvolle Entscheidungen verschieben sich auf die informellen Governance-Mechanismen der europäischen oder globalen Ebene. Diese politisch-staatlichen Kräftekonstellationen bleiben im Programm unbestimmt.

Wenn nun auf politischem Wege neben der privaten andere Eigentumsformen verstärkt durchgesetzt werden: genossenschaftliche, staatliche, kommunale, öffentliche, Belegschaftseigentum, dann ist das zunächst unproblematisch. Denn diese Vielfalt haben wir schon längst. Ein dreifaches Problem entsteht wahrscheinlich, wenn vermehrt gesellschaftliche Ressourcen für solche neuen Eigentumsformen aufgeboten werden und sie zu ernsthaften Konkurrenten von Kapital werden. Sind sie auf Dauer ökonomisch mit global operierenden Unternehmen konkurrenzfähig? Es wird Widerstand und Versuche geben, solche Projekte scheitern zu lassen – wie ist damit demokratisch umzugehen? Es bedarf neben der gesellschaftlichen auch der staatlich verfassten Macht, die dazu beiträgt, solchen Formen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Demokratie Raum zu gewähren. Doch wie kann eine solche staatliche Macht erreicht werden? Vor allem, wie kann sie selbst demokratisch ausgeübt und kontrolliert werden? Demokratie aber bedeutet, daß in einem offenen demokratischen Diskussionsprozeß um Mehrheiten gerungen wird. Allein auf der Ebene von parlamentarischen Wahlen und Willensbildungsprozessen jedoch lassen sich solche weitreichenden Mehrheitsentscheidungen nicht dauerhaft absichern. Mehrheiten können heute dies und morgen anderes beschließen. Wenn die Beschlüsse schließlich die Form von Gesetzen annehmen, heißt dies noch lange nicht, daß in den öffentlichen Verwaltungen entsprechend gehandelt wird. Es bedarf also breit getragener Willensbildungsprozesse, die auf Transformation zielen. Deswegen stellen sich die Fragen nach den konkreten Transformationen, den möglichen Bündnissen, den konkreten Formen der demokratischen Beteiligung.

Auf diese Aspekte geht das Programm nicht ein, sondern beschwört den national verstandenen demokratischen Rechts- und Sozialstaat: es heißt, Rechtsstaat und Sozialstaat sollen eine Einheit bilden – aber das haben wir laut Grundgesetz schon. Weiter: Menschenrechte, Rechtsstaat, Demokratie und Sozialstaat sollen entwickelt werden. Das ist zu begrüßen, auch wenn der bislang bekannte Rechtsstaat mit seiner Blindheit für die einfachen Leute und seinen Repressionen oder der Sozialstaat mit seinen disziplinären Methoden nur bedingt zur Überwindung von Entwürdigung beigetragen haben. Sicherlich ist die Einführung von Volksentscheiden sinnvoll, auch wenn das letztlich nur Geringes an Demokratisierung bringt. Der Staat soll mittels Rahmensetzung und Kontrolle die Marktsteuerung unterordnen. Das alles bleibt im Rahmen des Gegebenen, ja, sogar an der Logik des Profits, also auch an den Folgen der Entwürdigung, wird festgehalten. Es stellt sich die Frage, wie sich diese Schritte der Bewahrung, Vertiefung und des Ausbaus des nationalen Rechts- und Sozialstaat zum ersten im Kontext transnationaler Kapitalakkumulation und staatlicher Herrschaftsausübung bewerkstelligen lassen und zweitens mit der sozialistischen Transformation verbinden. Ist das eine Unklarheit, eine widersprüchliche Zielsetzung, sind es Phasen im Prozeß der Emanzipation? Das Programm will viel und bleibt dennoch an relevanten Punkten einseitig und vage. Überzeugen und Fortschritt bringen wird es am Ende nur, wenn die Leute wissen, auf welche Risiken sie sich einlassen, wenn sie in ihrer Unzufriedenheit und in ihrem alltäglichen Widerstand die Vorschläge der Linken aufnehmen, und wie sie so bewältigt werden können, daß hinterher nicht alles schlechter gewesen sein wird.

Staatliche Herrschaft – ein blinder Fleck im Programmentwurf

Beitrag von Alex Demirović, geschrieben am 07.07.2010

„Die Linke“ handelt politisch in der Spannung, daß sie als parlamentarische Partei an Wahlen, an der öffentlichen Willensbildung und parlamentarischen Entscheidungen, also an der repräsentativ-demokratisch verfassten Staatsgewalt teilnimmt. Gleichzeitig zielt sie, dem neuen Programmentwurf zufolge, darauf, mittels Politik, gesetzlichen Regelungen und administrativen Maßnahmen alle gesellschaftlichen Verhältnisse zu überwinden, in denen Menschen ausgebeutet, entrechtet und entmündigt werden; grundlegende Veränderungen der herrschenden Eigentums-, Verfügungs- und Machtverhältnisse, Demokratie und Freiheit ohne Ausbeutung und Unterdrückung sind Ziel. Zu recht wird auf dem demokratischen Weg bestanden, dieses Ziel zu erreichen. Obwohl der Einschätzung des Staates durchaus eine wichtige Rolle zukäme, bleibt er im Programmentwurf eine Blindstelle. Das birgt zwei Gefahren für die Linke: die der Überschätzung, da der Staat überschätzt wird hinsichtlich dessen, was mit ihm erreichbar ist; die der Unterschätzung hinsichtlich seiner Gefährlichkeit. (mehr)

Blättern:
Sprungmarken: Zum Seitenanfang, Zur Navigation, Zum Inhalt.