Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog

Arbeit, Arbeit, Arbeitsbegriff

Beitrag von Jörg Schindler, geschrieben am 25.12.2010

Die Programmdebatte der LINKEN gewinnt an Fahrt. Entgegen vieler Einschätzung dreht es sich bei den Kontroversen jedoch weniger um die - für linke Regierungsbeteiligungen wesentliche - außen- und militärpolitische Frage nach Bundeswehreinsätzen im Ausland. Offenbar rechnen hier die BefürworterInnen damit, innerparteilich verprügelt zu werden. Und hoffen wohl auf "bessere diskursive Zeiten". Statt dessen haben sich zwei Fragen in der Programmdebatte zum Zankapfel entwickelt: Inhaltlich die Frage nach der gesellschaftlichen Bewertung der Erwerbsarbeit durch DIE LINKE. Formal die Frage, wie die Programmdebatte zu führen ist - als ergebnisoffener, kontroverser Diskussionsprozess oder als stark vorstandsgesteuerter Prozess der Einschwörung der Partei aufs gemeinsame Strangziehen.

"Zementrührer" vs. "Wichtigtuer"

In gewisser Weise eskaliert ist der Konflikt (auch) an einem Interview unseres Redaktionsmitglieds Katja Kipping. Katja wirft der Mehrheit des LINKEN-Parteivorstands vor, sich auf ein männerzentriertes Bild der Erwerbsarbeit im Programmentwurf festgelegt zu haben und Anregungen der Bundesfrauenkonferenz zu ignorieren, die auf die notwendige Verknüpfung der Erwerbsarbeit mit den anderen Formen der Arbeit verweist. Damit verschiebe man letztendlich den Kampf gegen die Geschlechterdiskriminierung in der Arbeitswelt auf die postkapitalistische Zeit und falle so hinter die feministische Kritik der politischen Ökonomie zurück. Zudem sei der Stil, Änderungen im Programmentwurf erst auf dem Parteitag überhaupt zuzulassen, politisch autoritär.

Klaus Ernst hat postwendend geantwortet: Alles nur Wichtigtuer. Und die Bürgerpresse hat vom Konflikt rein nichts verstanden, dafür eine - eher willkürliche - Einordnung angeblicher "Realo-vs-Fundi"-Konflikte vorgenommen, wobei Klaus Ernst als auch Katja Kipping wahlweise mal Fundi, mal Realo/-a sind.

Nicht zu vergessen: Diverse KofferträgerInnen aus dem Apparat haben sich solidarisiert und gleichzeitig ihre Abscheu, Zorn, Wut und Empörung pawlow-like zum Ausdruck gebracht. Damit klar bleibt, wer "Die Guten" sind. Bemerkenswert ist auch die Schärfe der Wortwahl, die mit dem verhandelten Problem - jedenfalls inhaltlich - nicht konform geht.

Wozu der ganze Quark?

Vielleicht macht es daher Sinn, die Programmdiskussion und die Kontroverse um Arbeit nochmals an folgenden Prämissen auszurichten:

1. Programmdebatten sind keine "Parteibespaßung".

Es kann im Programmentwurf der LINKEN nicht darum gehen, die eigene theoretische Weltanschauung durchzusetzen und sich hieran selbst zu befriedigen. Ebensowenig geht es um eine innere Beruhigung der Mitgliedschaft durch wohlfeile Worte zum Sonntag. Sondern das Programm soll aufzeigen, was DIE LINKE als drängende Fragen unserer Zeit ansieht und welche grundsätzlichen Antworten sie darauf gibt, die in ihrer praktischen Politik Realität werden sollen. Deshalb sind Programmdebatten transparent und auch "an die Öffentlichkeit" gerichtet zu führen. Auch die Presse, von unserem kleinen Magazin bis zu BILD, ist Öffentlichkeit. Deshalb ist es weder ein Problem noch überhaupt vermeidbar, wenn Kontroversen zu Programmfragen über den Vorstand hinausdringen oder gar die Presse beschäftigen. Alle anderen Parteien wären froh drum. DIE LINKE und ihre Mitglieder und AnhängerInnen sollten es auch sein.

2. DIE LINKE ist - nach wie vor - eine Sammlungsbewegung.

(Nicht nur) die Programmdebatte zeigt: In der LINKEN finden sich sehr stark differierende Positionen, auch zu grundsätzlichen Fragen. Ob es uns passt oder nicht - DIE LINKE ist keine Partei mit kohärentem demokratisch-sozialistischen Weltbild. Sondern sie ist ein Bündnis aus ReformkommunistInnen, linken und verhinderten SozialdemokratInnen, undogmatischen und ex-dogmatischen Kleingruppenlinken, in vielen Bereichen verschiedenartig sozial engagierten Menschen, frustrierten Agenda2010-VerliererInnen, OstalgikerInnen, poststalinistischen TechnokratInnen, linken Spinnern und gescheiterten WeltverbessererInnen. Dies war bei Parteibildung allen Beteiligten klar, oder musste es zumindest sein. Ralf Krämer und Klaus Ernst, selbst Mitbegründer der WASG, haben zu Recht bis 2007 immer darauf bestanden, dass die Wahlalternative als Vorläuferin der LINKEN keine sozialistische Partei sei. Das kann jetzt - in der LINKEN - auch nicht anders sein. Schließlich sind die Aktiven trotz aller Klärungs-, Konsolidierungs- und Selbstbildungsprozesse keine ganz Anderen geworden. Über alles weitere wird daher immer wieder und fortlaufend zu reden sein.

3. Die Kontroverse um "Arbeit, 4-in-1-Perspektive, Grundsicherung/-einkommen und Vollbeschäftigung" kann nicht programmatisch sinnvoll entschieden werden.

Wenn man die These von der (fortdauernden) Sammlungsbewegung ernst nimmt, kann man nicht ernsthaft auf einer programmatischen Entscheidung dieser Frage beharren. Denn mit ihr sind ideologisch (derzeit) unvereinbare Grundpositionen berührt.

Auch in der prager-frühling-Redaktion gibt es um die Frage der Vollbeschäftigung und des Grundeinkommens verschiedene Auffassungen: Es gibt BefürworterInnen, SkeptikerInnen und KritikerInnen; hier nachzulesen. Es gibt in unserer Redaktion LINKEN-Mitglieder und solche, die es bewusst nicht sein wollen, es gibt Redaktionsmitglieder verschiedener Strömungszugehörigkeit. Abbruch hat dies weder der politischen noch der kulturellen Sympathie der Redaktion getan - warum sollte dies also in der LINKEN nicht gelingen? Notwendig ist allerdings eines - der Verzicht auf das Verdikt und die Fatwah, die verbale Exkommunizierung aus der Gruppe der Rechtgläubigen, der cholerische Anfall über eine veröffentlichte Position, die mitunter nicht der eigenen ganz so perfekt entspricht. Und: Wer wirklich sammeln will, muss nehmen, was er oder sie halt vorfindet.

4. Aus der Not eine Tugend machen. Vom Dissens zur pluralen Trias: Arbeitszeitverkürzung, Wirtschaftsdemokratie, Grundsicherung für alle.

Halten wir fest: Der Dissens zur Rolle der Arbeit, Erwerbsarbeit, zur feministischen Überwindung mittels 4-in-1-Perspektive und zu einem Grundeinkommen, ob bedarfsorientiert oder bedingungslos, ist nicht durch Beschluss entscheidbar. Kriterium der Wahrheit ist auch hier die Praxis: Erzwingt die Erosion der Normalarbeitsverhältnisse die völlige Neubegründung der sozialen Sicherungssysteme oder gar der Arbeitsverhältnisformen insgesamt? Oder gelingt der Linken die Reorganisation oder gar Wiedererrichtung sozialkorporativer Standards in der Arbeitswelt? Wir wissen es nicht.

Aber es ist möglich, dem Dissens eine praktisch-pragmatische Form zu geben. Daher folgender Vorschlag zur Güte, eine "Trias":

1. Die LINKE kämpft für die Möglichkeit einer Vollbeschäftigung für alle, die gesellschaftliche Teilhabe hieraus erzielen wollen. Es geht dabei nicht um eine Pflicht zur Arbeit, sondern um den einklagbaren Anspruch, Erwerbslosigkeit entgehen zu können. Konkrete Schritte hierzu sind: Arbeitszeitverkürzung, Sabbatjahre und Rechtsanspruch auf Fortbildung und geschlechterhalbierter Elternzeit bis 3 Jahre.

2. DIE LINKE kämpft für Wirtschaftsdemokratie und Mindestlohnregeln: Konkrete Schritte dazu sind die rechtliche Stärkung der Gewerkschaften, etwa in der Mitbestimmung und durch regionalwirtschaftsdemokratische Instrumente, einen Mindestlohn und Ausweitung der Tarifbindung auf alle wesentlichen gesellschaftlichen Bereiche durch Allgemeinverbindlichkeitserklärung.

3. DIE LINKE kämpft für eine sanktionsfreie individuelle Grundsicherung für alle in existenzsichernder Höhe, die sich - aus welchen Gründen auch immer - der Erwerbsarbeit entziehen wollen. Keine Situation und kein Verhalten rechtfertigt es, Menschen die Existenz dadurch zu bestreiten, dass ihnen die hierfür notwendigen finanziellen Mittel vorenthalten werden.

In der Vielfalt liegt hier die Kraft der neuen LINKEN.

Zugegeben - die Trias erfüllt nicht die Voraussetzungen ideologischer Kohärenz. Aber: Wer von den Streithähnen und -hennen, SittenwächterInnen und Blauband-ExegetInnen sich hierauf nicht einlassen will, soll sagen, warum.

Eine linke Geschichte

Beitrag von Petra Pau, geschrieben am 17.12.2010
Petra Pau

Im Sommer war ich wieder in Bayern, konkret im Allgäu, auch in der „Hut-Stadt“ Lindenberg. DIE LINKE hatte auf dem Marktplatz einen Stand aufgebaut. Ich kam ein Stündchen dazu. Am Rande gab es die üblichen Schaukästen: der Feuerwehr, des Heimatvereins, der örtlichen Parteien. „Wir laden Sie zu einer Filmvorführung mit anschließender Diskussion ein!“, stand in einem. Der Film, für den geworben wurde, heißt: „Die 4. Revolution!“

Ich kenne ihn. Ein Mitarbeiter meines Bundestagsbüros hatte gesagt: „Kommt alle mit. Den müsst ihr sehen. Dann werdet ihr merken, welche Seele dem Programm-Entwurf der Linken fehlt!“ Also fuhren wir in ein Berliner Szene-Kino. In den großen „Cinema-Centern“ lief er nicht. In Neukölln aber wurde uns die „Revolution“ exklusiv geboten. Ein Dokumentarfilm, der in den USA, in Europa, in Afrika und in Asien spielt.

Schnitt: Ein Dörfchen im tief-schwarzen Afrika, ärmlichste Verhältnisse, finster im Wortsinne und dann ein Lichtfest. Erstmals seit Menschengedenken erhellte dort eine Glühlampe den Alltag. Schnitt: Eine mittelgroße Stadt in Skandinavien. Sie ist inzwischen autonom. Alle Elektro-Energie, die sie braucht, produziert sie selbst. Schnitt: Ein US-Millionär führt den Prototyp eines Alternativ-Automobils vor. Der verbindende Schlüssel: Solar-Energie!

Schnitt: Der zuständige EU-Energie-Beamte erklärt eisern, warum Atom-Energie unverzichtbar sei. Stopp! Nachdenk-Pause! Wir haben nach dem Film zusammen gesessen, überlegt und diskutiert: Was wollte er uns nahebringen? Was davon ist realistisch? Die Kernbotschaft war: Die Ablösung der fossilen und atomaren Energie-Träger durch solare ist binnen drei, vier Jahrzehnten möglich, komplett und weltweit. Was für eine Vision!

Kann so eine Revolution aussehen? Windräder und Solardächer statt Generalstreik und Barrikaden? Womöglich Ja! Womöglich Nein! Im Programm-Entwurf der Linken wird eine „sozial-ökologische Wende“ gefordert. Lothar Bisky mahnte auf dem Programm-Konvent der Linkspartei in Hannover, selbige sei zu abstrakt formuliert, zu wenig mitnehmend. Das finde ich auch, das ist ein Grundmanko des Programm-Entwurfs.

Überhaupt erinnert manches an die programmatische Debatte der PDS anno 2002/2003. Die Partei stritt über Formulierungen. Zur selben Zeit hatte die „taz“ zu einem Kongress „Wie wollen wir morgen leben?“ geladen. Rund zweitausend Interessierte strömten damals ins Berliner „Haus am Köllnischen Park“. Viele hatten vordem (1998) auf Rot-Grün gesetzt und suchten nun nach einer Alternative, nach einer neuen Idee für neue Mehrheiten.

Eine (!) von rund 50 Diskussionsrunden war dem Programm-Entwurf der PDS gewidmet. Der Saal war überfüllt. Nicht von PDS-Mitgliedern, die ließen sich an zwei Händen abzählen. Prof. Michael Brie erläuterte seinerzeit die zentrale Idee des Programm-Entwurfs: Freiheit für alle! Und er schilderte, was er und die PDS-Programmatiker unter „Freiheitsgütern“ verstehen. 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer applaudierten.

Was aber überrascht heute am Programm-Entwurf der Linkspartei? Was fasziniert? Was könnte Hunderte, Tausende, Millionen anziehen? Was ist DIE linke Idee, die BILD empört und Massen ergreift? Mich langweilen die wehrhaften Gralshüter linker Texte. Mich bewegen die Halt suchende Bürgerinnen und Bürger, die fragen: „Wie können wir heute und morgen leben?“ Die gibt es überall. Und zunehmend werden sie ungeduldig.

Sie protestieren: in Stuttgart, im Wendland, in Berlin. Sie fordern mehr Demokratie, mehr Mitbestimmung. Sie alle wurden übrigens jüngst im Bundestag abgerammt. DIE LINKE hatte erneut einen Gesetzentwurf vorgelegt, der Volksabstimmungen auch auf Bundesebene vorsah. Die CSU, die CDU, die SPD und die FDP stimmten dagegen. Die Grünen enthielten sich einem klaren Ja oder Nein. Alles wie gehabt und wie gewesen.

Das tiefere Problem ist: Reformen im Politischen und im Parlamentarischen – DIE LINKE fordert sie – greifen zu kurz, wenn es um mehr Demokratie geht. Oskar Lafontaine ruft die Eigentumsfrage in Erinnerung. Sie sei der „archimedische Punkt“ im Programm-Entwurf der LINKEN, meinte er in einem „Rot-Fuchs“-Interview. Damit ist er bei Karl Marx. Das gefällt. Zu recht! Aber es wird eng, wenn damit der Staat als Eigentümer geheiligt wird.

Prof. Wolfgang F. Haug, ein profunder und international anerkannter Marx-Kenner, zog in seinem 1999 erschienen Buch „Politisch richtig oder Richtig politisch“ aus dem Debakel des sowjetischen Sozialismus-Versuches den Schluss: „Links ist alles Handeln, das Welt aus dem Reich des Privateigentums zurückgewinnt, ohne sie dem Reich des Staatsapparats auszuliefern.“ Wo, in der programmatischen Debatte der LINKEN kommt diese Idee vor?

Unstrittig dürfte sein: Der Kapitalismus hat den Feudalismus auch deshalb überwunden, weil er Energien entwickelt hat, die eine neue Welt ermöglichten: Kohle-Energien, Öl-Energien, Gas-Energien, Atom-Energien. Wer sie – ersatzlos – ausschalten wollte, knipste im weitesten Sinne das Licht aus. Ein modernes Leben ohne Energie ist unvorstellbar. Alles würde zusammenbrechen - oder gar nicht erst erblühen.

Das bedeutet auch: Wer die „Energien“ besitzt, herrscht über alles und kann alle beherrschen. Auch die Politik, wie jüngst demonstriert wurde. Ob die schwarz-gelbe Bundesregierung willig war oder erpresst wurde ist zweitrangig. Entscheidend ist: Sie hat die Monopol-Stellung der vier großen Energie-Konzerne hierzulande auf Jahre hinweg zementiert. Das war kein Atom-Deal, das war eine „Konterrevolution“, ein Verrat an der Zukunft.

Prof. Dr. Dieter Klein mahnte auf dem Rostocker Programm-Konvent im September 2010 sinngemäß: Die LINKE wird die soziale Frage langfristig nicht erfolgreich adoptieren können, wenn sie zugleich die Produktivkraft-Entwicklung rechts liegen lässt. Womit wir schon wieder bei Karl Marx wären. Und bei der Frage: Was ist konkret gemeint, wenn DIE LINKE einen „sozial-ökologischen Umbau“ fordert?

Wer mich kennt, weiß: Ich bin kein Öko-Freak, auch keine Öko-Freakin. Meine politischen Vorrang-Themen sind Bürgerrechte und Demokratie. Aber genau deswegen werbe ich für die „4 Revolution“. Eine radikale Energie-Wende, hin zu solaren Quellen, könnte allen kapitalen Kriegs-Gelüsten um die weltweit abnehmenden Gas-, Öl- oder Kohle-Vorräte den Boden entziehen. Sie wäre eine progressive Friedenspolitik im besten Sinne.

Eine radikale Energie-Wende, hin zu solaren Quellen, würde eine regionale und kommunale Selbstversorgung ermöglichen. Die Energie-Verbraucher wären ihre eigenen Energie-Produzenten. Kein kapitales Monopol-Interesse stände mehr zwischen ihnen. Sie könnten sich fremden Mächten entziehen und im eigenen Interesse entscheiden. Das wiederum wäre ein unglaublicher Zugewinn an direkter Demokratie, an Freiheit.

Und auch das schlüge zu Buche: „Die Sonne schickt keine Rechnung!“, heißt es. Stimmt. Die zunehmenden Erschließungs-Kosten für neue Öl- oder Kohle-Reste entfielen ebenso, wie die unkalkulierbaren Folge-Kosten für atomare oder CO2-Abfälle. Natürlich ist Solar-Energie nicht zum Nulltarif zu haben. Aber sie wäre ein gravierender Gewinn an gesellschaftlicher Effektivität. „Solar und solidarisch“, das wäre ein wahrlich „archimedischer Punkt“.

„Die 4. Revolution“ illustriert ein strikt antikapitalistisches Programm. Sie birgt Züge eines Demokratischen Sozialismus. Initiiert und kommentiert wurde der Dok-Film von Hermann Scheer, dem jüngst verstorbenen Träger des Alternativen Nobelpreises, Mitglied der SPD. Und die Einladung zum Kino-Abend mit Diskussion im Bayerischen wurde nicht etwa von den Grünen oder von der Linkspartei ausgehängt, sondern von der örtlichen CSU!

„Debattieren statt Durchregieren“

Beitrag von Redaktion, geschrieben am 13.12.2010
Durchregieren historisch: Ludwig I v. Bayern

Der prager frühling berichtet fortlaufend über den Stand der Programmdebatte in der LINKEN. In der vergangenen Ausgabe veröffentlichten Cornelia Möhring und Caren Lay Kritiken aus feministischer Perspektive. Nun wendet sich Katja Kipping dem Arbeitsbegriff des Programmentwurfs zu. Außerdem zum Mitmachen: die prager frühling-Umfage: The Best und the Schlechtst of Programmentwurf.

prager frühling: Der Parteivorstand (PV) hat an diesem Wochenende über den weiteren Verlauf der Programmdebatte beraten. Bist Du mit dem Ergebnis zufrieden?

Katja Kipping: Naja, fangen wir mal mit dem Positiven an: Es gab ein klares Votum dafür, im Programm deutlich herauszuarbeiten, dass das Patriarchat als Unterdrückungsverhältnis zu kritisieren ist und genauso überwunden gehört wie der Kapitalismus. Der Antrag dazu ging auf eine Resolution der Bundesfrauenkonferenz, die damals ohne Gegenstimme bei zwei Enthaltungen gefasst wurde, zurück.

pf: Soweit das Positive, warum guckst Du dann so verärgert?

Katja: Die Art und Weise, wie Klaus Ernst an die Programmdebatte herangeht, macht aus der Debatte eine Farce. Erst wurde die Mitgliedschaft aufgerufen, den Entwurf zu diskutieren. Viele haben sich die Mühe gemacht und Wortmeldungen verfasst. Formal sollen zwar weiterhin bis Ende März auch Wortmeldungen bei der Redaktionskommission eingereicht werden können. In der Praxis jedoch arbeiten er und Ralf Krämer darauf hin, dass alles, was nicht als konkreter Änderungsantrag formuliert wird, ignoriert wird. Einige verstehen unter Programmdebatte das Anrühren von Zement, damit möglichst nichts am Entwurf geändert wird. Wenn man die Programmdebatte auf das Stellen von Änderungsanträgen reduziert, wird die Chance vertan, in einer breiten Diskussion über unsere Vorstellungen vom demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten.

Bei der Abstimmung im PV wollte Klaus Ernst zudem am Ende einfach mit einem Abstimmungstrick verhindern, dass der Antrag zur Überarbeitung des Arbeitsbegriffes überhaupt abgestimmt wird. Da musste ich erst eine Auszeit beantragen, die er auch erst verweigern wollte, und auf Satzungsrechte hinweisen, die auch keine Mehrheit im PV nehmen kann. Am Tag zuvor demonstrieren wir gegen das Durchregieren vom CDU-Mappus bei Stuttgart 21. Und dann ist man auf einmal in der eigenen Partei mit Versuchen des Durchregierens konfrontiert.

pf: Was für ein Antrag war das genau, dessen Abstimmung ihr erst erkämpfen musstet?

Katja: Frauen aus unterschiedlichen Strömungen hatten einen Antrag eingebracht, in dem es u.a. hieß: „Der dem Programmentwurf zugrunde liegende Arbeitsbegriff ist zu erweitern, so dass er auch die Bereiche der Reproduktionsarbeit, der politischen Einmischung und der Selbstentwicklung umfasst.“ Dieser Antrag ging auf eine einmütige Resolution der Bundesfrauenkonferenz zurück. Die Abstimmung im PV zu dem Antrag fiel mit 16 Stimmen dafür, 19 dagegen und einer Enthaltung aus. Eine knappe Mehrheit im PV blockiert gegenwärtig eine Weiterentwicklung des Arbeitsbegriffes im Programm. Diese knappe Mehrheit ignoriert damit nicht nur das einmütige Votum der Bundesfrauenkonferenz, sondern auch die Debatte auf dem Programmkonvent in Hannover.

pf: Wieso? Auf dem Konvent gab es doch keine Abstimmung?

Katja: Ja, der Debattenverlauf dazu war jedoch eindeutig. Der Moderator des Workshops Arbeit und Soziales, Thomas Nord, hat folgendes Fazit gefasst: „Von den 24 Wortmeldungen im Forum 4 bezogen sich nur zwei positiv auf den im Programmentwurf verwendeten Arbeitsbegriff. Davon war eine die vom Autor Ralf Krämer. Die große Mehrheit des Forums teilt die Position des Frauenplenums zum bisherigen Programmentwurf. Eine unveränderte Neuvorlage dieses Programmteiles hätte mit Sicherheit erhebliches Konfliktpotential in der Partei. Eine Überarbeitung im genannten Sinne scheint mir sehr sinnvoll.“ Ich hab an dem Workshop teilgenommen und kann nur sagen, der Debattenverlauf war ein reiner Verriss des Arbeitsbegriffs im Programmentwurf.

pf: Was ist denn nun so schlimm an dem im Programmentwurf dominanten Arbeitsbegriff?

Katja: Problematisch ist, dass allein Erwerbsarbeit als Quelle von gesellschaftlichem Reichtum angesehen wird. So heißt es im Entwurf: „Die Grundlage für die Entwicklung der Produktivkräfte ist heute und auf absehbare Zeit die Erwerbsarbeit.

Statt mit Marx und dem zeitgenössischen Feminismus deutlich hervorzuheben, dass die kapitalistische Gesellschaft auf einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung beruht, die sowohl die Erwerbsarbeit als auch die Reproduktionsarbeit in Familie, Kindererziehung, Pflege sowie Engagement in der Zivilgesellschaft usw. erfasst.

Dank der Erhebungen des Statistischen Bundesamtes wissen wir zudem: Pro Jahr werden rund 96 Milliarden Stunden unbezahlter Arbeit erbracht. Das ist fast doppelt so viel Zeit, wie die bezahlte Arbeit ausmacht – namentlich 56 Milliarden Stunden. Allein vom Umfang her sind demnach unbezahlte Tätigkeiten die tragenden Säulen unserer Gesellschaft und nicht Erwerbsarbeit. Hinzu kommt: Nicht jede Erwerbsarbeit bedeutet automatisch Nutzen für die Gesellschaft. Denn auch Atombomben und Landminen und umweltschädliche Spritschleudern werden in Erwerbsarbeit hergestellt.

pf: Was waren denn die Argumente für die Erwerbsarbeitszentrierung?

Katja: Mehrere PV-Mitglieder meinten unisono: Sie wollen keine Vorfestlegungen ohne inhaltliche Debatte treffen. Ich meine jedoch, der gesamte Programmentwurf ist bereits eine inhaltliche Vorfestlegung. Insofern ist es auch legitim, sich zur Veränderung von Positionen zu verständigen. Außerdem läuft die inhaltliche Debatte dazu doch schon lange. Und dann gab es noch das Argument, man könne damit keinen Blumentopf gewinnen bei Wahlen.

pf: Und kann man?

Katja: Gegenfrage: Kann man mit dem Ruf nach Vollbeschäftigung noch Blumentöpfe gewinnen? Eine repräsentative Umfrage kam zu dem Ergebnis, dass in der linken Wählerschaft fast 90 Prozent der Aussage „Vollbeschäftigung für alle ist nicht mehr möglich. Ein Grundeinkommen für alle ist wichtig“ ganz bzw. eher zustimmen.

pf: Wie weiter? War es das jetzt? Bleibt jetzt die Erwerbsarbeitszentrierung im Programm der LINKEN?

Katja: Ganz und gar nicht. Zum einen wird der PV spätestens im Juli über den Leitantrag entscheiden, dann wird es um konkrete Änderungsanträge gehen. Wer will, kann gerne vorher mit dem PV-Mitglied seines Vertrauens noch mal Kontakt aufnehmen. Zum Zweiten: Das letzte Wort haben Parteitag und die gesamte Mitgliedschaft bei der Urabstimmung. Die Stimmung in der Partei ist eine andere, da haben einzelne Strömungsgurus die Debatte nicht so fest in der Hand wie im PV. Dafür sprechen auch verschiedene Beschlüsse in diese Richtung. So hat sich z.B. der Landesparteitag Thüringen (bei nur zwei Gegenstimmen) für eine Neubewertung der Arbeit ausgesprochen. Auch der Landesparteitag Niedersachsen hat sich für die Vier-in-einem-Perspektive ausgesprochen. Der Landesvorstand Sachsen hat sich bei nur einer Enthaltung dafür ausgesprochen, die verschiedenen Tätigkeitsbereiche gleichberechtigt zu würdigen. Deswegen bin ich zuversichtlich und freue mich auf die Debatte auf dem Bundesparteitag.

Bundespatenonkel in Bedrängnis

Beitrag von Redaktion, geschrieben am 09.12.2010

Am 2. Advent rotteten sich ein Dutzend Nazis auf dem Grundstück von Reinhard Knaak, linker Bürgermeister von Lalendorf in Mecklenburg Vorpommern, zusammen. Der Anlass: Knaak hatte sich geweigert einer rechtsextremen Familie die Urkunde für Patenschaft des Bundespräsidenten für das siebente Kind sowie ein Geldgeschenk von 500 Euro zu überreichen. Beides wird routinemäßig und auf Antrag überreicht. Geld und Urkunde kamen nun auf dem Postweg aus dem Bundespräsidialamt. Das Argument des Bundespräsidenten: Hier geht es um die Kinder — nicht um die Eltern. Klingt überzeugend?

Warum ausgerechnet die Nazis so scharf darauf sind, die Patenschaft des Repräsentanten eines ihnen verhassten Staates zu erhalten, mag daran liegen, dass das Tragen des Mutterkreuzes seit 1957 in Deutschland verboten ist. Die Traditionslinie ist im Bundespräsidialamt zwar nicht so beliebt — man verweist hier lieber auf Theodor Heuss als Vater —Entschuldigung — als Paten des Gedankens. Aber Fakt ist: Die Patenschaft des Bundespräsidenten für das siebente Kind ist ein anrüchiges Relikt. Im nationalsozialistischen Deutschland war das Mutterkreuz Propaganda für eine völkische Familienpolitik. Anders als heute, konnte der Antrag nicht selbst gestellt werden, es wurde vorgeschlagen, damit nicht die im NS-Sinne falschen Mütter beehrt würden. Ansonsten aber alles gleich: Antrag, Urkunde mit Unterschrift, feuchter Händedruck, fertig.

In der aktuellen Durchführungsverfahrung für die Verleihung der Patenschaft steht anders als in der Satzung des „Ehrenkreuzes für die deutsche Mutter“, nichts mehr davon, dass die Kinder „erbtüchtig“ sein sollen. „Deutsch“ und von den gleichen Eltern müssen die Kinder schon sein. Damit geht es also irgendwie doch um die Eltern. Den Kindern eines in Paraguay lebenden Deutschen, der die Vaterschaft für mehrere Kinder anerkannt hatte, wurde eine Patenschaft vom höchsten Deutschen — damals noch Horst Köhler — nämlich nicht zuteil.[1]

Wenn es Wulff mit seiner Erkenntnis Ernst ist, dass man Kinder nicht für ihre Eltern bestrafen soll, dann hätte er vor einigen Wochen einmal mit seinen Parteifreundinnen und –freunden sprechen sollen. Klar – im Flüsterton, schließlich soll der Präsident sich ja nicht in die Tagespolitik einmischen. Im Zuge des Sparpakets und der Neuregelung der Sozialgesetzbücher, geschah genau dies: Kinder werden in Zukunft für ihre Eltern in Haftung genommen. Bezieherinnen und Beziehern von Hartz IV wird das Elterngeld gestrichen und im sogenannten Bildungs- und Teilhabepaket aus dem Hause van-der-Leyen, werden die Jüngsten zu Gutschein-Kindern degradiert.

Darum sollte man zweierlei tun.

1) Die Patenschaft einfach abschaffen. Sie ist eine zweifelhafte Symbolpolitik und gefällt ohne hin nur den Falschen.

2) Sich auf den geeigneten Politikfeldern bemühen, dass Kinder nicht für Ihre Eltern haften.

Die Nazis haben sich das Mutterkreuz ausgedacht. Sie sind ein guter Anlasse die Relikte nationalsozialistischer Symbolpolitik in der deutschen Gesetzgebung zu beseitigen.


[1] Kein Anspruch auf Übernahme von Patenschaften durch den Bundespräsidenten, beck-aktuell, 26. Juli 2006.

Letzte Chance? Vorbei?

Beitrag von Kolja Möller, geschrieben am 03.12.2010

Die SPD Hessen sagt ja zur Schuldenbremse in der hessischen Verfassung. Das hat ein Landesparteitag am vergangenen Wochenende abgesegnet: Ein Beschluss mit bundespolitischer Bedeutung und eine schlechte Entscheidung für die gesellschaftliche Linke. Denn in Hessen will die Landesregierung aus CDU und FDP die Schuldenbremse in der Landesverfassung verankern und die Bürger_innen per Volksentscheid bei den Kommunalwahlen im März darüber entscheiden lassen. Es hätte also die Möglichkeit einer gemeinsamen Kampagne der gesellschaftlichen Linken gegen die Schuldenbremse gegeben, die weit über das Spektrum der Parteien und Gewerkschaften hinausgeht. Die Kommunen sind finanziell am Ende. Die Landesregierung spart die Universitäten und Schulen kaputt.

Und es hätte die einmalige Chance gegeben eine öffentliche Auseinandersetzung um die Frage zu initiieren, ob öffentliche Haushalte so funktionieren wie die Kaffeekasse einer Herren-Volleyballmannschaft. Ob jetzt die Schulden das größte Problem für die kommenden Generationen sind oder schlechte Schulen, Universitäten und fehlende Jugendclubs im Hier und Jetzt. Man hätte Veränderungen im „Alltagsverstand“ (Gramsci) erreichen und die neoliberale Hegemonie konfrontieren können. Politiker_innen von SPD, Grünen und LINKEN hätten in diesen Wintermonaten andere Schwerpunkte setzen können: Nicht im beheizten Büroraum darüber grübeln, ob im kommunalen Haushalt die Frauenberatungsstelle zu Gunsten des Jugendzentrums keine Zuschüsse mehr erhält oder umgekehrt, sondern mit Gewerkschafter_innen, Schüler_innen, Erwerbslosen und whoever gemeinsam von Tür zu Tür ziehen und Hessens Wahlberechtige gegen den Schuldenbremsen-Unsinn mobilisieren.

Denn dass das höchste Ziel der Fiskalpolitik der ausgeglichene Haushalt ist, ist keineswegs die allgemeingültige Wahrheit. Nur die neoliberale Schule – unter vielen Strömungen der Wirtschaftswissenschaften – hat den ausgeglichenen Haushalt zum Mantra erklärt. Andere Strömungen – etwa keynesianische Ansätze – haben mit guten Gründen ein anderes fiskalpolitisches Konzept. Die Neoliberalen waren seit den 1970er Jahren erfolgreich darin ihre ideologische Doktrin zur allseits geteilten Wahrheit zu machen. Mit der Schuldenbremse erlangt eine neoliberal ausgerichtete Fiskalpolitik Verfassungsrang. Das ist ein demokratischer Skandal: Darüber, was für eine Fiskalpolitik verfolgt wird, sollte in einer Demokratie doch eigentlich das Parlament entscheiden und nicht das Bundesverfassungsgericht. Bald kommt die CDU Hessens auf die Idee katholisch ausgerichteten Sexualkundeunterricht in ihre Landesverfassung zu schreiben. Irgendwie geht es dabei ja auch um die künftigen Generationen. Der Bundestag beschließt dann noch zusätzlich eine Politikbremse. Alle Beschlüsse in Landesparlamenten und Kommunen müssen in Übereinstimmung mit dem Parteiprogramm von CDU, FDP und den Erklärungen des Seeheimer Kreises in der SPD stehen, sonst sind sie verfassungswidrig. Auf diesem Wege kann man sich die Demokratie, den Streit zwischen links und rechts auch sparen.

Zurück zur SPD Hessen: Natürlich hatten die Befürworter_innen der Schuldenbremse nachvollziehbare Gründe. Wie so oft in der Geschichte der SPD hat sie hart mit der CDU verhandelt und dabei so einiges rausgeholt. Das Land soll auch für eine angemessene Einnahmesituation sorgen. Ein Riesenerfolg. Man sieht schon Volker Bouffier in einer großen Koalition mit der SPD in der nächsten Legislatur die Initiative für eine Vermögenssteuer ergreifen, um mehr Lehrer_innen einzustellen. Viel wichtiger ist wohl ein anderer Grund. Die SPD Hessen fürchtet sich davor im Kommunalwahlkampf von der CDU als Schuldenmacher diffamiert zu werden. Sie fürchtet Mandats- und Einflussverlust. An diesem Argument ist tatsächlich was dran. Bemerkenswert ist, dass die Frage, wofür man den so stabilisierten Einfluss zu nutzen gedenkt, nicht einmal mehr gestellt wird. Einfluss und Mandatsgewinn sollten zumindest für linke Parteien kein Selbstzweck sein. Und das Risiko der Niederlage gibt es nunmal für eine linke Politik in dieser Gesellschaft immer. Es dadurch zu minimieren, dass man sich den Neoliberalen andient, ist der falsche Weg. Die SPD schlägt die Chance aus einen sozialen und demokratischen Politikwechsel zu befördern. Hessen ist gegenwärtig der einzige Ort, von dem aus man die Schuldenbremse aussichtsreich attackieren kann. Und machen wir uns nichts vor: Ohne eine postneoliberale Fiskalpolitik – und das heißt in Zukunft leider: ohne Konflikt mit der Schuldenbremse als Verfassungsnorm – kann keine im starken Sinne linke Regierungspolitik stattfinden.

Geschlecht und Sexualität. Nur ein Nebenwiderspruch?

Beitrag von Klaus Lederer, geschrieben am 22.11.2010

Das Kapitalverhältnis – ein Machtverhältnis unter vielen? Kapital und Arbeit und Geschlechterverhältnisse.

Gegenstand des theoretischen Workshops war auszuleuchten, inwieweit mit der Konzentration auf das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit in der modernen kapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft Herrschaftsverhältnisse umfassend und richtig beschrieben sind. Der Entwurf des Parteiprogramms fokussiert stark auf eine ökonomistische Determinierung gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse. Wo haben da Geschlechterverhältnisse und feministische Gesellschaftskritik Raum?

In Eingangsbeiträgen stellten Caren Lay und Stefan Kalmring ihre Sicht auf die Dinge dar. Für Caren Lay macht sich die zu enge Perspektive des Entwurfs an der Reduzierung des Arbeitsbegriffs auf Lohnarbeit fest. Es sei zwar richtig, Geschlechtergerechtigkeit auch im (Lohn-)Arbeitsleben zu thematisieren. Die Diskriminierung der Geschlechter greife jedoch weiter, etwa bei der „Externalisierung“ von Reproduktionskosten in die Gesellschaft. Sie verwies auf die von Frigga Haug angemahnte Blickweitung über den engeren ökonomischen Produktionsprozess hinaus. Patriarchat, Rassismus und Heteronormativität sind eigenständige Unterdrückungsverhältnisse, die nicht einfach ein „Nebenwiderspruch“ oder eine Ableitung des Kapitalverhältnisses sind. Stefan Kalmring vertieft diese Kritik. Aus seiner Perspektive führt der Weg, den der Programmentwurf weist, nicht in eine radikaldemokratische Gesellschaftsveränderung. Er soll lediglich die Vollendung und Weiterentwicklung der bürgerlichen Gesellschaft (unter Modifikation von Produktivismus, Wachstumsfetisch, ökonomisches Rationalitätskalkül) bewirken. Individuelle und gesellschaftliche Befreiung werden nicht zueinander gebracht. Diese Verkürzung prägt auch den Blick auf Geschlechterverhältnisse. Die materielle Grundlage der bürgerlichen Geschlechterordnung wird nicht analysiert, anstelle von Emanzipation tritt folglich die liberale Gleichstellungsforderung. Konsequenterweise sind die Herrschaftsunterworfenen aus Sicht der EntwurfsautorInnen auch keine selbstbewußten AkteurInnen, sondern sie werden als Objekte und NutznießerInnen der Durchsetzung von für sie „stellvertretend“ formulierter und durchzukämpfender Forderungen betrachtet.

In der anschließenden Debatte wurde die Beziehung zwischen Kapitalverhältnis und anderen Unterdrückungsverhältnissen weiter herausgearbeitet. Das Klassenverhältnis als verdinglichtes Herrschaftsverhältnis prägt in dominanter Weise die gesellschaftliche Entwicklungsdynamik. In expansiver Weise treibt es die Inwertsetzung immer neuer gesellschaftlicher Sphären voran und verallgemeinert den Zwang zur Lohnarbeit. Insoweit trägt es auch die Tendenz in sich, andere historische Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse, die stärker personal geprägt sind, aufzulösen oder seinen Notwendigkeiten entsprechend zu modifizieren, zu überlagern und aufzugreifen, und als globales Herrschaftsverhältnis in einen globalen Zusammenhang einzupassen. Diese „Neukonfiguration“ erfährt auch das Geschlechterverhältnis. In der Verbindung der Kämpfe für Geschlechteremanzipation und sexuelle Vielfalt auf der einen und der Befreiung vom Lohnarbeitszwang können die verschiedenen Widersprüche und ihr Zusammenhang aufgegriffen und thematisiert werden. Kritik am Kapitalverhältnis und Kritik an anderen Herrschaftsbeziehungen stehen also nicht zusammenhanglos nebeneinander. Es gilt, die Zusammenhänge aufzudecken und damit ihre emanzipatorische Dimension wieder freizulegen, zu stärken und zu nutzen. Anschaulich wird das bei der Neuorganisation des Arbeitsmarktes, in der „neue Selbständigkeit“ und der Wert von Hausarbeit, freiwilligem sozialen Engagement, „Bürgerarbeit“ und informelle Ökonomie in der Überwindung der seit den 1970er Jahren anhaltenden strukturellen Verwertungskrise das Geschlechterverhältnis neu ordnen – durch Marginalisierung und Prekarisierung, durch Überwälzung gesellschaftlicher Kosten, gerade auf Frauen. Das hat durchaus Folgen für die emanzipatorischen Kämpfe, für neue Allianzen und Bündnisse, für eine Strategie der Gesellschaftsveränderung, die an den konkreten Lebensbedingungen der Menschen anknüpfungsfähig ist. Diesen Blick gilt es in das Programm einzubringen.

Verbrüderung

Beitrag von Thomas Lohmeier, geschrieben am 20.11.2010

Eine Volkspartei, wie gerne in den Medien über Bündnis 90 / Die Grünen getitelt wird, muss für alle da sein. Sie darf daher weder die Interessen der einen oder der anderen sozialen Gruppe bevorzugen, noch die des Klimas, der Wälder oder aussterbender Tierarten. Eine Volkspartei ist “Gemeinwohl-Partei” (so Parteichef Cem Özdemir) und muss für jeden etwas in ihrem Gemischtwarenladen im Angebot haben. Im Kapitalismus selbstverständlich insbesondere für “die Wirtschaft”.

So wird “der Wirtschaft” allerlei vom Parteichef versprochen: Auszubildende, die tatsächlich lesen, schreiben und rechnen können; Universitäten, die die besten der Welt wieder werden sollen und der Zuzug hochqualifizierter AusländerInnen, damit “die Wirtschaft” keine Engpässe an leistungsfähigem Personal erleiden müsse. Jedes Angebot, das weiß ein jeder in “der Wirtschaft”, hat natürlich einen Preis. Özdemirs Angebot jedoch ist für “die Wirtschaft” kostenlos. Wie kann das gehen?

“Und Ihr demonstriert Verbrüderung” singen Tocotronic in Freiburg, während Özdemir das Lied der Wirtschaft pfeift, wenn er vorschlägt, die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Natürlich nicht so einfach, wie es die große Koalition einst tat, als die SPD die Erhöhung der “Merkelsteuer” (SPD-Wahlkampfgetöse) um 3% mittrug. Özdemir ist schlauer: Er greift einen Vorschlag der vom Unternehmerverband Gesamtmetall finanzierten Kampagne der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) auf: Unter dem Label “Vereinfachung” will der den reduzierten Mehrwertsteuersatz von 7% für viele Produkte - im Gegensatz zum diesem neoliberalen Think-Tank will Özdemir Lebensmittel und Kulturgüter noch außen vor lassen - auf den regulären Satz von 19% anheben.

Da die Mehrwertsteuer nun einmal für Unternehmen kostenneutral ist und sie am Ende immer von den VerbraucherInnen bezahlt wird, wirkt sie als Flat-Tax. Alle zahlen, unabhängig von ihrem Einkommen und Vermögen, den gleichen Steuersatz auf die Waren, die sie konsumieren. Das gefällt natürlich den Besserverdienden, deren Partei einst die FDP sein wollte. So kommt es auch nicht von ungefähr, dass die CDU/CSU-FDP-Koalition unter Kohl von 1982 bis 1998 die Mehrwertsteuer von 13 % auf 16 % erhöhte, die Einkommensteuer reduzierte und die Vermögensteuer ganz abschaffte. Das Angebot der Grünen, diese Politik wieder aufzugreifen, wird “die Wirtschaft” wohl nicht ablehnen können.

Vor allem wird sie sich das Angebot auch deshalb genau ansehen, weil die FDP offenbar ihre Position zur Mehrwertsteuer überdacht hat. Bisher war dies die einzige Steuer, die die FDP ohne zu murren bereit war zu erhöhen. Das ist nun anders. Wir erinnern uns an die Reduzierung der Steuer auf Hotelübernachtungen. Sicherlich kann man zurecht fragen, warum ausgerechnet diese Dienstleistung vergünstigt wurde, aber es war trotz offenkundiger Lobbypolitik ein Schritt in die richtige Richtung: Die Mehrwertsteuer wurde nicht erhöht, sondern reduziert. Am besten würde sie aber gleich ersetzt, durch eine Ökosteuer auf umweltschädliche Produkte (Autos, Flüge, Benzin, Energie etc.), eine Erhöhung der direkten Steuern auf Einkommen und Erbschaften sowie durch die Wiedereinführung der Vermögensteuer. So würde Steuerpolitik auch wieder ihrem Namen gerecht: Als Instrument zur Steuerung der Gesellschaft. Steuerpolitik als Instrument eines ökologisch-sozialen Wandels, das wäre ein gutes Angebot des grünen Vorsitzenden an die Gesellschaft gewesen. Aber stattdessen ist offenbar im Volksparteirausch Verbrüderung mit dem Kapital angesagt.

„Kann die urbane Multitude streiken? Und wenn ja, wie?“

Beitrag von Bernd Hüttner, geschrieben am 10.11.2010

Prozesse von Gentrifizierung, also der Aufwertung und Umstrukturierung bestimmter Stadtquartiere sind in der alternativen und radikalen Linken in den letzten Jahren zum Thema geworden. Ein wichtiger Impulsgeber dafür war die Bewegung „Recht auf Stadt“ in Hamburg oder das Manifest „Not in our name, Marke Hamburg!“. Twickel hat nun einen launigen, eher kurzen Essay vorgelegt, der den geografischen Schwerpunkt „Hamburg“ hat. Er beschreibt den Umbau der Städte, die Verdrängung von MieterInnen und veränderte Strategien der Stadt- und Raumentwicklung und der lokalen Wirtschaftspolitik. Die wachsende, kreative Stadt bringt immense soziale Spaltungen und einen wachsenden Niedriglohnsektor mit sich, ebenso räumliche Segregation. Hier kommen nun politisch alternativ und kulturell Aktive ins Spiel. Sie bekommen leer stehende Gebäude zur Zwischennutzung, können so – selbstverständlich befristet - Immobilien für ihre Zwecke erhalten, die für sie auf dem normalen Markt nicht erreichbar wären. Sie werten damit diese Gebäude und Stadtteile kulturell auf, machen sie interessant. Sie organisieren ein tendenziell subkulturelles Programm, produzieren ein „positives“ Image und füllen damit den Krater, den der Rückzug des Wohlfahrtsstaates hinterlassen hat, teilweise wieder auf. Später fällt dann ein Teil dieser Szene dieser - von ihm selbst mitproduzierten - Aufwertung und Verdrängung zum Opfer, etwa wenn die Mieten steigen, weil kapitalkräftigere InteressentInnen in die Quartiere drängen. Damit im Zusammenhang, und Twickel wirft dieses Problem auf, steht die Frage: Wie kann man dagegen vorgehen? Wie kämpft man gegen etwas, was man selbst produziert? Die disparaten Milieus, die unter dem unscharfen Label „kulturelle Linke“ gefasst werden können, stellen sich diese Frage sehr wohl: So resultierte die Besetzung des bekannten Gängeviertels, die Twickel auch nacherzählt, genau der Absicht, sich dieser neoliberalen Indienstnahme dissidenter Praktiken zu entziehen. Ziel müsse es allerdings sein, so Twickel, den Finanz- und Immobilienmärkten die Macht über die Stadtentwicklung zu bestreiten.

Die Antwort auf die Frage: „Kann die urbane Multitude streiken? Und wenn ja, wie?“ bleibt Twickel schuldig. Sie kann wohl nur in zukünftigen Versuchen von Besetzungen und anderen sozialen Kämpfen gefunden werden.

Zum Weiterlesen:

http://www.rechtaufstadt.net
http://www.buback.de/nion


Glückwunsch, Polizeistaat!

Beitrag von Redaktion, geschrieben am 09.11.2010

Es ist vollbracht: Der Atommüll hat sein Ziel erreicht. Wieder einmal wurde der Müll der Atomkonzerne auf Kosten der Allgemeinheit - damit die privaten Gewinne der Atomkonzerne schön hoch bleiben, versteht sich - mit Gewalt ins Zwischenlager verschafft. Aber der Widerstand, der sich gegen den Transport richtete, macht Mut. Auch der neue Bürgerprotest, wie wir ihn auch bei Stuttgart 21 sehen, lässt hoffen, dass sich die Macht des Kapitals und ihrer unmittelbaren Interessenvertreter durch Protest und Widerstand wenn schon nicht überwinden, so doch begrenzen lässt. Mehr noch als Stuttgart 21 ist die Atomfrage eine zentrale Auseinandersetzung um Grundfragen der Gesellschaft: Sie ist eine ökologische Frage, weil sich anhand der Frage, wie wir die Gesellschaft ihre Energie gewinnt, langfristig eine Frage von Leben und Tod ist. Sie ist eine Frage der Ökonomie, weil ihre scheinbar geringen Kosten inklusive der Milliardengewinne für die Atomwirtschaft nur durch öffentliche Finanzierung der Atommülltransporte und Absicherung des “Restrisikos” gewährleistet werden können. Es gibt daher einen Zusammenhang zwischen den aktuellen Sozialkürzungen auf der einen Seite und den Subventionen für die Atomkonzerne auf der anderen Seite.

Die Atomfrage ist aber nicht nur eine soziale Frage. Sie auch Frage der Demokratie. Und dies nicht nur, weil der Kraftwerkbau, ihr Betrieb und die Atommülltransporte nur mittels des Polizeistaates durchgesetzt werden können. Der kürzlich verstorbene sozialdemokratische Umweltpolitiker Hermann Scheer beschrieb vor wenigen Monaten in diesem Magazin, wie mit Hilfe der Bauleitplanung der Bau kleiner dezentraler Kraftwerke zur Gewinnung erneuerbarer Energieträger verhindert wird. Scheer, wollte 2008 hessischer Wirtschaftsminister werden, um u. a. dieses Hemmnis zur Entwicklung der erneuerbaren Energie zu beseitigen. Es ist bekannt, mit welcher Macht die Atomindustrie zu verhindern wusste, das Hermann Scheer sein Amt antreten konnte.

An dieser Stelle sei aber auch ein Seitenhieb gegen die Grünen erlaubt. Sie tun so, als hätten sie während ihrer Regierungszeit den Atomausstieg durchgesetzt. Schon damals war allen Beteiligten klar, was passieren wird, wenn die schwarz-gelben Lobbyparteien wieder einmal an die Regierung kommen würden. Der rot-grüne “Atomausstieg” war halbherzig. Sie hätten damals einfach wie jeder/m AutobesitzerIn den AKW-BetreiberInnen eine Haftpflichtversicherung gegen das “Restrisiko” gesetzlich aufzwingen können. Mangels Versicherungspolice wäre die AKW fix vom Netz gegangen, weil selbst die ansonsten dem Geldverdienen nicht abgeneigte Versicherungsbranche das “Restrisiko” doch einmal zahlen zu müssen, nicht eingegangen wäre. Da hat der Generalsekretär der Atomlobbypartei CDU nicht ganz Unrecht, wenn er den GRÜNEN hier Doppelmoral vorwirft.

Der Protest gegen den Atomstaat war einmal wieder gewalttätig. Die Randalierer waren allerdings andere, als die von der BILD portraitierten. Nur ein Beispiel: Ein Redakteur des prager frühling brach sich den Arm, weil er von einem Polizisten eine 15m hohe Böschung herunter geschmissen wurde. Auch ein Gesundheitsrisiko der vermeintlich “friedlichen” Nutzung von Atomenergie. Wenngleich die Röntgenstrahlung im Krankenkaus Lüneburg weit weniger gefährlich ist, als die der Abfälle im Atomklo Gorleben.

Digitale Skelette oder lebendige Diskussion

Beitrag von Redaktion, geschrieben am 09.11.2010

Im aktuellen Schwerpunktheft des prager frühling war sie bereits Thema — liquid democracy, der Versuch mit moderner Kommunikations- und Vernetzungstechnik, politische Partizipation zu verwirklichen. Seit dem Wochenende ist nun die Website der LINKEN zur „elektronischen Programmdebatte“ online. Alle Personen, die sich an der Programmdebatte der LINKEN beteiligen wollen, können sich nun einloggen: Lesen kann jede und jeder, schreiben und abstimmen nur Mitglieder der Partei.

Ob dies wirklich der große Aufbruch ins digitale Zeitalter und die Realisierung einer offenen Diskussion ist, muss abgewartet werden. Hoffnungsvoll stimmt jedenfalls, dass während des Programmkonvents im First Life in Hannover einige für die LINKE bisher ungewohnte Töne zu hören waren.

Eigentlich war die Veranstaltung wenig zeitgemäß angelegt. Lange programmatische Reden von Parteigrößen und –größten; Aufrufe zu Einheit und Geschlossenheit. Also Dinge, die nicht den Eindruck erweckten, dass man noch kontrovers über den Programmentwurf diskutieren wollte. In den Arbeitsgruppen, ging es dann allerdings dann trotzdem hoch her. Und selbst in der ein oder anderen Grundsatzrede konnte man Überraschendes hören. Damit ist nicht Klaus Ernsts Versprecher, der abweichend vom Skript statt von einem „sozialen, demokratischen Wandel“, von einem „sozialdemokratischen Wandel“ für den DIE LINKE Motor sein müsse, sprach. (Minute 1:14) Vielmehr überraschte Lothar Bisky mit einer Thematisierung des verkürzten Arbeitsbegriffs im bisherigen Entwurf. Er betonte außerdem, dass sich der Schweiß gelohnt habe, den man in der Diskussion auf die Entwicklung eines Arbeitsbegriffs investiert hätte, der auch die Reproduktion umfasst. (siehe dazu auch die Artikel von Caren Lay und Cornelia Möhring im letzten Heft.) Ein bisschen Schweiß muss offenbar dabei sein, wenn es um Arbeit geht. Aber inhaltlich stellt diese Bemerkung einen großen Schritt nach vorn da.

Darüber hinaus bewies Bisky, dass Medienkompetenz keine Frage des Lebensalters ist. Er sprach sich deutlich für Open Access und Open Data in der Grundlagenforschung aus und thematisierte gleichzeitig die Kehrseiten Zweiklasseninternet, Netzsperren und Datenschutz.

Ob sich diese neue Offenheit für Aspekte elektronischen Lebens auch zu neuen Formen der Politik führen, wird sich zeigen. Denn die Erfahrung, dass auch die liquid democracy bestimmte Herrschaftsmomente nicht aufhebt, hat in unserem letzten Heft auch schon die Piratin Leena Simon preisgegeben. Bisher sind erst 14 Änderungsvorschläge auf der Liquid-Democracy-Plattform online. Einige muten eher skurril an. Von inhaltlichen Diskussion ist bisher nicht viel zu merken.

Lothar Bisky sprach zwar vom Skelett „digitaler Systeme“ auf dem politische Kommunikation und Auseinandersetzungen stattfinde. Man kann nur hoffen, dass die Elektronische Programmdebatte nicht als Datenzombie endet.

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