Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog

Die Debatte hat begonnen!

Beitrag von Norbert Schepers, geschrieben am 23.03.2010
Katja Kipping

Zum jüngst veröffentlichen Programmentwurf der Partei DIE LINKE hat Katja Kipping, Redaktionsmitglied beim prager frühling und stellvertretende Parteivorsitzende DIE LINKE, Stellung genommen.

Der von der Programmkommission der Partei DIE LINKE vorgelegte Programmentwurf enthält viele zu begrüßende Aspekte, z.B. das klare Bekenntnis zu Selbstbestimmung, die strategische Ausrichtung auf die Verbindung von parlamentarischer mit außerparlamentarischer Arbeit und die eindeutige friedenspolitische Ausrichtung. Aus sozialpolitischer Sicht jedoch muss dieser Entwurf dringend verbessert werden. So ist die Idee des demokratischen Sozialstaats, also die Begründung sozialer Rechte durch die Idee der Teilhabe aller an der Demokratie, im Entwurf komplett unterbelichtet. Vor dem Hintergrund des aktuellen Bundesverfassungsgerichtsurteils zu den Hartz-IV-Regelsätzen ist das besonders blamabel für DIE LINKE.

Der Text findet sich in der LesBar auf dieser Website:

Ebenfalls zu Wort gemeldet haben sich die beiden BundesprecherInnen der Emanzipatorischen Linken, Julia Bonk und Christoph Spehr, beide ebenfalls AutorInnen unseres Magazins.
Näheres auf der Website der Emanzipatorischen Linken.


Interview zum Prager Frühling

Beitrag von Kolja Möller, geschrieben am 16.03.2010

Wo steht das Magazin Prager Frühling zwei Jahre nach seiner Gründung? Wird es gelesen und wenn ja von wem eigentlich? Sind 5 Euro eigentlich ein viel zu hoher Preis für ein linkes Printmagazin?
Steffen Käthner von Radio Unerhört Marburg hat mit Thomas Lohmeier aus der Redaktion ein kleines Interview gemacht.

Den Tiger reiten!

Beitrag von Alban Werner, geschrieben am 07.03.2010
Alban Werner

Jörgs und Koljas Vorschläge für die Demokratisierung der Partei DIE LINKE kommen genau zum richtigen Zeitpunkt; sie sind hoch erwünscht, reagieren sensibel auf die Schwierigkeiten und Probleme, denen sich eine linke Partei mehr als alle ihre politischen KonkurrentInnen ausgesetzt sieht. Ich möchte diese Vorschläge nur ergänzen und in einem einzigen Fall kritisieren.

1) Politische Führung

Des Pudels Kern wurde schon angesprochen: Die LINKE ist und bleibt – eine Partei, d.h. eine Organisation mit verschiedenen Ebenen, die auf gut ausgebildete hauptamtliche Kräfte angewiesen ist, deren Kurs aber durch die hauptsächlich ehrenamtlichen FunktionsträgerInnen bestimmt werden soll. Allein aus diesem Umstand werden zwangsläufig immer Spannungsverhältnisse entstehen, die im schlechteren Fall zum „ehernen Gesetz der Oligarchie“ ausschlagen. Aber auch aufgrund der schieren Größe der Organisation braucht die LINKE unweigerlich etwas, das die vielen kleinen Politgruppen so nicht kannten, in denen viele West-Linke sozialisiert wurden: Politische Führung.

Eine Großorganisation kann nur durch ihr Führungspersonal wirksam handeln und wird auch in den unverzichtbaren Massenmedien nur über dieses wahrgenommen. Gerade weil die LINKE außerdem deutlich heterogener ausfällt als die Vorgängerpartei PDS, wäre eine nüchterne Diskussion umso dringlicher, welche Aufgaben eine Führung hier zu leisten hat. U.a. dadurch, dass diese Debatte versäumt wurde, aufgrund des Wahlmarathons der vergangenen zwei Jahre auch versäumt werden musste führte jetzt zu der völlig unzufrieden stellenden Nachfolgeregelung für Oskar Lafontaine und Lothar Bisky und den zeitgleich durchgesetzten Vorschlag für den neuen geschäftsführenden Parteivorstand.

2) Verbündete und Oligarchisierung

Nicht Weniger innerhalb der Partei hoffen darauf, dass Tendenzen zur Oligarchisierung durch ständige Nähe der Partei zu den sozialen Bewegungen effektiv blockiert werden können. Diese Hoffnung ist verständlich, aber hoch problematisch: Zum einen wird z.T. der Eindruck erweckt, DIE LINKE müsse selbstverständlich Forderungen mittragen, nur weil sie von bestimmten sozialen Bewegungen artikuliert werden. Diesen Eindruck zumindest konnte man während der Debatte um das Bundestagswahlprogramm gewinnen, als die Forderungstrias nach Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden pro Woche, Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von nicht unter 10 Euro und nach Erhöhung des ALG 2-Eckregelsatzes auf 500 Euro den Status einer heiligen Dreifaltigkeit verliehen bekam. Wer diese – insbesondere in den westlichen Landesverbänden – nicht fraglos übernehmen wollte, wurde schnell denunziatorisch mit dem Etikett bedacht, sie oder er wolle es sich auf der Regierungsbank neben der SPD bequem machen.

Der so aufgemachte Gegensatz zwischen „guter“ Bewegungsorientierung und „bösem“ Regierungssozialismus geht allerdings völlig an der Realität vorbei: Ein erheblicher Teil der sozialen Bewegungen, nicht zuletzt die Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbände sind nämlich erheblich „gouvernementalistischer“ als es viele selbsterklärte „Bewegungslinke“ wahrhaben wollen. Sie erwarten von der LINKEN, dass sie bei sich bietender Möglichkeit einen Regierungswechsel zu Rot-Rot oder Rot-Grün-Rot ermöglichen.

Strategisch ist die Ausrichtung, sich um eine Verankerung bei sozialen Bewegungen und Rücksprache mit ihnen zu bemühen, trotzdem richtig. Aber wenn man unter sozialen Bewegungen nicht nur das lose organisierte, dezidiert linke Spektrum derselben versteht, gewinnt man mit dieser Orientierung noch keine zuverlässige „Kindersicherung“ gegen opportunistischen Regierungssozialismus.

3) Den Finger in die Wunde legen…

Erstaunt hat mich, dass Jörg und Kolja in ihrem Papier die Rolle der Strömungen (offiziell: anerkannte innerparteiliche Zusammenschlüsse) im Hinblick auf die Oligarchisierung vollständig links liegen lassen. Dabei sind die Strömungen in den vergangenen Monaten innerhalb der Partei immer häufiger Gegenstand von scharfer Kritik geworden. Auf der Versammlung zur Aufstellung der Listenplätze zur NRW-Landtagswahl genügte für KandidatInnen schon das Bekenntnis, keinerlei Strömung anzugehören, um lauten Applaus zu ernten. Trotzdem wurden am Ende die meisten Plätze von StrömungsvertreterInnen besetzt. Die Landesgruppe der LINKEN aus NRW im Bundestag besteht gar komplett nur aus Strömungsmitgliedern (hier: von Antikapitalistischer Linke, AKL und Sozialistischer Linke, SL), obwohl beide zusammen einen einstelligen Anteil der Mitgliedschaft im Landesverband auf sich vereinen.

Hier tut sich ein Dilemma auf, dem weder mit populistischer Strömungsschelte, noch mit rhetorischer Kritikabwehr der Strömungen beizukommen sind. In einer großen, pluralistischen Organisation ist es unvermeidlich, dass sich Mitglieder in Richtungszusammenschlüssen organisieren; und es war ein großes Verdienst der LINKE-Vorläuferpartei PDS, als Lehre aus dem autoritären Charakter der SED die Pluralität in Form von Strömungen anzuerkennen und satzungsmäßig abzusichern. Das Problem liegt weniger in der Existenz der Strömungen schlechthin als darin, dass sie ihre ureigene Aufgabe nicht immer erfüllen, nämlich den unterschiedlichen und strategischen inhaltlichen Orientierungen innerhalb der Partei Ausdruck und Nachdruck zu verleihen. Strömungen sind immer davon bedroht, zu Karrierenetzwerken zu verkommen und sich nach außen hin abzuschotten. Dagegen helfen könnten zum Beispiel zwei Prinzipien:

Erstens sollten Strömungen ihre Funktion erst nehmen. Ähnlich wie in der Sozialistischen Partei Frankreichs lange praktiziert, sollten sie sich um inhaltliche Richtungsanträge im Vorfeld von Parteitagen oder Mitgliederbefragungen gruppieren. So würden die Debatte belebt und Diskussionen politisiert statt personalisiert. Die Strömungen sollten sich dementsprechend zuständig fühlen, kontroverse Meinungsbildungsprozesse innerhalb der Partei auf allen Ebenen organisieren- und erst auf dieser Grundlage sich berechtigt fühlen, Personalvorschläge zu machen.

Zweitens ist eine Selbstbeschränkung der Strömungen bei der Besetzung von Parteiämtern unverzichtbar. Die Strömungen sollten sich verpflichten, keinesfalls mehr KandidatInnen aufzustellen als für einen Anteil, der geringer ist als die Hälfte der zu vergebenden Ämter. Dann erscheint die Partei für das „ungebundene“ Mitglied nicht mehr als Beute der Strömungen; stattdessen können diese ihren Gebrauchswert für die Partei unter Beweis stellen.

4) Weniger ist mehr!

Nicht nachvollziehen kann ich Jörg und Koljas Vorschlag, die Beschränkung des MandatsträerInnen-Anteils im Bundesvorstand auf 50 % aufzugeben und dafür den ParlamentierInnen zu verbieten, Delegierte zu werden.

Warum nicht das eine tun, ohne das andere zu lassen? Wenn bis zu 50 % der GenossInnen im Bundesvorstand ein Mandat besitzen dürfen (und mit absoluter Sicherheit können wir davon ausgehen, dass dieser Anteil fast immer erreicht werden wird) ist die effektive Kommunikation zwischen Vorstand und Bundestagsfraktion zu keinem Zeitpunkt gefährdet. Umgekehrt ist aber davon auszugehen, dass bei Fallenlassen dieser Quotierung der Vorstand sich absehbar bald nur noch oder mehrheitlich aus MandatsträgerInnen zusammensetzte. Die Perspektive von Nicht-BerufspolitikerInnen hätte es dementsprechend immer schwerer, sich dort durchzusetzen. Schon jetzt haben alle GenossInnen, die durch Mandat oder Job bei MandatsträgerInnen im „Raumschiff Berlin“ beheimatet sind und nicht zu Sitzungen, Konferenzen oder konspirativen Vorbereitungstreffen extra aufwendig dorthin anreisen müssen, einen kaum ausgleichbaren strukturellen Vorteil gegenüber allen anderen.

Jörgs und Koljas Vorschlag, der Parteitag solle sachorientierter ohne charismatische Medienshow die Partei in Grundsatzfragen festlegen, ist richtig, beseitigt aber keinesfalls die in einer Großorganisation unvermeidlichen Principal-Agent-Probleme (im Politologen-Fachchinesisch: das Problem, wenn eine Person oder Gruppe eine andere Person oder Gruppe mit Aufgaben beauftragt, der Beauftragte aber ggf. vom Auftrag abweichende Interessen, zugleich aber höhe Sachkompetenz als der Auftraggeber hat). Sie abzumildern kann nur gelingen, wenn der Willensbildungsprozess zumindest in den Grundzügen an der Parteibasis vorbereitet und nachvollzogen wird, sprich: Mindestens über die wichtigsten Inhalte und Streitpunkt von Parteitagsinhalten muss auf Orts- und Kreisverbandsebene diskutiert werden, um dort Entpolitisierungsprozesse oder „kommunalpolitischen Kretinismus“ zu verhindern.

5) Schluss: „…kein Gott, kein Kaiser, kein Satzungsparagraph!“

Am Ende jedoch kommt es, ganz gleich wie viele institutionelle, „auto-paternalistische“ Schutzmechanismen man gegen die Oligarchisierung einzieht immer darauf an, welche politische Kultur innerhalb einer Partei effektiv etabliert wird, und ob die Parteimitglieder zu einer wachsamen, aber nüchternen Balance von Ver- und Misstrauen gegenüber ihrer politischen Führung finden.

Vertrauen ist nötig, damit sie nicht bei jedem Kompromiss oder Zugeständnis an die Realität von Mediengesellschaft und Parlamentsarbeit „Verrat“ schreien und pausenlos mit dem Instrument des Mitgliederentscheids mobilisieren. Misstrauen und Nüchternheit braucht es, damit in der politischen Kultur der Partei das Führungspersonal unterliegen kann, ohne dass – typisch Deutsch – der Untergang des Abendlandes ausgerufen wird („man kann doch nicht den Kanzler stürzen!“). Der dramatische Verfall demokratischer Kultur in der SPD zeigte sich ja nicht zuletzt darin, dass selbst politische Forderungen mit beinahe 90 % Zustimmung in der Mitgliedschaft wie die Vermögenssteuer auf Parteitagen regelmäßig abgelehnt wurden- ein Paradebeispiel für erfolgreicher Disziplinierung.

Erinnern wir uns mit Brecht daran, dass die Parteiführung langfristig immer nur so gut sein wird, wie sie durch den kritischen Stachel einer politisierten, aufmerksamen aber nüchternen, leidenschaftlichen, aber fairen Mitgliedschaft verpflichtet ihrem Auftrag bleibt:

Scheue dich nicht, zu fragen, Genosse!
Laß dir nichts einreden,
Sieh selber nach!
Was du nicht selber weißt,
Weißt du nicht.
Prüfe die Rechnung,
Du mußt sie bezahlen.
Lege den Finger auf jeden Posten,
Frage: wie kommt er hierher?
Du mußt die Führung übernehmen.

(Bertolt Brecht, Lob des Lernens)

Fünf Vorschläge für eine demokratische Partei

Beitrag von Jörg Schindler/Kolja Möller, geschrieben am 01.03.2010
Jörg Schindler

Der Soziologe Robert Michels entdeckte schon 1911 in seiner „Soziologie des Parteiwesens“ einen Charakterzug moderner Parteien: Das „eherne Gesetz der Oligarchie“. Eine zahlenmäßig nicht unansehnliche Kaste von Berufspolitikern, Mitarbeitern und Mulitfunktionären bestimmt den politischen Willensbildungsprozess in den parteipolitischen Massenorganisationen. Die traurige Wahrheit lautet: So läuft der Laden. Der Politikwissenschaftler Franz Walter beschreibt diese Kaste durchaus anschaulich als „politische Söldner“.

Kolja Möller

Alle Versuche das „eherne Gesetz der Oligarchie“ zu unterlaufen sind kläglich gescheitert. Selbst innerhalb der neu gegründeten Partei DIE LINKE wird zwar die Mitgliederbeteiligung und die Kritik an der etablierten Politik groß geschrieben, faktisch funktioniert die Partei allerdings wie jede andere Partei auch. Das liegt nicht nur an der Kaste der Berufspolitiker, die ein Interesse an der Wiederwahl und am möglichst reibungslosen Funktionieren der Dinge haben. Auch diejenigen, die sich für eine sog. „Basisdemokratie“ einsetzen tragen mitunter zur Verfestigung der Oligarchie bei: In eher nörgelnd-moralischen als konstruktiven Redebeiträgen setzen sie dem „ehernen Gesetz der Oligarchie“ einen ultrapartizipativen Modus gegenüber, der anfällig für informelle Herrschaft ist und der die Partei über kurz oder lang in die politische Handlungsunfähigkeit manövrieren würde.

Wer trotzdem an einer demokratischen Partei interessiert ist, sollte fragen, wie eine effektive Öffnung und Demokratisierung der innerparteilichen Willenbildung in Gang gesetzt werden könnte. Keine Aufhebung des „ehernen Gesetzes der Oligarchie“, sondern seine partielle Unterbrechung wäre das Ziel. Dazu fünf Vorschläge:

1. Mandatsträger und Berufspolitiker dürfen keine Parteitagsdelegierten werden

Im Gründungsprozess der Grünen als auch der LINKEN wurde sich immer wieder auf die Höchstquotierung der Vorstände mit MandatsträgerInnen kapriziert. So enthält – nach vielem Hin und Her – auch die Satzung der LINKEN eine Regelung, die einen 50%-igen Höchstanteil vorsieht. Gut gemeint, aber nicht gut gemacht: Die Erfahrung zeigt, dass dies die Oligarchisierung des Parteiwesens weder verhindert noch begrenzt, sondern allenfalls ein „Nebeneinander“ von Partei und Fraktionen schafft, schlimmstenfalls die Übertragung der Beschlüsse zu den Mandatierten sogar eher behindert.

Statt der Mandatsträger-Quotierung der Vorstände schlagen wir daher vor, dass die sie entsendenden Versammlungen, also die Parteitage bzw. Delegiertenkonferenzen, nicht mit MandatsträgerInnen oder deren MitarbeiterInnen besetzt werden dürfen. Denn bei Lichte betrachtet, sind Parteitage damit überfordert, unter den Bedingungen von Plenumscharakter, Zeitknappheit und Medienberichterstattung Beschlüsse so zu diskutieren, formulieren und durchzusetzen, dass sie bis ins Detail zur Ausführung gelangen. Faktisch bestehen (auch) Parteitage der LINKEN zu etwa 30-40% aus den Mandatierten selbst sowie von ihnen direkt abhängigen Personen, also MitarbeiterInnen von Partei oder Abgeordneten.

Wirksamer erscheint daher die Betonung der Aufgabe des Parteitags, politische Grundsatzentscheidungen treffen und diese folgend zu kontrollieren. Temporär könnte hierdurch das „eherne Gesetz der Oligarchie“ durchbrochen werden – eine Aussicht, die sicher einen höheren Selbstdisziplinierungseffekt anhand der vermuteten Artikulation der Parteibasis auf einem Parteitag auch bei den Mandatierten bewirkt. Es würde darum gehen die „Veto-Macht“ des Parteitags zu stärken.

2. Antragsdebatte in Arbeitsgruppen

Zur „Oligarchisierung der Partei“ gehört zudem die Inszenierung der Parteitage als quasi politische Theatershow: Markige Sprüche, effekthascherische Reden, rhythmisches Klatschen, „Sehen-und-gesehen-werden“ der Parteischikeria und ihrer Adlaten, taktisches small-talk an unbequemen Stehtischen, kostspielige Frikadellen und Antragsberatungen, bei denen das Ergebnis und sogar Zeit des Ergebnisausstoßes bereits vorher feststeht. Parteitage sind kein Willensbildungsort, sondern ein Partei-Rummelplatz.

Eine demokratische Vitalisierung der Partei erfordert eine politische Vitalisierung der Parteitage. Statt Inszenierung schlagen wir daher vor, Schwerpunktanträge zeitlich begrenzt in Arbeitsgruppen zu diskutieren und (sofern überhaupt erforderlich) die Ergebnisse erst am Ende zur Abstimmung durch den Gesamt-Parteitag zu stellen. Durch Arbeitsgruppenatmosphäre werden konstruktive statt plakative politische Diskussionen und im Übrigen auch „die einfachen Delegierten“ gegenüber den EwigrednerInnen, CheckerInnen und TaktikerInnen gestärkt. Der Parteitag könnte wieder verstärkt ein attraktiver Ort politischer Willensbildung nach innen statt gezielter „Einschwörung“ auf Einigkeit und Erfolg durch Parolenschleuderei werden.

3. Sachfragen per Mitglieder-Entscheid abstimmen/Web-Abstimmung

Zur Oligarchisierung des Parteiwesens gehört die Aufspaltung der Partei in „Führung“, Mittelbau der Aktiven und Mitgliederbasis. Während „die Führung“ in der Regel den Parteiapparat exekutiv dirigiert, bildet der Mittelbau, bestehend aus den Parteiaktiven auf Bundes-, Landes- und Ortsebene, hierfür die „interessierten Claqueure“. Meist ordnen sie sich politisch einem Teil der Führung als Stichwortgeber und pressure-group zu: Aus diesem Reservoir speist „die Führung“ oder ein bestimmter Teil das notwendige Führungspersonal in spe; und hieraus wird der innerparteiliche wie öffentliche Applaus abgerufen. Der Mittelbau bildet also quasi den Humus der Partei.

Demgegenüber bleiben all jene Mitglieder, aber auch AnhängerInnen der Partei aus der Willensbildung ausgeschlossen, wenn sie – aus welchen Gründen auch immer: Erwerbstätigkeit, Zeitknappheit, fehlende Möglichkeit oder Interesse kontinuierlicher Mitarbeit usw… - lediglich „einfache zahlende Mitglieder“ sind. Sie werden durch die Parteigliederungen lediglich als Geldeinnahmeinstrument, bestenfalls noch als Adressat innerparteilicher Meldungen, etwa zu Wahlzeiten, angesehen. Nicht umsonst sind reale Möglichkeiten der Partizipation gerade dieser Mitglieder und AnhängerInnen auch in der LINKEN dünn bemessen. Obwohl formal mit gleichen Mitwirkungsrechten ausgestattet, wird mit ihnen in der Alltags-Parteiaktivität nicht (mehr) gerechnet: Alle Gesichter erstaunen, falls tatsächlich ein einfaches Parteimitglied sich in die Versammlungen des Mittelbaus verirrt.

Ein Instrument, um diese dritte Ebene der Parteimitglied- und –anhängerschaft verstärkt einzubeziehen, ist der regelmäßige Mitgliederentscheid von bestimmten politischen Fragen. Technisch und finanziell ist dies in Zeiten der dritten industriellen Revolution, des Computers und der schnellen Datenübertragung kein Problem. Die dänische Linkspartei SF hat beispielsweise durch diese Mitgliederentscheide eine enorme (Re-)Aktivierung ihrer Parteibasis erreichen können. Den politischen Willen vorausgesetzt, könnte sich hierdurch Parteiführung und Mittelbau gezwungen sehen, mehr mit dem Umfeld der Partei zu kommunizieren.
Unseres Erachtens ist durchaus vorstellbar, dass die Entscheidung zu bestimmten Sachfragen durch die Parteibasis zu durchaus überraschenden Ergebnissen führen könnte – was mitunter eine anspruchsvolle Aufgabe für die politische Willenbildung auch in der LINKEN wäre; positiv wie negativ.

4. Personal- und Sachalternativen in Urabstimmungen/Vorwahlen

Analog zu der Entscheidung von Sachfragen per Mitglieder-Entscheid halten wir auch die Entscheidung von Personalfragen durch Urabstimmungen oder gar eigene „Vorwahlen“ für durchaus anti-parteioligarchisch. Obwohl Urabstimmungen auch in der LINKEN satzungsrechtlich möglich sind, werden sie bisher nicht eingesetzt. Wichtig ist dabei, dass Personalentscheidungen nicht „amerikanisiert“ als Personensympathie-Bekundungen inszeniert, sondern innerparteilich mit politischer Debatte und Auseinandersetzung, idealerweise mit einer politischen Sachfrage verknüpft werden. Letztendlich bildet dann die Urabstimmung die nahe liegende Verbindung zur Sachfragenentscheidung per Mitgliedervotum.

Zugleich würde mit der oligarchischen Unsitte gebrochen, jede Personalquerele als Seifenoper darzustellen und damit sich von vornherein den medialen Super-GAU zu geben. Also so: Es ist in der LINKEN normal und legitim, dass verschiedene politische Auffassungen auch in verschiedenen Personalvorstellungen ihre Entsprechung finden; und zwar transparent im Konsens /Dissens wie solidarisch im Umgang miteinander.

Denkbar wäre zu bestimmten eingegrenzten „gesamtgesellschaftlich bedeutsamen“ Fragen auch eine Ausweitung der Mitgliederentscheide zu Vorwahlen, also unter Beteiligung auch von AnhängerInnen ohne Parteibuch. Sie werden eingeladen mit abzustimmen, auch wenn sie nicht Mitglied der LINKEN sind. Nebenbei dürften sich in vielen Parteibüros durchaus spannende Diskussionen beim Abstimmungsprozess ergeben.

5. Auf allen Ebenen diskutieren: Demokratie ist mehr als: „wir hier „unten“ und ihr da „oben““

Statt auf immer wieder auf obskure Basisdemokratiemodelle zu setzen (Basisdemokratie ist, wenn ich besonders viel rede) und sie den „Parteioberen“ entgegen zu setzen, geht es um eine Öffnung der politischen Willensbildung in zwei Richtungen:

Zum einen sind konfliktive und mobilisierende Willensbildungsprozesse zu einzelnen Sach- und Personalfragen auszugestalten. Sind diese Prozesse gut vorbereitet, können sie zu einer Stärkung der Partei, ihres Zusammenhalts und zur Mobilisierung über die Parteimitgliedschaft hinaus beitragen.

Zum anderen gilt es aber auch, verhandlungsbasierte Willensbildungsprozesse in den gewählten Gremien zu intensivieren. Unterschiedliche Erfahrungen zeigen beispielsweise, dass die demokratische Qualität der Diskussion insbesondere auf den Vorstandsebenen am ehesten einen Austausch von Argumenten befördert. Dadurch, dass diese Gremien nicht im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen und mitunter geschlossen tagen, ist es für die Beteiligten hier auch noch stärker möglich, Argumente des jeweiligen Gegners zu würdigen, sich kontrafaktisch (also gegen etwaige Blöd-Verflachungen) zu verhalten und auch gemeinsam anerkennungsfähige Lösungen zu erzielen. Insofern stellt sich nicht nur die Frage nach oben oder unten, sondern auch der demokratischen Qualität der Diskussion.

All dies erfordert jedoch die Bereitschaft, innerparteiliche Diskussionen und Kontroversen sichtbar zu machen und strukturell auszugestalten: Nicht Konfliktverhinderung oder Konfliktentscheidung, sondern partizipatives Konfliktmanagement zwischen Konflikt und Konsens lautet das Zauberwort für eine linke Partei, die in sich und in ihrer Wählerschaft zu heterogen ist, als dass man den Laden dauerhaft nur im „Jargon der Eigentlichkeit“ („eigentlich“ wollen wir alle das Gute für Erwerbslose, Rentner, Migranten, Studenten, Schüler, Sportler, Kleinunternehmer, Köche, Lehrer, Beamte, also der Mehrheit usw.usf.) zusammenhalten könnte.

Fünf Vorschläge reiten den Tiger

Beitrag von Redaktion, geschrieben am 01.03.2010

Der Soziologe Robert Michels entdeckte schon 1911 in seiner „Soziologie des Parteiwesens“ einen Charakterzug moderner Parteien: Das „eherne Gesetz der Oligarchie“. Eine zahlenmäßig nicht unansehnliche Kaste von Berufspolitikern, Mitarbeitern und Mulitfunktionären bestimmt den politischen Willensbildungsprozess in den parteipolitischen Massenorganisationen. Die traurige Wahrheit lautet: So läuft der Laden. Der Politikwissenschaftler Franz Walter beschreibt diese Kaste durchaus anschaulich als „politische Söldner“.

Alle Versuche das „eherne Gesetz der Oligarchie“ zu unterlaufen sind kläglich gescheitert. Selbst innerhalb der neu gegründeten Partei DIE LINKE wird zwar die Mitgliederbeteiligung und die Kritik an der etablierten Politik groß geschrieben, faktisch funktioniert die Partei allerdings wie jede andere Partei auch.

Kolja Möller und Jörg Schindler widmen sich in Ihrem Beitrag Fünf Vorschläge für eine demokratische Partei" diesem Problem.

Alban Werner ergänzt und kritisiert in seiner Erwiderung diese Vorschläge und meint: "Den Tiger reiten!"

Viel Spaß und Anregung beim Lesen.

Feministische Perspektiven.

Beitrag von Corinna Genschel, geschrieben am 24.02.2010

Welche Handlungsfelder und Möglichkeiten haben Feministinnen heute, wo liegen feministische Herausforderungen und Perspektiven? Zwei spannende neue Bücher werfen einen genaueren Blick auf die „neue Generation“ von Feministinnen in Deutschland (Lenz/Paetau) und die Globalisierung der Frauenbewegungen (Wichterich): Deutlich wird in sehr unterschiedlicher Weise, Widersprüche in den Geschlechterverhältnissen erfordern gerade jetzt feministische Antworten, bei denen es nicht nur um die Gleichstellung geht, sondern um die Veränderung gesellschaftlicher Spielregeln und Machtstrukturen, um Emanzipation, um Freiheit von Gewalt, um soziale Gerechtigkeit.

Der prager frühling hat beide Bücher rezensiert

Christa Wichterich: Gleich, gleicher, ungleich: Paradoxien und Perspektiven von Frauenrechten in der Globalisierung, Verlag: Helmer, 2009, 240 Seiten, 19.00 Euro

Anne Lenz, Laura Paetau: Feminismen und »Neue Politische Generation«, Westfälisches Dampfboot, 2009, 151 Seiten, 19,90 Euro

Westerwelles falsche Rechnung

Beitrag von Alexander Recht, Lehrer an einem Berufskolleg in Köln, geschrieben am 23.02.2010
Alexander Recht

Im SPIEGEL online steht:

„Westerwelles Beispiel der Kellnerin, die mit zwei Kindern 109 Euro weniger verdient, als wenn sie stattdessen Hartz IV beziehen würde, ist ja nicht aus der Luft gegriffen, sondern Lebenswirklichkeit." (hier der Link)

Das Gegenteil ist der Fall: Westerwelle sagt die Unwahrheit. Sein Ziel ist Diffamierung. Überdies stimmt Westerwelles Rechnung nicht – ob dies eine bewusste Falschrechnung ist oder ob dies aus Ahnungslosigkeit geschieht, wäre woanders zu diskutieren. Dass jedenfalls die Rechnung nicht stimmt, soll anhand eines Rechenbeispiels verdeutlicht werden. Es zeigt auf, dass entgegen den Behauptungen des FDP‐Chefs Erwerbstätige ein höheres verfügbares Einkommen aufweisen als Erwerbslose.

Annahmen

Die Annahmen seien: 28‐jährige, alleinerziehende Kellnerin aus Köln mit 2 Kindern zw. 6 und 13 Jahren; skandalöser Bruttolohn im Monat 1.573,00 EUR; GRV‐Satz 19,9% (paritätisch), GAV‐Satz 2,8% (paritätisch), GPV‐Satz 1,95% (paritätisch, da die Frau Kinder hat), GKV‐Satz 14,9% (nicht paritätisch, da 0,9% nur vom AN zu zahlen sind, so dass die Kellnerin 7,9% zu zahlen hat); aktueller ESt‐Tarif bei Steuerklasse 2; aktuelles Kindergeld; aktueller Wohngeldtarif bei einer Wohnung von 60 qm für 600 EUR zzgl. 100 EUR Heiz‐ und Warmwasserkosten.

Verfügbares Einkommen der Kellnerin ohne Aufstockung

So hoch wäre das verfügbare Einkommen der Kellnerin im Monat, wenn sie kein ALG II aufstockend beantragen würde.

Bruttogehalt 1.573,00

– GRV 156,51

– GAV 22,02

– GPV 15,33

– GKV 124,26

– LSt 96,33

– SolZ 0,00

– KiSt 0,00

= Nettogehalt 1.158,55

+ Kindergeld 1 184,00

+ Kindergeld 2 184,00

+ Wohngeld 37,33

= Verfügbares Einkommen der Kellnerin ohne Aufstockung 1.563,88

Verfügbares Einkommen einer Erwerbslosen mit 2 Kindern zw. 6 und 13 Jahren

Regelsatz Erwachsene 359,00

+ Regelsatz Kind 1 251,30

+ Regelsatz Kind 2 251,30

+ Mehrbedarf für Alleinerziehende 129,24

+ Anrechenbare KdU kalt 600,00

+ Anrechenbare Heiz‐/Warmwasserkosten 82,00

= ALG II einer Erwerbslosen 1.672,84

Falscher Vergleich ohne Aufstockung

ALG II einer Erwerbslosen 1.672,84

– Verfügbares Einkommen der Kellnerin ohne Aufstockung 1.563,88

= Differenz 108,96 ≈ 109

Die Reaktion von Westerwelle und SPIEGEL online

Was sagen nun Westerwelle und SPIEGEL online? „Skandal!“, denn die Erwerbslose erhalte ja 109 EUR mehr als die Kellnerin.

Hierauf ist Dreierlei zu sagen:

Erstens ist es ein Skandal, dass man mit Vollzeit so wenig verdienen kann. Zweitens werden höhere Regelsätze, wie sie DIE LINKE fordert, den Druck für höhere Bruttolöhne erhöhen, niedrigere Regelsätze (und auch höhere Hinzuverdienstmöglichkeiten) hingegen den Druck für geringere Bruttolöhne; drittens ist die Rechnung falsch, denn zu berechnen ist, dass die Kellnerin aufstockend ALG II beziehen kann.

Anrechenbares Einkommen der Kellnerin für Aufstockung

Bruttogehalt 1.573,00

– absetzbare Sozialversich. 318,12

– absetzbare Steuern 96,33

– Kinderversicherungspauschale 30,00

– Freibetrag bei Erwerbstätigen 310,00

+ Kindergeld 1 184,00

+ Kindergeld 2 184,00

= Anrechenbares Einkommen 1.186,55

Das anrechenbare Einkommen weicht vom verfügbaren Einkommen ohne Aufstockung ab. Die Differenz von 1.563,88 EUR – 1.186,55 EUR = 377,33 EUR erklärt sich daraus, dass bei aufstockendem ALG‐II‐Bezug das Wohngeld von 37,33 EUR nicht gezahlt wird sowie der Hinzuverdienst von 310,00 EUR und die Kinderversicherungspauschale von 30,00 EUR abgesetzt werden: [37,33 310,00 30,00] EUR = 377,33 EUR.

Der Hinzuverdienst beträgt 310 EUR, da 100,00 EUR pauschal an Hinzuverdienst gewährt werden, zudem 20% vom darüber hinausgehenden Einkommen bis 800,00 EUR sowie 10% vom darüber noch hinausgehenden Einkommen bis 1.500,00 EUR bei Alleinerziehenden:

100,00 EUR 700,00 EUR · 20% 700,00 EUR · 10% = 310,00 EUR.

Aufstockendes ALG II

Was folgt daraus? Die Kellnerin erhält aufstockend auf ihr anrechenbares Einkommen die Differenz bis zum ALG‐II‐Betrag der erwerbslosen Frau mit 2 Kindern, also:

ALG II einer Erwerbslosen 1.672,84

– Anrechenbares Einkommen 1.186,55

= Aufstockbetrag 486,29

Verfügbares Einkommen der Kellnerin mit Aufstockung

So hoch wäre folglich das Gehalt der Kellnerin im Monat, wenn sie ALG II aufstockend beantragen würde (und dafür auf das Wohngeld verzichten würde).

Bruttogehalt 1.573,00

– GRV 156,51

– GAV 22,02

– GPV 15,33

– GKV 124,26

– LSt 96,33

– SolZ 0,00

– KiSt 0,00

= Nettogehalt 1.158,55

+ Kindergeld 1 184,00

+ Kindergeld 2 184,00

+ Aufstockbetrag 486,29

= Verfügbares Einkommen der Kellnerin mit Aufstockung 2.012,84

Statt ohne Aufstockung 1.563,88 EUR zu erhalten, erhält die Kellnerin mit Aufstockung 2.012,84 EUR. Die Differenz zwischen verfügbarem Einkommen mit und ohne Aufstockung ist 2.012,84 EUR – 1.563,88 EUR = 448,96 EUR. Dies entspricht dem ums Wohngeld reduzierten Aufstockbetrag. Also sollte aufstockendes ALG II beantragt werden.

Richtiger Vergleich mit Aufstockung und Fazit

Verfügbares Einkommen der Kellnerin mit Aufstockung 2.012,84

– ALG II einer Erwerbslosen 1.672,84

= Differenz 340,00

Die Differenz von 340,00 EUR ergibt sich aus der Summe von Hinzuverdienst und Kinderversicherungspauschale.

Wer erwerbstätig ist, erhält also im Vergleich zu einer erwerbslosen Person der soziologisch gleichen Kategorie – hier Alleinerziehungsstatus und 2 Kinder – immer mehr statt weniger Geld. Denn der Hinzuverdienst (ggf. zzgl. Kinderversicherungspauschale) kommt stets hinzu.

Fazit: Westerwelle und SPIEGEL online sagen die Unwahrheit.

Neuer Feminismus, neue Generation?

Beitrag von Kirsten Achtelik, geschrieben am 22.02.2010

Schlagworte:

feminismus

Die Autorinnen Anne Lenz und Laura Paetau fragen in ihrer gemeinsam verfassten Diplomarbeit Feminismen und »Neue Politische Generation« danach, was Feminist_in sein heute bedeutet. Dazu haben sie neun Aktivist_innen der Berliner Szene aus sechs verschiedenen Gruppen nach ihrem Politikverständnis, ihren Zielen, Schwerpunkten und ihrer Geschichte befragt. Die Datenauswertung dieser feministischen Praxis und Analyse erstreckt sich über so breit gefächerte Themen wie Identitätspolitik, Kinderkriegen, die Verbindung von Antisexismus und Feminismus sowie Intersektionalitätsdebatten. Drei dieser (anonymisierten) Interviews haben die Autorinnen intensiver analysiert, da sie die größte Spannweite innerhalb des Datenpools aufwiesen. So bietet Feminismen und “Neue Politische Generation“ einen Einblick in die politische Arbeit und das Selbstverständnis heutiger Feminist_innen. Dabei geht es den Autorinnen vor allem darum, die jetzige politische Praxis zu beleuchten, um Strategien für die Zukunft zu entwickeln. Daher kann das Buch auch als Fundgrube und Grundlage für strategische und politische Debatten feministischer Aktivist_innen genutzt werden.

Um wen geht es?

Bei der Lektüre stellt sich jedoch die Frage, wie repräsentativ dieser Einblick in die Szene ist und welche Gruppe da eigentlich erforscht wurde. Die Autorinnen problematisieren dies selbst und antworten: „Wir haben bei uns angefangen.“ (S. 139). Dementsprechend kommen auch die meisten Interviewten aus einer weißen, westlichen und akademischen Sozialstruktur. Allerdings sind das durchaus typische Kennzeichen für die Berliner (radikale) linke Szene.

Unklar bleibt leider ebenfalls, was die Autorinnen mit dem Begriff der „neuen politischen Generation“ genau fassen wollen. Was ist daran so neu, dass es sich nicht mit bereits vorhandenen Begriffen ausdrücken lässt? Was haben die untersuchten Aktivist_innen überhaupt gemeinsam? Ihre eigenen Ausführungen dazu bleiben vage: gemeinsame Merkmale seien die Form der Organisierung und die Themen der Aktivist_innen. Außerdem würden alle das Erbe der Frauenbewegung (kritisch) aufnehmen. Die Auswertung der Interviews zeigt allerdings, dass die befragten Aktivist_innen außer einem Unbehagen gegen eine unreflektierte Identitätspolitik jedoch nicht viel gemeinsam haben. Auch beziehen sich zwar alle theoretisch positiv auf ein Zusammendenken von verschiedenen Unterdrückungszusammenhängen, in der politischen Umsetzung treten jedoch große Unterschiede zu Tage. Dies heißt aber auch nicht viel mehr, als dass in weiten Teilen der antisexistischen Berliner radikalen Linken Kritik an Zweigeschlechtlichkeit und eine eher subkutane als theoretisch fundierte Butler-Rezeption Standard sind.

Braucht es für ein derartiges Szene-Phänomen einen neuen Begriff?

Dass die beiden Politikwissenschaftlerinnen und Soziologinnen in ihrem Studium noch nie von den nicht nur für die Soziologie prägenden Generations-Konzepten von Karl Mannheim gehört haben sollen, erscheint unwahrscheinlich. Umso rätselhafter bleibt, warum sie sich zwar im theoretischen Teil ihrer Arbeit mit den verschiedensten Theorien der feministischen Bewegung auseinandersetzen, andere soziologische Ansätze jedoch gänzlich außer acht lassen.

Den Autorinnen ist darin zuzustimmen, dass es sich bei dem von ihnen beobachteten Phänomen nicht um eine Bewegung handelt. Wahrscheinlich muss sogar konstatiert werden, dass bei der derzeitigen Schwäche von feministischen Gruppen und Aktivitäten auch von einer feministischen Bewegung keine Rede sein kann. In dem Buch wird gezeigt, wie auch in einer eher ruhigen Phase feministische Ideen und Ansätze von Aktivist_innen weiterentwickelt werden.

Wie weiter?

Seit dem die Interviews 2007 gemacht wurden, hat sich auch in Berlin die Szene wieder etwas gewandelt. Mehrere explizit feministische Gruppen sind entstanden. Wie die von Lenz und Paetau beschriebenen Ansätze mit diesen neueren zusammenkommen und wieder mehr dringend nötige gesellschaftliche Relevanz entwickeln können, ist eine zu diskutierende Frage. Bleibt zu hoffen, dass durch die dargestellten Beispiele und Strategien, sowie den Debatten darüber künftig wieder etwas mehr Bewegung in die Sache kommt.

Frauen, die sich bewegen: In „gleich, gleicher, ungleich“ zeichnet Christa Wichterich eine spezifische Landkarte von Frauen(rechts)bewegungen

Beitrag von Isabel Collien und Anne Lenz, geschrieben am 22.02.2010

Es ist paradox. Das mit den Frauenrechten: Deutsche Frauen sind zunehmend erwerbstätig, allerdings auf Teilzeitstellen. Weibliche migrantische Pflegekräfte übernehmen häusliche Pflegearbeiten, jedoch gegen ein geringeres Entgelt als im deutschen Pflegesektor üblich. Mikrokredite für die Ärmsten, mehrheitlich Frauen - eine sinnvolle Angelegenheit? Nur bedingt. Denn diese Kredite verdrängen Formen kollektiven Sparens und Frauen sind nur deshalb Hauptadressatinnen, weil sie das Geld mit größerer Wahrscheinlichkeit zurückzahlen. Häufig verschwinde die Politisierung der Geschlechter-, Klassen- oder Armutsfrage im ‚Windkanal des Marktzugangs’, so die Soziologin Christa Wichterich in ihrem Ende 2009 erschienenen Buch „gleich, gleicher, ungleich“. Auf 225 Seiten zeichnet Wichterich den Prozess der Globalisierung von Frauenrechten nach und zeigt zudem auf, wie frauenrechtliche Forderungen teilweise in neoliberale Projekte integriert wurden. Um die Ambivalenz dieser Entwicklungen zu fassen, verschränkt sie feministische Gesellschafts- und Ökonomiekritik und beharrt darauf, die Systemfrage zu stellen. Eine Fülle statistischer Daten sowie Beispiele konkreten Widerstands von Frauen untermauern ihre Analyse davon, wie neoliberale Umstrukturierungen mit Geschlechterverhältnissen verknüpft sind. Sich dieses Buch als Nachschlagewerk ins Regal zu stellen, um das feministische, rhetorische Waffenarsenal zu erweitern und, falls nötig, gezielt Fakten abfeuern zu können, ist eine gute Entscheidung.

Frauenbewegung(en) und global players

Wichterich richtet ihren Blick auf die Situation von Frauen in Arbeits- und Reproduktionsarbeitsverhältnissen sowie auf organisierten Widerstand. Auf transnationaler Ebene stehen Knotenpunkte wie Gegengipfel, Weltsozialforen und Vernetzungsplattformen im Mittelpunkt. Gegen Einsparmaßnahmen im öffentlichen Gesundheitssystem demonstrierende Krankenschwestern in Frankreich sowie Exportarbeiterinnen in Thailand und China, die gegen Fabrikschließungen protestieren, sind Dimensionen lokalen Widerstands. Die strategischen Handlungsansätze „bewegen sich auf einer Skala zwischen Gegenwehr von unten und Einflussnahme auf nationale oder globale Governance.“ Solidarität, Demonstration und Frauenbewegungen auf der Straße, die sich in einer „vorübergehenden Ruhepause“ befinden, sind zentrale Eckpunkte von Wichterichs Bestandsaufnahme.

Aus der Wichtigkeit, die Frau als Subjekt und die global players als Referenzpunkt für Widerstand in ihrer Analyse erhalten, resultiert eine spezifische Landkarte von Frauen(rechts)bewegungen: Professionalisierte NGO-Frauen im 'globalen Norden', sich kollektiv organisierende Wanderarbeiterinnen und Kleinbäuerinnen im 'globalen Süden'.

Eine Frage der Perspektive

Ein globaler Rundumschlag, wie Wichterich ihn anstrebt, ist – aus postmoderner Perspektive – mutig und muss zugleich Auslassung produzieren. So erweist sich die US-amerikanische und europäische Bewegungslandschaft außerhalb professionalisierter und individualisierter Strukturen als gähnend leer. Dem eigenen Anspruch, dass eine feministische Perspektive bedeutet „Leerstellen von Herrschaftskritik auszufüllen“, wird der dritte Teil des Buches, die Perspektiven, nicht immer gerecht: Obwohl Wichterich auch Bewegungen erwähnt, die das Paradigma der Zweigeschlechtlichkeit in Frage stellen, löst sie ihren Blick nicht von einem identitären Zugang und dem Hauptreferenzpunkt Frau. Weiterhin benennt sie „dezentrale, polyzentrische Kämpfe“, fokussiert jedoch auch dabei auf Widerstandsformen, deren Bezugspunkt Politiken von Regierungen, UN oder WTO bilden.

So geraten unter anderem feministische, ökonomische Widerstandspraktiken, die eben nicht primär auf den Aufbau einer Gegen-Macht zu den global players abzielen, aus dem Blick. Eine (andere) Analyse, die queer-feministische Kapitalismuskritiken als Ausgangspunkt nimmt, könnte dezidierter aufzeigen, wie kapitalistische Vergesellschaftung identitätsbildend wirkt. Und dann Räume, die nach anderen Prinzipien (zum Beispiel beitragen statt tauschen) funktionieren, und damit neue (ökonomische) Identitäten ausbilden, auf widerständisches Potenzial hin beleuchten. Wichterich bleibt dabei: „Aus feministischer Perspektive beinhaltet die Politik des Widerstandes immer starke Elemente der Politik der Anerkennung“. Das ist eine Form politischer Praxis. Subversive Praktiken, die feministisch wirken, indem sie bestehende Normen in Frage stellen, sind eine andere.

"Wie hältst Du es mit der Braunkohle in der Regierung?"

Beitrag von Kerstin Kaiser, geschrieben am 20.02.2010

Es ist eine Binsenwahrheit: In Koalitionsverträgen kann keine der beteiligten Seiten ihr Wahlprogramm in Gänze umsetzen. Jedoch hat DIE LINKE im Koalitionsvertrag zentrale Forderungen ihres Wahlprogramms festschreiben können. Das betrifft Regelungen zum Vorrang und Ausbau erneuerbarer Energien, zur Steigerung der Energieeffizienz bzw. Energieeinsparung und eine entsprechende Überarbeitung der „Energiestrategie 2020“ des Landes, zum notwendigen Ausbau der Stromnetze für eine problemlose Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Energien sowie zur weiteren Entwicklung z.B. „virtueller Kraftwerke“, d.h. eine Zusammenschaltung von kleinen, dezentralen Stromerzeugern, wie zum Beispiel Kleinwasserkraftwerke und Biogasanlagen, aber auch kleine Windenergieanlagen und Blockheizkraftwerke kleinerer Leistung zu einem Verbund.
Die Umsetzung dieser Festlegungen in Regierungshandeln wird den Markt für Braunkohlengrundlaststrom sowohl in Brandenburg als auch in Deutschland weiter einengen. Damit wird es perspektivisch möglich sein, die Stromerzeugung im Land Brandenburg zu 100 Prozent auf erneuerbare Energien umzustellen. Gleichzeitig wird der sich beschleunigende Übergang zu erneuerbaren Energien, gepaart mit Energieeffizienzsteigerung und sparsameren Einsatz von Energie, den dringend gebotenen und sozial verträglichen Ausstieg aus der Braunkohlenverstromung ermöglichen. Denn sie ist die derzeit klimaschädlichste und ineffizienteste Technologie der Strom- und Wärmegewinnung. Damit ist in der Energie- und Klimaschutzpolitik des Landes Brandenburg eine Abkehr von der bisherigen rot-schwarzen Kohlepolitik eingeleitet. Gleichzeitig wird mit der schrittweisen Substitution von Kohlekraftwerken durch erneuerbare Energien die Versorgungssicherheit gewährleistet. Die rot-rote Landesregierung wird das Tor zur dringend notwendigen Energiewende aufstoßen.
Die eventuell noch notwendige Braunkohlenverstromung nach 2020 ist zudem an die CCS-Technologie gekoppelt. Die weitere Erforschung und Erprobung dieser Technologie ist aber heute noch völlig ergebnisoffen. Dennoch sollte diese Technologie als eine Möglichkeit der CO2-Reduzierung weiter erforscht werden, viele offene Fragen eingeschlossen. Denn Fakt ist: Die CCS-Technologie kann vor allem für energieintensive Industriezweige, wie etwa die Zementherstellung und Stahlproduktion eine Alternative werden, damit auch diese Branchen den notwendigen Beitrag zur Reduzierung der CO2-Emissionen leisten können. Dabei muss aber die Sicherheit der Bevölkerung oberste Priorität haben. Die Speicherung von CO2 muss so erfolgen, dass Menschen und ihr Eigentum nicht gefährdet, die persönliche und wirtschaftliche Nutzung ihrer Grundstücke sowie die natürlichen Lebensgrundlagen von Tieren und Pflanzen nicht beeinträchtigt werden. Der dringend erforderlichen Reduktion der CO2-Emissionen wird durch das Abschließen von öffentlich-rechtlichen Verträgen mit dem Energiekonzern Vattenfall Rechnung getragen.
Zu beachten ist außerdem, dass auch DIE LINKE in der Regierung an derzeit geltendes Recht gebunden ist. Das heißt, wenn Vattenfall den Antrag auf ein Braunkohlenplanverfahren zu einem neuen Tagebau stellt, muss es lt. derzeit geltendem Bundesbergrecht und entsprechender Landesplanung auch eröffnet werden. Ob dann ein solch beantragter Tagebau auch genehmigt werden muss, entscheidet sich erst im Braunkohlenplanverfahren mit all den Möglichkeiten der privaten und öffentlichen Einflussnahme. Danach schließen sich die erforderlichen bergrechtlichen und wasserrechtlichen Genehmigungsverfahren an.
DIE LINKE ist also auch in Regierungsverantwortung davon überzeugt, dass der Bedarf an Braunkohlengrundlaststrom immer mehr zurückgeht. Der Neuaufschluss von Tagebauen in Brandenburg ist eher fraglich, deshalb werden wir auch weiterhin Umsiedlungen ohne gesellschaftliche Notwendigkeiten nicht zustimmen.


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