Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog

In der Pflicht für die Menschen!

Beitrag von Wolfgang Nesković, geschrieben am 20.02.2010

Der Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Unverzügliches Handeln ist nicht aufschiebbar. Auch in Brandenburg ist es höchste Zeit, eine Energiewende einzuleiten. Zum nachhaltigen Klimaschutz und zur Erhaltung einer lebenswerten Region braucht es dringend eine Abkehr von der bisherigen Energiepolitik.
Südbrandenburg ist die Herzkammer des deutschen Braunkohlebergbaus. Seit Generationen wird die Braunkohle in Tagebauen gefördert und zur Energieerzeugung verbrannt.
Die Braunkohlekraftwerke in Brandenburg produzieren jährlich CO2-Emmissionen von 36 Millionen Tonnen. Damit ist Brandenburg pro Kopf ein größerer Klimaverschmutzer als die vielfach angezählten USA.
Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Klimapolitik gibt es zahlreiche Widerstände und Gegner. Der Energiekonzern Vattenfall und seine Lobbyisten arbeiten auf vielfältige Weise darauf hin, notwendige Klimaschutzmaßnahmen zu verhindern. Die Politik ist anfällig für die Lobbyisten der Klimakiller.

Die festgeschriebenen Absichtserklärungen und das Bekenntnis zur CCS-Technologie sind energiepolitisch und im Sinne des Klimaschutzes eine große Enttäuschung.
Für DIE LINKE war es ein zentrales Anliegen, einen mittelfristigen Ausstieg aus der Braunkohleverstromung festzuschreiben. Im Koalitionsvertrag ist das nicht gelungen. Stattdessen wird die Kohleverstromung als „Brückentechnologie“ bezeichnet. Das stellt nicht die angestrebte energiepolitische Wende dar. Es ist lediglich eine sprachliche Beruhigungspille, die die mangelnde politische Durchsetzungsfähigkeit beschönigen soll. Auch die CCS-Technologie wurde von den politischen Führungskräften stets strikt abgelehnt. Nun aber soll sie auf einmal eine „wichtige Option“ in der Energiepolitik darstellen. Faktisch hat sich jedoch nichts geändert: CCS bleibt eine teure und risikobehaftete Technologie, die Türöffner für Braunkohleverstromung auf unbestimmte Zeit ist.
Politisch ist es für DIE LINKE nicht zu verkraften, dass sich der Koalitionsvertrag zur Erschließung neuer Tagebaue gänzlich ausschweigt.
Es wurde kein klares Signal an die Menschen in den betroffenen Regionen gesendet. Es wurde versäumt, verbindlich Stop zu sagen. Zu Recht wurde eine klare Aussage erwartet: Keine neuen Tagebaue. Zumindest aber die Aussage: Keine weiteren Umsiedlungen.
Der Aufschluss neuer Tagebaue ist nicht notwendig, denn bis 2040 reicht die Braunkohle der bisher erschlossenen Tagebaue ohnehin. Arbeitsplätze könnten erhalten bleiben und neue im Bereich der regenerativen Energien geschaffen werden. Das ist sozial verträglich.
Es gibt keinen Grund, die Abbaggerung weiterer Dörfer in Kauf zu nehmen. Die Menschen dürfen ihre Heimat nicht verlieren. Es kann keine Notwendigkeiten - erst Recht keine gesellschaftlichen - dafür geben, dass Kohlebagger und die Gewinninteressen Vattenfalls zum Gradmesser für Entscheidungen über Lebensräume werden.
Dennoch: Auch das Gegenteil hat die Koalition nicht festgeschrieben. Nirgendwo im Koalitionsvertrag steht, dass es neue Tagebaue, neue Umsiedlungen geben wird.
DIE LINKE hat folglich die Pflicht, im Regierungsalltag die Positionen der Menschen durchzusetzen. Jeder Tag Regierung ist somit ein Tag der praktischen Nachverhandlung über den Vertrag.
Matthias Platzeck will die Menschen im Stich lassen. Er interessiert sich mehr für das Wohlbefinden Vattenfalls und tut alles, um Industrieinteressen zu befriedigen. Das darf DIE LINKE nicht mitmachen. Gemeinsam mit den Menschen muss sie Druck ausüben.
Zur Zeit laufen in Brandenburg die Braunkohleplanverfahren für zwei neue Tagebaue. Diese Verfahren verlaufen naturgemäß langwierig. Es sind noch keine Details aus dem Planverfahren bekannt. Sicher ist aber: Die Dinge sind im Fluss. Jeden Tag ergeben sich neue Erkenntnisse. Die Maschinerie von Vattenfall steht nicht still.
Hier wird DIE LINKE zeigen müssen, dass sie im Regierungsalltag weiterhin dafür kämpft, wofür sie in der Opposition immer stand: Die Interessen der Menschen gehen den Profitinteressen von Konzernen vor.
Um diese zu schützen bieten die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen auf Landesebene ausreichend Spielräume. Sie müssen nur erkannt und genutzt werden: Die Änderung von Regionalplänen, des Landesentwicklungsprogrammes oder die Novellierung des Gesetzes zur Förderung der Braunkohle im Land Brandenburg sind nur drei Beispiele, wie die Landespolitik helfen könnte, Umsiedlungen zu vermeiden.
Geradlinigkeit und Hartnäckigkeit im politischen Alltagshandeln werden häufig belohnt. Das ist die Aufgabe, der sich DIE LINKE annehmen muss. Wir stehen in der Pflicht: Für die Menschen in Brandenburg und nicht für die Gewinninteressen eines Konzerns.

Für einen Red Green Deal!

Beitrag von Lena Kreck, geschrieben am 16.02.2010

Über Perspektiven für Klimagerechtigkeit diskutieren Katja Kipping, Hermann Scheer, Bernd Brouns und Susanne Götze.

Der Klimagipfel in Kopenhagen ließ fragende Gesichter zurück – diesseits und jenseits der Polizeiabsperrungen, der Parlamente, der westlichen Industriewelt. Öko ist irgendwie logisch, aber bei diesem Allgemeinplatz bleibt es dann oft genug.
Die Redaktion des Magazins prager frühling schlägt einen "Red Green Deal" vor, es diskutieren Hermann Scheer, Bernd Brouns und Katja Kipping, Moderation: Susanne Götze.

Dienstag, 23.02.10, um 19.30 Uhr
Haus der Demokratie und Menschenrechte, Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin, Robert-Havemann-Saal


Katja Kipping ist Redakteurin des Magazins »prager frühling«, Mitglied des Bundestages und stellv. Vorsitzende der Partei DIE LINKE. Gemeinsam mit Andrea Ypsilanti, Sven Gigold, Thomas Seibert, Sonja Buckel, Stephan Lessenich sowie Hermann Scheer u.a. gründete sie kürzlich das „Institut Solidarische Moderne“.

Hermann Scheer ist bekannt durch seinen enormen Einsatz für erneuerbare Energien, für den er den alternativen Nobelpreis erhielt. Er ist Mitglied der SPD und seit 1980 Mitglied des Deutschen Bundestages. Im Vorfeld der Landtagswahl in Hessen 2008 gehörte er zu dem Schattenkabinett Andrea Ypsilantis als designierter Wirtschafts- und Umweltminister. Von ihm erschienen viele Bücher u.a. „Die Politiker“ (München 2003) und „Energieautonomie. Eine neue Politik für erneuerbare Energien“ (München 2005).

Bernd Brouns ist Aktivist bei der Gruppe gegenstrom berlin und arbeitet bei der Bundestagsfraktion DIE LINKE als Referent für Energie- und Umweltpolitik.

Susanne Götze arbeitet als freie Journalistin und ist weltweit in Sachen Klimaschutz unterwegs, zuletzt in Kopenhagen.

Veranstalter:
Freundinnen und Freunde des Prager Frühlings e.V.
c/o RA Schindler, Fischerinsel 10, 10179 Berlin
Mail: vorstand@prager-fruehling.org
Web: www.prager-fruehling.org

System change not climate change!

Beitrag von Redaktion, geschrieben am 28.01.2010

Den politischen Gemütszustand unserer Welt beschreibt nichts besser als der alte Kalauer: „Öko? Logisch.“ Niemand schmunzelt mehr drüber, aber alle nehmen den Schenkelklopfer für sich in Anspruch. Dass alles irgendwie auch „öko“ sein müsse, also die Sache mit der Umwelt halt ein Problem sei, ist – logisch – Allgemeinplatz geworden. Trotzdem stellen sich tausend Fragen, und zwar sowohl bei denen „da unten“ wie auch jenen „da oben“. Der Klimagipfel in Kopenhagen ließ fragende Gesichter zurück – diesseits und jenseits der Polizeiabsperrungen, diesseits und jenseits der Parlamente, diesseits und jenseits der westlichen Industriewelt...

Die kommende Ausgabe des prager frühling Magazins will die Debatten ein Stück weiter tragen:

Im warmen Polar – System change not climate change

Im Wasser warten schon Tuvalu, Hermann Scheer, Nicole Maisch, Ulrich Beck, Malaysia, Eva Bulling-Schröter, Mona Bricke, New Orleans, Mario Candeias, Bärbel Höhn, Ilka Schröder, Holland und irgendein weiteres Land, das untergehen wird.

Sowie:

Keine EisbärIn sein – Zweigeschlechtlichkeit ins ewige Eis!

Beiträge dazu von Corinna Genschel, Christian Schenk und Juana Remus.

Der Vier-in-Einem-Song

Beitrag von Diverse Autorinnen, geschrieben am 28.01.2010

Bei einer dialektisch-feministsichen Weiterbildungswoche, an der Frauen aus Ost und West und aus verschiedenen Strömungen der Linkspartei teilnahmen entstand folgender Liedtext.

Der Vier-in-Einem-Song

(nach der Melodie von „Mamor, Stein und Eisen bricht“)

La-Palma-Connection ham wir uns genannt. Dam-dam, dam-dam

Kämpfen gemeinsam Hand in Hand. dam-dam, dam-dam

Vier in Eins ist unser Ziel.

Dafür machen wir mobil.

Unser Bund sagt: Jetzt ist Schluss.

Vier in Eins ist muss!

Mit Gramsci, Brecht und Luxemburg Dam-dam, dam-dam

Stürmen wir die Männerburg. Dam-dam, dam-dam

Unsere Ideen sind genial.

Damit werden wir hegemonial.

Widerspruch, wir nutzen Dich.

Du entkommst uns nicht.

Für nen Harem taugen wir nie. Dam-dam, dam-dam

Lieber erringen wir Hegemonie. Dam-dam, dam-dam

Revolutionäre Realpolitik,

Die behalten wir stets im Blick.

Alles andere zielt vorbei

Und macht uns nicht frei.

Gockelkampf ist total out. Dam-dam, dam-dam

weil er die Partei versaut. Dam-dam, dam-dam

Widerspruch und Widerstand

Gehn bei uns stets Hand in Hand.

Zusammen sind wir wunderbar.

Das ist Euch doch klar.

Unter uns Frauen stand schnell fest: Dam-dam, dam-dam

Wir spalten nicht in Ost und West. Dam-dam, dam-dam

Die Presse kann es nicht verstehn

wollen Streit und Zwietracht säen.

Spiegel, Stern und junge Welt

werden abbestellt.

Zum Finale 1. Refrain dreimal singen

Vier in Eins ist unser Ziel/ Dafür machen wir mobil.

Unser Bund sagt: jetzt ist Schluss: Vier in Eins ist muss!

Hey, baby, I’m a rockstar!

Beitrag von Lena Kreck, geschrieben am 27.01.2010

Viel Liebe zum Geburtstag, attac, du schrullige alte Dame (sofern man dies über eine Zehnjährige sagen kann)! Denn seien wir mal ehrlich, gar so schillernd bist du gerade nicht. Einst warst du die Grand Dame im globalisierungskritischen Spektrum. Du hast es nach den für die Linke doch irgendwie ganz schön kargen 90er Jahren hinbekommen, dass wir uns trauten, das Wort „neue soziale Bewegung“ in den Mund zu nehmen.

In dir einten sich Organisierte und Unorganisierte, Utopist_innen, Dogmatiker_innen und Pragmatiker_innen, Junge und Alte, Männer und doch auch einige Frauen. Sie fanden zusammen, weil sie die Idee eines regulierten Finanzmarktes als zumindest kurzfristige Notwendigkeit teilten. Das war schon ziemlich geil. Endlich nicht mehr nur defensiv sein, endlich wieder laut, deutlich und wahrgenommen Forderungen aussprechen können. Wie lehrreich war es auch, sich dem mühevollen Prozess der basisdemokratischen Entscheidungsfindung zu stellen.

Irgendwie gab es dann aber einen Knick. Es mag daran gelegen haben, dass sich mit der Partei DIE LINKE ein neues Projekt auf den Weg gemacht hat, das vielen gerade auch in seiner Parteiförmigkeit gefehlt hat. Es ist aber auch nicht ganz auszuschließen, dass dir all das Bunte, Vielfältige ein wenig zum Verhängnis wurde. Denn kam es dir nicht auch so vor, dass die Forderung nach der Regulierung der Finanzmärkte mehr und mehr zwischen all den Grundeinkommens-, Antiprivatisierungs- und friedenspolitischen Projekten verloren ging? Hattest du nicht auch manchmal das Gefühl, dass du mit einem großen Bauchladen durch das Land spaziertest und jede und jeder sich herausnehmen konnte, was ihr oder ihm schmeckte? Wenn man sich beim Italiener nicht festlegen möchte, bestellt man Tagliatelle alla Casa. Da ist von allem das Beste drin. Manchmal reicht aber einfach eine Pizza Salami. Da weiß man, was man hat.

Ich wünsche dir mindestens für die nächsten zehn Jahre, dass du deinen Pluralismus nicht aufgibst, dich doch gleichermaßen inhaltlich wieder etwas konzentrierst. Mach es wie Rihanna, singe „Hey, baby, I’m a rockstar!“ und besinne dich deiner Anfänge. Du bist internationalistisch, weißt, was dich am Neoliberalismus ankotzt und im besten Sinne realpolitisch. Darauf hoch die Tassen!

(erschienen in der aktuellen "analyse & kritik")

Eskalation oder Isolation?

Beitrag von Dominik Düber (Mitglied im Beirat des BdWi und Gründungsmitglied von Die Linke.SDS), geschrieben am 10.01.2010

Die beiden Bildungsstreiks im Juni und November 2009 sind ohne Frage die erfolgreichsten Proteste gegen ein sich stetig verschlechterndes Bildungssystem seit einigen Jahren. Selbst gegenüber den beiden vorausgegangenen großen Protestbewegungen, dem Lucky Streik 1997 und UNiMUT 1988 weisen sie einige Vorzüge aus: Sie wurden von langer Hand von einem breiten Bündnis geplant und entstanden nicht aus spontanem Unmut. Ihnen gelang die breite Einbindung von SchülerInnen. Sie erhoben nicht nur ständische Forderungen, sondern kritisierten grundsätzlich das vorherrschende Bildungsverständnis. Und sie fanden Antworten auf die Frage, wie Protest unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erfolgreich sein kann.

Vereinbarkeit von Studium und Protest

Gerade dieser letzte Punkt wird in Breit statt eng ausgespart. Die AutorInnen benennen richtigerweise die langfristige Planung und die geschickte Vernetzung von bundesweitem und dezentralem Protest als Gründe des Erfolgs. Als weitere Gründe kommen aber mindestens noch hinzu, dass mittlerweise niemand mehr vollständig leugnen kann, dass die Hochschulreform der letzten Jahre sich als dysfunktional, selbst in ihrem eigenen Paradigma (Berufsbefähigung, Internationalisierung etc.), herausgestellt hat. Man findet niemanden mehr, der für ihre Einführung verantwortlich sein will. SchülerInnen und Studierende haben also ein breit geteiltes Anliegen artikuliert. Hierin dürfte eine Ursache für einen zweiten Erfolgsgrund liegen. Wie schon der Lucky Streik erfreute sich der Bildungsstreik insgesamt einer sehr positiven medialen Berichterstattung, die spürbar dazu beitrug, die Bildungspolitiker und Hochschulrektoren unter Druck zu setzen, ohne dass dafür eine noch nie gesehene Anzahl an Aktiven erforderlich gewesen wäre.
Ein dritter, von Graf et al. nicht diskutierter, aber doch ganz entscheidender Erfolgsgrund, dürfte die pragmatische Protestform (bei teilweise durchaus weitgehenden Inhalten) gewesen sein. Verlor der Lucky Streik gerade dann deutlich an Kraft und Beteiligung, als für die Aktiven der „Verlust“ eines Semesters drohte, hat der Bildungsstreik diese Problematik geschickt umgangen. Er wurde, zumindest zunächst, zeitlich befristet und ermöglichte damit auch jenen die Beteiligung, die in der gegenwärtig angespannten gesellschaftlichen Situation Angst haben, Zeit zu verlieren oder sich dies finanziell ohnehin nicht leisten können. Kurz gesagt: Man konnte mal eine Woche protestieren und dann weiter studieren. Neben der zeitlichen trug auch die räumliche Beschränkung zum Erfolg bei: Es wurde nicht der Versuch unternommen, ganze Fakultäten oder Universitäten zu besetzen, sondern lediglich einzelne Hörsäle zwar für jeden sichtbar besetzt, ohne aber den Uni-Betrieb als Ganzes zum erliegen zu bringen. Dies ist nicht deshalb ein Erfolg, weil damit die Auseinandersetzungen mit Hochschulleitungen und ggf. Polizei geringer gehalten wurden, sondern weil lähmende Auseinandersetzungen zwischen Studierenden vermieden wurden.

Besetzungsstreik: Eher Isolation als Eskalation

Schaut man sich die Besetzungsstreiks der Vergangenheit an, hatten diese in der Regel zwei große Probleme: Man setzt nicht, wie im Unternehmen, in erster Linie eineN ArbeitgeberIn unter Druck, sondern vor allem (zumindest in deren Wahrnehmung) jene Studierende, die zügig studieren wollen oder müssen. Dies führte zu heftigen Streitigkeiten unter den Studierenden (bis zu Studierenden, die selber die Polizei riefen, um in ihren Hörsaal zu kommen oder studentischen Initiativen wie www.studieren-jetzt.de), die es den ProtestgegnerInnen leicht machte, die Legitimität der Besetzungen in Frage zu stellen. Das zweite Problem ergab sich aus diesen Auseinandersetzungen und der zeitlichen Unbefristetheit: Die Beteiligung wurde immer geringer und irgendwann ging die Besetzung sang- und klanglos unter.
Graf et al. stellen richtig fest: Viele Studierende haben sich im Bildungsstreik punktuell beteiligt, ohne ihren Uni-Alltag generell ruhen zu lassen. Ein Besetzungsstreik, der diese nun dazu zwingt, ihren Uni-Alltag ruhen zu lassen, wird aber vermutlich eher deren Widerstand als deren Zustimmung nach sich ziehen. Weiterhin fordern Graf et al.: „Der Beschluß eines Besetzungsstreiks muß gut vorbereitet sein, weil er nur funktionieren kann, wenn die Mehrheit der Studierenden hinter ihm steht“. Selbst wenn man optimistisch ist, dürften sich am Bildungsstreik aktiv an den erfolgreichen Hochschulen vielleicht 2%, an den weniger erfolgreichen vielleicht eher 0,25% der Studierenden beteiligt haben. Es ist also nicht absehbar, dass dies in Zukunft eine Mehrheit tun wird.
Wer also tatsächlich die Protestform des Besetzungsstreiks wieder aufleben lassen will, sollte nicht so tun, als sei dieser so einfach zum Erfolg zu führen. Auch Vollversammlungen werden in der Regel nur von einer Minderheit der Studierenden besucht und garantieren mitnichten eine mehrheitliche Unterstützung, geschweige denn eine inhaltliche Hegemonie. Will man den Besetzungsstreik dennoch, muss man jenen, die ihn, häufig erstmals, durchführen sollen, auch sagen, worauf sie sich einlassen: heftige Auseinandersetzungen, gerade auch mit den Studierenden, die mit dem Verlust eines Semesters existenzielle Ängste, die durchaus eine materielle Grundlage haben können, verbinden.
Neben einer Eskalation könnte die Folge also ebenso in einer Frustration und Minimierung der Aktiven einerseits, sowie in einer Isolation von denjenigen, die sich aus Angst, Leistungsdruck und finanziellen Problemen nur punktuell engagieren wollen andererseits sein.

Aufgaben des SDS

Der SDS täte entsprechend gut daran, nicht einfach alte Protestformen (die schon unter damaligen Bedingungen große Probleme hatten) wieder zu beleben, sondern sich selbst der Herausforderung zu stellen, in veränderten Rahmenbedingungen angemessene Strategien zu finden. Mit einer angemessenen Analyse könnte er dabei von den Erfahrungen des Bildungsstreiks lernen.
Allerdings sollte der SDS auch nicht übersehen, dass selbst die hervorragendste Strategie den Bildungsstreik nicht dauerhaft am Leben erhalten können wird. Proteste im Bildungssystem waren immer zyklisch und werden kaum dauerhaft sein können. Es wäre (zwar positiv aber) eher überraschend, sollte der Bildungsstreik 2011 noch wahrnehmbar existieren. Aufgabe eines Verbandes wie des SDS wäre also nicht nur, sich Gedanken über die Zukunft des Bildungsstreiks zu machen, sondern auch eine eigenständige Perspektive zu entwickeln, die kaum nur darin bestehen kann, in der jeweils aktuell hoffnungsvollsten Bewegung aufzugehen. Als Verband trägt er auch die Verantwortung dafür, gerade dann für Kontinuität zu sorgen, wenn keine hoffnungsvolle und erfolgreiche Bewegung zu sehen ist.

Breit statt eng

Beitrag von Steffi Graf, Friederike Benda (Bundesgeschäftsführerinnen Linke.SDS), Oskar Stolz, Ben Stotz (Mitglieder im Bundesvorstand Linke.SDS), geschrieben am 10.01.2010

Der Bildungsstreik ist neben den Antiatomprotesten die erste große soziale Bewegung unter der neuen schwarz-gelben Bundesregierung. Nachdem Hunderttausende im Juni protestierten, gingen am 17. November erneut 85000 Menschen auf die Straße. Während die Proteste im Sommer noch auf eine Woche beschränkt blieben, besetzen Studierende diesmal – inspiriert von der österreichischen Unibrenntbewegung – an insgesamt über 50 Hochschulen einzelne Hörsäle. Auch einige Schulen schlossen sich den Besetzungen an.

Über Erfolge, Erfahrungen, aber auch über Defizite der Bildungsstreikbewegung versucht dieser Text Auskunft zu geben. Wir verstehen dies als einen solidarischen Beitrag zur Strategiedebatte im bundesweiten Bildungsstreikbündnis.

Zentral und dezentral

Eine Besonderheit des Bildungsstreiks ist den meisten Kommentatoren entgangen. Während frühere Studierendenstreiks wie der »Luckystreik 97/98« oder die Streikbewegung 2003 spontan ausbrachen und sich erst im Laufe oder teilweise erst zum Ende der Streikbewegung mühsam bundesweite Koordinierungsversuche ergaben, konnte der Bildungsstreik von Anfang an von einem bundesweiten Austausch und langfristiger Planung profitieren.

Heute gibt es, anders als früher, keinen konkreten Anlaß, keinen einheitlichen Generalangriff etwa in Form von Studiengebühren, sondern einen über Jahre angestauten Frust über die Zustände in allen Bildungsbereichen.

Die Stärke des bundesweiten Bildungsstreiks besteht darin, daß über eine zentrale Klammer (gemeinsamer Aufruf, bundesweite Materialien, Pressearbeit usw.) diese Unzufriedenheit angesprochen, politisiert und in eine Protestbewegung gewandelt wurde. Vielleicht hat hier die Bildungsstreikbewegung eine wesentliche Antwort auf die Fragmentierung vergangener Schüler- und Studierendenbewegungen wie z.B. auch die Boykottversuche ertastet.

Durch die Bachelorisierung wurden traditionelle, lokal verankerte Protestkulturen (selbstorganisierte Studicafés, kritische Tutorien, Lesekreise und lokale linke Listen) spürbar geschwächt. All diese Aktivitäten erforden Zeit, die im Diplom-Studiengang noch verfügbar war. Die hochschulpolitische Linke ist dadurch in eine Krise geraten. Diese Krise drückt sich auch in Kommentaren aus, die den Bildungsstreik zynisch zum braven und angepaßten Event abstempeln und eine nur antikapitalistische Ausrichtung der Proteste einfordern.

Letztlich laufen die Vorschläge darauf hinaus, die Bildungsstreikbewegung politisch einzuengen und sich auf bereits Überzeugte zu beschränken. Anstatt die Bewegung in die strategische Isolation zu führen, sollten wir uns unsere Stärke immer wieder bewußt machen: Der Bildungsstreik kann durch bundesweite Koordination lokale Kreativität und Aktionspotentiale befördern und breite Spektren der Studierendenschaft ansprechen und potentiell aktivieren – eine wichtige Vorbedingung für eine Radikalisiserung der Proteste.

Für die kommenden Bildungsstreiks stehen wir vor der Herausforderung, auch Formen der Koordination während des Streiks zu finden, um auf aktuelle Entwicklungen – auf Chancen wie auf Fehler – besser reagieren zu können.

Erfolgsmomente

Der Bildungsstreik hat auf bundesweiter und lokaler Ebene erste Erfolge erzielt und gezeigt: Protest ist auch in Zeiten des heutigen Bachelor/Master-Systems möglich – wenngleich Studierende unter massivem Druck stehen und nur noch kurze Zeit in den Hochschulen bleiben. Dies allein ist schon ein großer Erfolg der heutigen Bewegung.

Obwohl auf viele Forderungen, ganz besonders die der Schüler und Auszubildenden (noch) überhaupt nicht eingegangen wird, ist es wichtig festzuhalten: Dank der Proteste verteidigt niemand mehr die Bachelor- und Masterstudiengänge, sogar die CDU-Regierung in Nieder sachsen will jetzt Reformen einleiten. Entgegen den im Koalitionsvertrag formulierten Plänen kündigt Bildungsministerin Annette Schavan an, noch 2010 das BAföG erhöhen zu wollen. Im Zuge des Streiks wurden an einigen Hochschulen Räume erkämpft, von wo aus neue Proteste vorbereitet werden können – besonders wichtig für Hochschulen, an denen es bisher keine verfaßte Studierendenschaft gab.

In Dresden und Oldenburg sind Anwesenheitslisten zur Gänze abgeschafft worden, für die FU und HU in Berlin gilt dies für das jetzige Semester.

Sprach die Kultusministerkonferenz im Vorfeld der Besetzungen noch von zarter Kritik am Bachelor in der »akademischen Öffentlichkeit«, so kündigten die Minister nach dem erneuten Druck der Straße am 10. Dezember erste Überarbeitungen von Bologna an: Reduzierung der Arbeitsbelastung, flexiblere Studiendauer im Bachelor, nur noch eine Prüfung pro Modul. Was davon wirklich umgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Reale Verbesserungen werden vor allem von der zukünftigen Stärke der Bewegung abhängen.

Keine Vereinnahmung

Wurde Bildungspolitik lange komplett ohne Befragung, Beratung und Mitbestimmung der Studierenden gemacht, so gibt es nun – als ein Resultat des Bildungsstreiks – Gesprächsangebote auf lokaler und bundesweiter Ebene. Konkret wird den Studierenden von der Hochschulrektorenkonferenz und der Bundesregierung angeboten, den Bologna-Gipfel im nächsten Jahr gemeinsam vorzubereiten und auszurichten.

In diesen Initiativen stecken Gefahren! Denn die professionellen Verwaltungs- und Expertenapparate der Bildungsminister und Hochschulrektoren sind uns strukturell überlegen. Nur zu leicht kann es passieren, daß eine kleine engagierte Minderheit von Studierenden sich vollkommen in Arbeitsgruppen und Kommissionen aufsaugen läßt. Das Resultat wäre, daß wir in einen asymmetrischen Prozeß hineingeraten und gleichzeitig die Mehrheit der Studierenden davon nichts mehr mitbekommt und passiv bleibt. Parallel dazu würden die Aktivistinnen und Aktivisten in den Gremien »totgearbeitet«.

Trotzdem kann die Teilnahme an diesen Initiativen sinnvoll sein. Die Studierenden würden nur Kopfschütteln auslösen, wenn sie die Beteiligung ablehnen würden. Viel wichtiger ist aber, daß ein gemeinsamer Gipfel auch eine Gelegenheit darstellt, Kritik und Forderungen des Bildungsstreiks in der Öffentlichkeit zu präsentieren – auch gegenüber den Studierenden selbst. Wenn die Forderungen dann vor aller Augen von den Politikern zurückgewiesen werden, könnte dies wenigstens einen gemeinsamen Lernprozeß und eine Radikalisierung mit sich bringen.

Wichtigster Gradmesser für den Umgang mit den Gesprächsangeboten ist also die Frage nach der Partizipation aller Studierenden. Wenn jetzt konkrete Mitwirkung gefragt ist, dann sollten wir einfordern, daß alle Studierenden aktiv teilnehmen können.

Wenn eine Hochschulleitung mit den Studierenden am runden Tisch diskutieren will, dann sollten wir einen Diskussionstag in der Vorlesungszeit bei gleichzeitigem Ausfall aller Lehrveranstaltungen fordern. Und wenn wir bundesweit den Bologna-Gipfel mitgestalten sollen, dann nur, wenn die Verhandlungen transparent sind und die Teilnahme der Studierenden gesichert ist – was natürlich den Ausfall der Lehrveranstaltungen voraussetzt.

Mindestens 40 Milliarden Euro

Durch den Druck des Bildungsstreiks ist die Regierung bereit zu Zugeständnissen – allerdings nur, wenn diese nichts kosten. Alle Novellierungen betreffen die Organisation des Studiums, die materielle Ausstattung der Hochschulen bleibt katastrophal.

Mehr Lehrerinnen und Lehrer, kleinere Klassen, neue Studienplätze und die Abschaffung von Zugangsbeschränkungen – substantielle Veränderungen kosten Geld.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) beziffert den dringendsten Bedarf auf mindestens 40 Milliarden Euro. Der Hochschulpakt der Regierung ist demgegenüber unzureichend, die Statistik außerdem frisiert. Der Anteil der Bildungsinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt ist in den letzten Jahren immer weiter gesunken, obwohl der gesellschaftliche Reichtum kontinuierlich zugenommen hat. Der derzeitige Betreuungsschlüssel zeigt, was dies bedeutet: überfüllte Hörsäle und Seminare, hohe Durchfallquoten und Knock-out-Prüfungen. Der Status quo wird zukünftig eher schlechter als besser: Die staatlichen Rettungsmaßnahmen und Konjunkturpakete haben die Folgen der Wirtschaftskrise bisher bloß abgefedert, die eigentliche Abwälzung der Krisenkosten auf die Bevölkerung steht noch bevor. Die Regierung hat sich durch die Steuerreform und die Verankerung der Schuldenbremse auf einen strikten Sparkurs festgelegt, der die öffentlichen Haushalte austrocknen wird.

Wenn wir uns nicht nur mit kosmetischen Veränderungen zufriedengeben, sondern auch unter den Bedingungen der Krise finanzielle Verbesserungen erreichen wollen, müssen wir uns auf einen gesellschaftlichen Machtkampf vorbereiten. Nur eine Eskalation des Protestes unsererseits wird die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu unseren Gunsten verschieben.

Mittelfristig Besetzungsstreik

Die Besetzungswelle an über 50 Hochschulen im Winter war ein Fortschritt gegenüber den Protesten im Juni. Im besetzten Hörsaal bestand die Möglichkeit, über alternative Bildungsformen zu diskutieren, Veranstaltungen anzubieten und den Protest und seine Ausweitung vorzubereiten.

Da der normale Hochschulbetrieb nebenher weiterging, blieb es allerdings eine exklusive und individuelle Entscheidung, an den Protesten teilzunehmen. Die aktivistische Minderheit schaffte es dadurch nicht, die Proteste auszuweiten. Der Protest wurde von vielen zwar als wichtig anerkannt, aber auch als zusätzliche Belastung neben Studium und Job wahrgenommen. Eine gute Illustration hierfür sind die wöchentlichen Vollversammlungen: Diese waren gut besucht, eine Mehrheit stimmte für die Besetzungen, jedoch kehrten die meisten danach in den Unialltag zurück.

Ein richtiger Besetzungsstreik kann hierfür eine Lösung sein. Im Unterschied zur Hörsaalbesetzung werden bei einem Besetzungsstreik alle Gebäude bestreikt, bis der komplette Lehrbetrieb mit Blockaden an den Eingängen bzw. mit fliegenden Streikposten lahmgelegt ist. Erst ein solcher Widerstand ermöglicht es, Arbeits- und Prüfungsstreß auszuschalten, damit alle Studierenden aktiv an der Bewegung teilnehmen können.

Wir schlagen vor, mittelfristig auf einen Besetzungsstreik hinzuarbeiten. Dieser wäre als nächste Stufe des Protests durchaus vermittelbar. Man hätte die Möglichkeit, mehr Menschen zu integrieren und den Druck auf Unileitung und Politik deutlich zu erhöhen.

Der Beschluß eines Besetzungsstreiks muß gut vorbereitet sein, weil er nur funktionieren kann, wenn die Mehrheit der Studierenden hinter ihm steht. Dafür ist auch wichtig, daß allen klar ist, wo und wie die Entscheidung zum Vollstreik bestätigt oder auch revidiert werden kann: auf den Vollversammlungen. Von der heutigen Studigeneration gibt es kaum noch Leute, die Besetzungsstreiks miterlebt haben. Wir sollten uns mit »alten« Aktiven auseinandersetzen und mit ihnen in einen Erfahrungsaustausch treten.

Timing für den Bildungsstreik

In jeder Streikbewegung haben bis jetzt die Erst- und Zweitsemester eine herausragende Rolle gespielt. Die Umstellung des Gymnasiums auf acht statt neun Jahren Schule verursacht vielleicht die entscheidende politische Gelegenheit. Denn: 2011 wird in die Geschichte eingehen als das Jahr mit den meisten Abiturienten. Dann werden Bayern und Nieder sachsen doppelte Abiturjahrgänge (die letzten Klassen mit neunjährigem, und die ersten mit achtjährigem Abschluß – d.Red.) an die Hochschulen schicken. Ein Jahr später rücken Baden-Württemberg, Bremen, Brandenburg und Berlin nach. Der Höhepunkt wird 2013 erreicht (zehn Prozent mehr Studis als 2008, Quelle: Kultusministerkonferenz), wenn aus NRW die doppelten Jahrgänge an die Hochschulen drängen.

Bereits im nächsten Wintersemester werden die ersten G-8-Jahrgänge (acht statt neunjähriges Gymnasium – d.Red.) an die Hochschulen strömen. Das schafft in zweierlei Hinsicht gute Gelegenheiten für Protest. Hunderttausende zusätzliche Studierende verschärfen die Zustände an den Hochschulen. Gleichzeitig erhöht sich die Anzahl der Erst- und Zweitsemester – und damit die Anzahl potentieller Streikaktivisten.

Mindestens ebenso wichtig ist aber, daß auch die Herrschenden sich darüber uneinig sein werden, ob die zusätzliche plötzliche Belastung auch zusätzlicher Maßnahmen bedarf. Eine solche mögliche »Spaltung der Eliten« ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Erfolg einer sozialen Bewegung: Sie kann die Uneinigkeit ausnutzen und Zugeständnisse für die Studierenden erreichen. Diese Gelegenheit sollten wir nicht verpassen und uns mittelfristig und sorgfältig darauf vorbereiten.

Bündnisse im Betrieb Hochschule

Die Einführung des Bologna-Systems ist Teil der fortschreitenden Ökonomisierung der Hochschule. Verwertbarkeit und Kostenersparnis zählen mehr als gute Lehre und fairer Lohn. Für Exzellenzcluster gibt es Geld, für Beschäftigte an den Hochschulen dagegen nicht.

Die Umstände an den Hochschulen, die in manchen Städten inzwischen die größten Arbeitgeber sind, beschreibt die GEW: »Befristete Arbeitsverträge sind mittlerweile für fast alle nichtprofessoralen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Regel geworden, die tatsächlich vier Fünftel der Forschungsarbeit und zwei Drittel der Lehre an Hochschulen leisten. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden auf Basis von Zwangsteilzeitverträgen – auf halben, Drittel- oder gar Viertelstellen – beschäftigt; unbezahlte Mehrarbeit wird gleichwohl stillschweigend erwartet.« Selbst für die Professorinnen und Professoren bedeutet der Bologna-Prozeß, daß Forschungsvorhaben dem Zwang zur Drittmittel einwerbung unterworfen werden.

Die allseitige Betroffenheit von Studierenden, nichtwissenschaftlichem Personal, dem wissenschaftlichen Mittelbau und den Lehrenden kann neue Bündnisse möglich machen.

Wir sollten das Jahr 2010 nutzen, um sowohl auf lokaler wie auf überregionaler Ebene zu diesem Zweck eine Vernetzung anzugehen. Vorstellbar wäre, noch Ende dieses Semesters eine Einladung an Dozenten und Professoren auszusprechen mit dem Ziel, im nächsten Semester zu einer gemeinsamen Protestperspektive – an Stelle von bloßer Solidarisierung – zu kommen. Konkret könnte dies dahin führen, daß diese bei bundesweiten Aktionstagen zu Semesterbeginn Streikaktivisten in ihr Seminar oder ihre Vorlesung einladen.

Erste konkrete Beispiele, von der mündlichen Solidarisierung zu gemeinsamer Protestarbeit überzugehen, gibt es schon. In Berlin organisierte ver.di im November 2009 den ersten Warnstreik des Berliner Studentenwerks. Die studentische Vollversammlung wurde in die Mensa verlegt; über 600 Studis setzten sich mit den Forderungen der Beschäftigten auseinander und trugen dazu bei, die Mensa an diesem Tag zu blockieren und Umsatzeinbußen von 20000 Euro zu bewirken.

Gegen Studiengebühren

Bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010 wird Hochschulpolitik ein entscheidendes Thema sein. Ein Viertel aller in der Bundesrepublik immatrikulierten Studierenden lebt in NRW. Schon jetzt gibt es eine parlamentarische Opposition, die sich für die Abschaffung von Studiengebühren ausspricht.

In NRW kann die Wahl zu einer Volksabstimmung über Studiengebühren werden, wenn es gelingt, das Thema gesellschaftlich in den Vordergrund zu rücken. Daß dies praktisch funktionieren kann, haben wir in Hessen gesehen. Dort gelang es der Studierendenbewegung, Studiengebühren zum zentralen Thema des Wahlkampfs zu machen. Nachdem die CDU um Roland Koch die Wahlen erneut gewann – er also wieder eine parlamentarische Mehrheit von Studiengebührenbefürwortern hinter sich wissen konnte –, blieb es trotzdem bei der Abschaffung. Denn Koch weiß, daß er keine gesellschaftliche Mehrheit hinter sich hat – und jeder Versuch, Studiengebühren einzuführen, brächte eine erneute Studierendenbewegung hervor.

Ob es in NRW zu einer solchen Entwicklung kommt, hängt entscheidend von der Bildungsstreikbewegung ab. Die Wahl in NRW ist von bundesweiter Bedeutung. Nordrhein-Westfalen führt die vier bevölkerungsreichsten Bundesländer an, in denen noch immer Studiengebühren existieren. Wenn es uns gelingt, NRW aus dieser Reihe herauszubrechen, werden auch die anderen Bundesländer unter Druck geraten.

Gleichzeitig könnten wir nach Hessen und dem Saarland einen weiteren großen Erfolg erzielen und einen Dominoeffekt zur Abschaffung von Gebühren auslösen. Mit einer intensiven bundesweiten Kampagne im Vorfeld der Wahlen und einer unübersehbaren Großdemonstration gegen Studiengebühren am 8. Mai, dem Tag vor der Landtagswahl, kann die Bildungsstreikbewegung die Wahlkampfagenda bestimmen und einen Beitrag dazu leisten, daß die Wahl in NRW ein ausstrahlungsstarkes Referendum gegen Studiengebühren wird.

Das kommende Jahr eröffnet uns viele Möglichkeiten, die Studierendenbewegung erneut ins Zentrum der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu rücken. Den bevorstehenden Machtkampf können wir nur gewinnen, wenn wir bereit sind, den Protest zu eskalieren. Damit sind nicht brennende Barrikaden oder Straßenschlachten gemeint. Die größte Eskalation würde darin bestehen, den Protest von dem Projekt einer engagierten Minderheit zu einer Bewegung aller Studierenden zu machen. Ein Besetzungsstreik, der den kompletten Lehrbetrieb lahmlegt, ist hierfür das einzige Mittel. Deswegen ist für uns ein solcher Streik das Ziel aller mittelfristigen strategischen Überlegungen.
Organisation in Bewegung

Die in diesem Papier beschriebenen strategischen Ziele sind kein exklusives Gut unseres Studierendenverbandes. Viele Bildungsstreik­aktivisten teilen einiges davon; die Perspektiven sind nur im Austausch mit ihnen entstanden. Gleichzeitig glauben wir, daß die hier präsentierten Überlegungen auch Ergebnis kollektiver sozialistischer Organisierung sind. Unsere Hochschulgruppen sind ein ständiger Ort der Debatte und Weiterentwicklung, die Bundeskongresse versuchen die Quintessenz der gesammelten Streikerfahrungen zu destillieren und für kommende Generationen zugänglich zu machen.

Ein sozialistischer Verband kann versuchen, Lernprozesse vergangener Streikgenerationen für heute fruchtbar zu machen. Als Studierendenverband wollen wir einen systematischen Austausch mit Streikaktivisten von 1968 und 1997/98 organisieren. Aus diesem Grund haben wir Referentinnen und Referenten aus beiden Bewegungen zum Bundeskongreß eingeladen.

Blaue Haut, weiße Masken

Beitrag von Alban Werner, geschrieben am 22.12.2009

Ein neuer Blockbuster von Regisseur James Cameron, der über 200 Millionen Dollar gekostet hat und in 3D aufgeführt wird – entsprechend hoch sind die Erwartungen. Und tatsächlich: das Science-Fiction-Spektakel „Avatar“ funktioniert als unterhaltsamer Actionfilm weitestgehend. Trotz der deutlichen Überlänge von 160 Minuten kommt erst im letzten Drittel des Films das Gefühl auf, das Werk hätte auch ohne Abstriche zwanzig Minuten kurzer ausfallen können. Aber wenn wir die in vielen Kritiken euphorisch bejubelte Verwendung eines genialen Verfahrens zur Darstellung digitaler Charaktere beiseite lassen, bleibt ein Film, der in Inhalt und Ausführung nicht origineller ist als die meisten Michael Bay-Actionkracher, und dabei noch viele ärgerliche Klischees transportiert.

So Vieles an „Avatar“ soll neu sein- und doch kommt uns so Vieles bekannt vor – wenn wir nur oft genug im Kino und vor dem Fernseher gesessen haben.
Sein Held ist der queschnittsgelähmte Ex-Marine Jake Sully (Sam Worthington, von Cameron bewusst als unbekanntes Gesicht ausgewählt), der im Jahr 2154 als Ersatz für seinen verstorbenen Zwillingsbruder bei einer Mission auf dem entlegenen Mond Pandora anheuert. Dort möchten irdische Konzerne, nachdem sie ihren Heimatplaneten erfolgreich noch von den letzten Fleckchen Natur befreit haben, die wertvolle Substanz „Unobtainium“ auf Pandora ausbeuten. Ärgerlich, dass nicht nur die Luft des Planeten für Menschen unverträglich ist, sondern dieser auch noch von den humanoiden Na’vi bewohnt wird. Die leben (mit kaum an Aufdringlichkeit zu übertreffender Verwandtschaft zu den uns bekannten Film-„Indianern“) in Harmonie mit Flora und Fauna des Planeten und ihr wichtigstes Heiligtum befindet sich ausgerechnet über den größten bekannten Unobtainium-Vorkommen. Um eine Verständigung herzustellen, züchten menschliche Wissenschaftler Na’vi-Körper, die sog. Avatars, die von Menschen gleichsam als zweite Haut ferngesteuert werden. Für Jake Sully ist es eine erfreuliche Wiedergeburt, in seinen Avatar zu schlüpfen, da er in seinem zweiten Körper nicht nur wieder laufen kann, sondern recht bald in die Gesellschaft der Na’vi aufgenommen wird. Er wird von Neytiri (Zoë Saldaña, zuletzt gesehen als neue Uhura in „Star Trek“) gerettet. Sie stellt sich als Tochter des Na’vi-Stammeshäuptlings Eytucan (Wes Studi) heraus und bekommt den Auftrag, Jake als Stammeskrieger auszubilden. Dabei hat er doch in Wahrheit den Auftrag, die Na’vi zur Umsiedlung zu bringen, weil sie ansonsten einfach aus den Weg geräumt werden sollen, damit die Konzerne an ihre wertvollen Rohstoffe kommen.

Der Film kann der totalen Vorsehbarkeit, die ihn spätestens nach der ersten halben Stunde verfolgt, kaum entkommen. Die Story des „Auserwählten“, der in eine fremdartigen Welt stößt, kennen wir aus zuletzt aus Matrix, davor natürlich aus „Star Wars“ und unzähligen Comic-Heldenstories. Das, und auch die unvermeidliche Liebesgeschichte, könnten wir gerne verzeihen, wenn Camerons Film beim Abhaken der – handwerklich einwandfrei inszenierten und die digitale 3D-Optik einwandfrei ausnutzenden – Stationen der Geschichte nicht mit so schlafwandlerischer Sicherheit in jedes nur denkbare Fettnäpfchen getreten wäre. Während zuletzt Filme wie „The Dark Knight“ oder „Spiderman 2“ zeigten, dass es mit einem entsprechend ausgefeilten Drehbuch möglich ist, auch altbekannte Stoffe mit neuem Leben zu füllen, möchte Cameron zu keinem Zeitpunkt die konventionellsten narrativen Pfade verlassen.

Dennoch: Die Na’vi sind brillant dargestellt und Cameron lässt keine Gelegenheit aus, uns anhand der fantastischen Naturaufnahmen von Pandora am Fortschritt der „virtuellen Kamera“ teilhaben zu lassen. Aber aus ihnen spricht die ganze Zeit das Klischee vom „edlen Wilden“ in seiner primitivsten Variante. Sich eines Western-Motivs zu bedienen, um eine Science-Fiction-Geschichte zu erzählen, ist im Grunde viel versprechend – mit „Star Trek“ oder „Firefly“ verdanken wir diesem Motiv immerhin unverzichtbare Exemplare unterhaltsamer und bisweilen kritischer Utopien. Aber Cameron bedient sich immer vorhersehbarer Indianer-Stereotypen, um seine Heldengeschichte zu erzählen. Denn hier wie schon bei Winnetou sind die edlen Wilden nicht nur das Fremde, Andere, sie brauchen vor allem den weißen Helfer als Auserwählten, um vor der sicheren Vernichtung gerettet zu werden. Gut: Die Menschen haben ihr trauriges Los hier zweifelsohne verdient, die ökologische Botschaft wird uns immer wieder aufs Auge gedrückt. Aber spätestens wenn die Na’vi versuchen, die von Sigourney Weaver (nach „Aliens“ spielt sie hier wieder für James Cameron) gespielte aufrichtige Wissenschaftlerin mit einer gruselig esoterischen Messe zu retten, lässt sich der koloniale Blick nicht mehr abstreiten, der den gesamten Film bestimmt. Dabei ist interessant, wie sich die Wiederbelebung solcher Plattheiten mit der zur Schau getragenen „Political Correctness“ des Films verträgt: Der von Stephen Lang interpretierte Bösewicht Colonel Miles Quaritch agiert wie die perfekte Verkörperung des George W. Bush-getreuen Kommandanten, und als er seine Gefolgschaft auf die Vernichtung der Na’vi-Heimat einschwört, jubelt eine multikulturell zusammengesetzte Soldnertruppe, in der Schwarze genauso laut Begeisterung ausdrücken wie Native Americans.

Das Urteil bleibt in beinahe jeder Sekunde ambivalent: Weil ihre Rollen zu oft Schablonen bleiben, lässt Cameron auch das Potential seiner z.T. hervorragenden Besetzung ungenutzt. Giovanni Ribisi (Boiler Room, Heaven) tritt auf als vom schlechten Gewissen geplagter Kapitalist, der vor dem faktischen Völkermord doch zurückschreckt, bleibt aber letztendlich austauschbarer Stichwortgeber. Ähnlich ergeht es Michelle Rodriguez, die hier leider wieder einmal verheizt wird, obwohl wir aus ihrem brillanten Filmdebüt in „Girl Fight“ und ihrer Rolle in der zweiten Staffel von „Lost“ wissen, dass sie für weit mehr taugt als farblose Gangsterbraut- oder Sidekick-Rollen. Sigourney Weaver überzeugt zwar, die Geschichte lässt ihr aber keinerlei Raum Akzente zu setzen wie in den Alien-Filmen.

Auch bei seinen früheren SF-Filmen „Terminator“, „Abyss“ oder „Aliens“ setzte Cameron auf die Möglichkeiten der Spezialeffekte und digitalen Animationstechnik. Allerdings funktionierten diese Filme allesamt auch als gutes Erzählkino, hinter das andere Genre-Filme nur schwer zurückfallen konnten. Bei „Avatar“ verhält es sich trotz 237 Mio. Dollar Budget umgekehrt. Als Geschichte fällt er hinter die Maßstäbe zurück, die Cameron selbst mit errichtet hat, und lässt befürchten, dass andere den Triumph der Oberflächenreize über Originalität und Charaktere fortsetzen werden – es wäre nicht das erste Mal.


Ein Happen Religionskritik

Beitrag von Uwe Schaarschmidt, geschrieben am 20.12.2009

Weiß man nicht, worüber man schreiben soll, also so richtig überhaupt nicht - nur lustig soll es sein - bleibt dem streng gläubigen Atheisten immer noch, sich eine Bibel zu schnappen, um das Wort Gottes zu jenem Käse reifen zu lassen, den nur sehr alte Männer und ganz kleine Mädchen essen. Letztere lediglich, um dem Opa eine seiner letzten Freuden zu bereiten.

Dann sucht man also diese Bibel, von der man meint, sie befände sich im Hause. Zwei Stunden später kann man der Welt auch einiges an Erfolg präsentieren: vier Reißzwecken, tief in den Handballen steckend, fünfzehn Staubmäuse, die sich zwischen Kinn und Nase in der schlechten Rasur balgen sowie ein Lebkuchenherz mit der Zuckerguss-Aufschrift: „11. Arbeiterfestspiele 1969 in Karl-Marx-Stadt“. Aber eben keine Bibel. Vor der Scheidung hat man eine gehabt, weiß man ziemlich genau. Vor der Scheidung war überhaupt alles anders. Man hatte ganz selten Sex, ganz lange Haare - deswegen wahrscheinlich das mit dem Sex - regelmäßige Mahlzeiten, man pinkelte im Stehen - deswegen wahrscheinlich das mit der Scheidung - sowie eine Bibel im Regal. Das ist aber auch schon lange her mit der Scheidung, mannomannomann ist das lange her!

Jedenfalls ist ohne Bibel schlecht über Gottes Wort der Stab zu brechen, es sei denn, man hat das transzendente Schubidu auswendig gelernt und deshalb auf Kommando verfügbar. Es gibt ja Leute, die können das. Da steht man dann da, guckt doof und der Schubidist paart hochgezogene Augenbrauen mit einem misslungenen Lächeln, womit er ausdrücken möchte: „Na - meinst Du nicht, dass es auch für Dich Zeit wäre, Gottes Liebe und Vergebung zu empfangen?“

Und so gern man die Vergebung nehmen möchte, so gewaltig gruselt einem vor der Liebe des himmlischen Klugscheißers. Schon das, was er einem als gewöhnliche Zuwendung angedeihen lässt - eingewachsene Zehnägel, Karies, maligne Geschwulsten am Darmausgang, Fahrkartenkontrolleure auf 400,- Euro-Basis sowie das Bordpersonal von Billigfliegern - ist fürchterlich genug. Wie erst mag es sein, wenn dieser feine Kollege einen liebt?!

Im Übrigen darf man religiöse Gefühle nicht verletzen. Andere Gefühle darf man getrost verletzten, nur religiöse nicht. Macht man sich beispielshalber über Zeugungsfreude und Gebärfrequenz südländischer MitbürgerInnen mausig, diffamiert langzeitarbeitslose, alleinerziehende Mütter mit gewählten Worten vom Rednerpult verbal, und in Vorabendserien visuell als asoziale Schlampen, so geht dies anstandslos - und dies im wahren Sinne des Wortes - als freie Meinungsäußerung zur Zukunft des Sozialstaates durch.

Begegnet dem Religiösen hingegen das, was dem Religiösen an Anteilnahme zusteht - brüllendes Gelächter also - gibt es Saures vom Rechtsstaat, mithin gar eine Fatwa oder Exkommunikation durch den jeweiligen religiösen Standartenführer als Kompott. Im schlimmsten Falle wird dem Lacher eine Kugel in den Kopf geschossen. Man könnte die Schweizer lieben für das Ergebnis ihres Volksentscheides, wenn der Abriss aller Kirchtürme und die Entlassung aller Pfaffen inklusive wäre. Denn im Lichte der Aufklärung betrachtet, ist so mancher gewöhnliche Religiöse nichts weiter als ein gewöhnlicher Faschist, dem unter Zahlung eines ungeheuren Blutzolls in einigen Gegenden das Rutenbündel entwunden, dem zur Irreführung des Rationellen ein debiles Lächeln aufs Gesicht gemalt wurde, der sich aber seine schmalgeistige Peitsche im Quellgebiet des Rheins gerade zurückerobert hat.

Die Technik des Weihnachtens

Beitrag von Christoph Spehr, geschrieben am 19.12.2009

Tante Erna und Onkel Hubert schicken keinen Scheck. Sie bringen ihr Geschenk. Sie wollen das Leuchten in den Augen sehen, den freudigen Dank hören, wenn die Beschenkten das Papier beiseite schieben und jene Liebesgabe entnehmen, die nie ohne pädagogische Absicht ausgewählt wurde. Jedenfalls verkörpert das Präsent etwas, wovon Erna und Hubert glauben, dass die Beschenkten es dringend brauchen.

Wenn wir die Schleife aufgezogen haben und den Inhalt mit schreckgeweiteten Augen in Händen halten, dann, nach einem kurzen Moment der Erstarrung, entringt es sich unserer zusammengeschnürten Kehle – jenes unvergleichliche, gepresste „Uh, oh, danke!“

Damit ist aber die Geschichte noch nicht zu Ende. Natürlich ist das rote Häkelmützchen von Tante Erna, das die Nichte so trefflich vor Kopfgrippe schützen würde, unter zivilisierten Menschen vollkommen untragbar. Aber in Verbindung mit etwas Holzwolle ergibt es ein warmes, hübsches Sneeze & Snuggle Home, an dem die Meerschweinchen viel Freude haben. Ebenso sicher kann man Onkel Huberts „Windjammer auf großer Fahrt“, das dem schwächlichen Neffen endlich etwas hanseatisches Lebensgefühl verschaffen soll, nicht im Regal ertragen, geschweige denn lesen. Mit zusammengeklebten Seiten jedoch stellt der massive, schweinsledergebundene Klotz einen repräsentativen Tischuntersetzer dar, auf dem sich auch das heißeste Chili con carne abstellen lässt. Erna und Hubert kommen ja sonst nie.

Keine Gesellschaft, keine Kultur, die diesen Vorgang nicht kennt. Er stellt ein universales Verhaltensmuster dar, das in der einschlägigen Fachliteratur – wie im Standardwerk von Walter Nikolaus und Pamela Ruprecht über „The Policy of X-massing“, Reindeer Press, 1989 – als die „Technik des Weihnachtens“ beschrieben wird. Nach Auffassung der beiden AutorInnen gehören zum Weihnachten immer zwei Aspekte: die rituelle Danksagung und die kreative Verwendung. Geweihnachtet wird überall dort, wo Liebesgaben und Macht zusammentreffen. Wir können es uns nicht leisten, Tante Erna und Onkel Hubert tödlich zu beleidigen, solange wir noch hoffen, ihr Häuschen an der Spree zu erben. Also weihnachten wir.

Die Technik des Weihnachtens ist eine gesellschaftliche Praxis. Sie findet nicht nur an den Feiertagen statt und auch nicht unbedingt zwischen Individuen. Nicht selten wird sie zwischen gesellschaftlichen Gruppen angewandt. Der Spiegel widmete seinerzeit eine zwölfseitige Polemik („Der entsorgte Vater“) der simplen Tatsache, dass Frauen auf die gesellschaftliche Machtstellung von Männern mitunter dadurch antworten, dass sie weihnachten.

Männer sind bekanntlich nicht bereit, die Arbeit der Kinderaufzucht, die immer noch nahezu ausschließlich von Frauen betrieben wird, durch einen männerfinanzierten Unterstützungsfonds anonym und angemessen zu bezahlen. Stattdessen bieten sie sich penetrant als Väter, Ehemänner und Familienvorstände an – gestützt auf ihre arbeitsmarktpolitischen Privilegien. Das heißt, sie sehen sich persönlich als ein Präsent an, das eine Frau ihrer Meinung nach unbedingt haben muss. Wenn Frauen den dargebotenen Mann nach erfolgtem Heiratsantrag annehmen („uh, oh, danke!“), ihn dann aber nach erfolgreicher Scheidung zu einem anonymisierten Unterstützungszahler verweihnachten, ist das Unverständnis groß – obwohl doch ein Blick in das Kapitel „X-massing and Gender“ bei Nikolaus/Ruprecht genügt hätte.

Mit Abstand am häufigsten wird zwischen Mensch und Staat geweihnachtet. Dies wundert nicht, gibt uns doch der Staat nie das, was wir brauchen. Obwohl alle Staaten notorisch pleite sind, sind alle Staaten notorische Schenker. Wenige beweisen dabei soviel Einfühlungsvermögen und Realismus wie die sandinistische Regierung in Nicaragua, die dem Volk zum zehnjährigen Revolutionsjubiläum eine nationale Filterzigarette schenkte. Meist schenken Staaten nutzloses Zeug: der Führer schenkt dem Volk ein Stadion, Stalin schenkt dem Volk ein Denkmal, Herzog schenkte Deutschland einen Ruck, Schröder schenkte dem Volk Finanzinvestoren.

Es wäre ein Elend mit dem Staat, ließe sich nicht manches weihnachten. Nehmen wir zum Beispiel unsere Freundin Paula. Paula hat einen Beruf, in dem sie seit Jahren keine feste Anstellung mehr hatte, was in der heutigen Zeit nicht weiter verwunderlich ist. Der Staat sieht das so: Paula braucht dringend Arbeit; ihr ganzes Leben und Streben sollte darauf gerichtet sein, wieder eine feste Anstellung zu erlangen, und nur unter dieser Bedingung – und damit sie sich darum hinreichend kümmern kann – schenkte der Staat Paula (in der Zeit vor Hartz IV) Arbeitslosenhilfe.

Paula sieht das vollkommen anders. Das letzte, was ihr fehlt, ist Arbeit, davon hat sie genug. Meistens Honorarjobs, von denen sie allerdings nicht leben kann. Ein fester Job mit 40 bis 50 Stunden außer Haus scheidet sowieso aus, solange sie sich um ihre Tochter kümmern muss. Die Zahl der „Arbeitslosen“ würde sich dadurch auch nicht verringern, dass sie den festen Job annimmt und jemand anders ihn dafür nicht kriegt. Also sagte Paula „uh, oh, danke!“, nahm die Arbeitslosenhilfe und verweihnachtete sie auf eigene Faust zu einem höchst fortschrittlichen volkswirtschaftlichen Instrument, das irgendwo zwischen allgemeiner Grundsicherung und aufstockender Wirtschaftsförderung lag – wie viele andere Menschen das auch taten, deren Existenzgrundlage und volkswirtschaftliche Leistung als Schlosser, Redakteurin, Heimarbeiterin etc. längst weggefallen wäre, wenn sie die staatliche Liebesgabe nicht stillschweigend ein wenig in ihrem Sinn reformiert hätten. Das waren Zeiten der ökonomischen Vernunft. Dann kamen die Arbeitsmarktreformen.

Im gesamten Bereich der Projekteszene ist es bekanntlich unmöglich. Geld für Bleistifte zu bekommen oder jemand einzustellen, der einfach nur die Arbeit macht, die sonst liegenbleibt. Geht nicht. Der Staat hat stattdessen eine lange Liste von sperrigen Geschenken. Nur wer „uh, oh, danke!“ sagt, einen tonnenschweren Antrag für die „Einrichtung einer Beratungsstelle für AlkoholikerInnen in betrieblichen Leitungspositionen mit Sehbehinderungen“ schreibt und das Geschenk annimmt, kann endlich Bleistifte kaufen und die liegengebliebene allgemeine Arbeit erledigen lassen, weil es so viele sehbehinderte ManagerInnen mit Alkoholproblemen nun auch wieder nicht gibt, die in die Sprechstunde drängen.

Im Allgemeinen gilt die Regel, dass Geschenke desto lieber gegeben werden, je absurder sie sind. Versuchen Sie mal, von der Deutschen Forschungsgesellschaft Geld für ein kleines Uniprojekt zur Armutsforschung oder für arbeitnehmerorientierte Entscheidungsstrukturen im Betrieb zu kriegen. Sinnlos! Aber eines über „Die gesellschaftliche Relevanz des Flamenco und seiner verschiedenen Untergruppen für das Spanien des 17.Jahrhunderts“ – geschenkt. Müssen Sie dann selber sehen, wie Sie das weihnachten.

Obwohl junge Menschen, wenn sie die Schule hinter sich haben, dringend eine längere Phase der Selbstfindung und Selbstunterrichtung brauchen, kriegen sie die natürlich nicht, aber der Staat schenkt ihnen Bildung. Früher sagten sie dann „uh, oh, danke!“, schrieben sich irgendwo ein, malten „Meer Bildunk!“ auf ihre Plakate, so wie Politiker das gerne lesen, kassierten ihr BAföG und versuchten aus den gewonnenen Jahren was Vernünftiges zu machen: Bücher zu schreiben, Unternehmen zu gründen, soziale und politische Erfahrungen zu sammeln. Auch dies war eine ökonomisch höchst vernünftige Investition in eine demokratische, mündige Gesellschaft und in eine Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung. Dann kam Bologna.

Der Staat denkt auch nicht im Traum daran, jungen Menschen angemessene Jugendzentren in ausreichender Zahl zur Verfügung zu stellen. Aber früher schenkte er ihnen Schulen, wo sie in geheizten Räumen und auf geräumigen Pausenhöfen ihrem Bedürfnis nach Kommunikation und Gesellschaft nachgehen konnten – abgesehen von störenden Interventionen des Lehrpersonals, das zumeist nicht begriff, dass hier ein sozialpolitisch wertvoller Verweihnachtungsprozess stattfand. Der Staat gab SchülerInnen auch damals kein kreatives Bastelmaterial, aber er schenkte ihnen wenigstens Schulbücher, aus denen sich was machen ließ. Niemand gab ihnen Geld für Zigaretten, aber mit ein klein wenig Glück taten es auch die häuslichen Zuschüsse für gesundes Pausenbrot am Schulstand, und schon konnte man sich in der Pause hinters Schulgelände stellen und sich sozial integrieren. Alles kein Grund zur Panik – solange sich weihnachten lässt. Dann kamen PISA, IGLU und die Schulobstspeisung.

Wer glaubt, Weihnachten sei eine Sache für Marginalisierte, der irrt. Sie können eine Schule leiten – Bleistifte kriegen Sie trotzdem nicht. Und wenn, dann ganz viele. Weil nämlich das Schulamt am 21.Dezember noch Geld übrig hat, Ihnen was Gutes tun will und Ihnen Geld schenkt, viel Geld – aber nur für Büromaterial, Massen von Büromaterial, das Sie sofort kaufen müssen, weil Sie bis Silvester die Quittung vorlegen müssen. Sie brauchen eigentlich einen PC für zusätzlichen EDV-Unterricht? Vergessen Sie’s.

Aber wenn Sie die Massen von Büromaterial nehmen und klammheimlich an die MitarbeiterInnen als Spende abgeben, dann geht’s doch. Sie können vielleicht auch mit den Direktoren der umliegenden Schulen handeln. Die ersticken möglicherweise an Bauholz für Geräteschuppen aus dem vergangenen Jahr. Und wenn man Regale draus baut, das Büromaterial reinstellt und einen Basar macht … Genau, einen „Weihnachtsbasar“ eben, zum Basar zum Weihnachten.

Zu Zeiten des Sozialismus gab es ganze Produktionseinheiten, die nie gebaut wurden, weil sämtliche Lieferungen komplett verweihnachtet wurden. Anders ließ sich ein vernünftiger Betrieb gar nicht aufrechterhalten. Woher soll der Staat auch wissen, was wirklich gebraucht wird?

Kluge Verwandte schauen nicht nach. Sie erkundigen sich bestenfalls – und mit einem dankbaren „Echt klasse, mit deiner Mütze!“ geben sie sich zufrieden. Das unterscheidet sie von doofen Verwandten, die Überraschungsbesuche machen, Nachbarn aushorchen und um jeden Preis wissen wollen, ob ihr Geschenk auch so verwendet wird, wie sie sich’s gedacht haben. Das kann nicht gutgehen. Über kurz oder lang sind hässliche Szenen und der endgültige Bruch der Freundschaft die Folge. Denn wenn wir das Mützchen wirklich tragen oder die Windjammer wirklich lesen müssen, brauchen wir’s nicht. Und pfeif‘ auf das Erbhäuschen an der Spree!

Kluge Staaten leben mit dem Weihnachten, wohl wissend, dass niemand effektiver, flexibler und erfolgreicher staatliche Gelder zu verwenden versteht als ein Volk, das zu weihnachten gelernt hat. Nikolaus/Ruprecht nennen solche Staaten zutreffend „Weihnachtskeynesianer“, wegen der langen Ketten phantastischer Wertschöpfung, der kreativen Stimmung im Volk, und weil in diesen Ländern Dinge realisiert werden, die der Staat sich sonst nicht leisten könnte.

Nur blöde Staaten mischen sich ständig ein. Und das kann nicht gutgehen. Denn mag der Staat auch noch soviel von Korruption, Leistungserschleichung, Sozialbetrug, missbräuchlicher Verwendung öffentlicher Gelder schwadronieren – er kann schlecht ein ganzes Volk entlassen und sich ein neues wählen, wie Brecht seinerzeit anmerkte. So was gibt irgendwann ein ganz böses Erwachen.

Allerdings ist die Großzügigkeit des Staates beim Hinschauen nur die eine der beiden Qualitäten, auf die es ankommt. Das Ganze hat auch noch eine stoffliche Seite. Doofe Staaten neigen zu Geschenken, die sich beim besten Willen nicht vernünftig weihnachten lassen. Das ist ökonomisch äußerst kontraproduktiv. Einen Eurofighter können Sie nicht gut weihnachten; als Behälter für Geranien oder als Abenteuerspielzeug für die Kleinen sprengt er leider jeden Kleingarten. Stillgelegte AKWs gäben an sich interessante Squashhallen ab, angesichts der notwendigen Schutzbekleidung kommt jedoch nur wenig Freude am Spielen auf.

Auf protzigen Kunstgeschenken ans Volk wie dem Bremer „Klangbogen“ – ein paar Edelstahlröhren, die senkrecht zum Himmel stehen und japanische Musik dudeln – ließen sich zur Not noch ein paar Leinen spannen und Wäsche aufhängen. Allein: ab zwei Meter Höhe wird’s mühsam. Und wollen Sie die reichen gentechnischen Erfindungen, mit denen uns der Staat unter Aufbietung schwerster Mittelanstrengungen beschenkt, wirklich Ihren Kindern zum Spielen geben?

Weihnachten ist also eine wunderbare Sache. Solange der Staat sich an die Regeln hält (praktische, vielseitige Geschenke machen; keine überzogenen Geschenke ins Ausland verschieben; nicht übertrieben penibel nachschauen), kann er nämlich gar nicht viel falsch machen. Es regelt sich doch alles irgendwie. Vorausgesetzt, er verfügt über ein kluges, solidarisches, kreatives und ans Weihnachten gewöhnte Volk. Und hier haben wir in Deutschland, trotz vereinzelter guter Leistungen in der ehemaligen DDR, großen Nachholbedarf.

Die verschiedensten Typen und Gruppen von Menschen gewöhnen sich ans Weihnachten, bis auf zwei: die Weihnachtsstreber und die Weihnachtsmuffel. Weihnachtsstreber sind Menschen, die das Mützchen wirklich aufsetzen. Menschen, die nie ein anderes Bedürfnis entwickelt haben, als rote Häkelmaschen auf dem Kopf zu tragen und „Windjammer auf großer Fahrt“ zu lesen.

Solche Menschen sind bedauernswerte Geschöpfe, die keine Hemmungen haben, sich zum Idioten zu machen und ein lächerliches Leben zu führen. Aber sie sind auch gefährlich. Der Weihnachtsstreber spürt unbewusst nämlich sehr wohl, dass er trotz aller Anpassungsleistungen wie eine Vogelscheuche herumläuft, während die anderen glückliche Meerschweinchen haben und gesellige Abende mit Chili con carne verbringen.

Das nagt und zehrt, und so wird der Weihnachtsstreber seine einzige Befriedigung darin finden, übers Weihnachten zu schimpfen und selbst seine Großmutter ans Messer zu liefern, bloß weil die Opas Tod ein paar Jahre später meldet, damit die Enkel von der Rente noch studieren können. Er ist ein antisoziales Subjekt, und Nikolaus/Ruprecht belegen eindrucksvoll (in ihrem erschütternden Kapitel über „X-mas Pathologies“), dass der Weihnachtsstreber lieber hungert und vereinsamt, als sein Verhalten zu korrigieren.

Hoffnung besteht dagegen noch für die Weihnachtsmuffel. Die bringen es nicht fertig, das Mützchen den Meerschweinchen zu geben, aber sie tragen es wenigstens nicht selber. Sie schimpfen übers Weihnachten, aber im Ernstfall bescheinigen sie Oma, wenn auch unter schwersten Verwünschungen und inneren Krämpfen, dass sie Opa vor ein paar Wochen noch munter beim Holzhacken gesehen haben. Sie spüren die segensreichen Wirkungen des Weihnachtens um sich herum, auch wenn sie extreme Vorbehalte dagegen haben. Und im Gegensatz zu den Weihnachtsstrebern entscheiden sie sich, wenn es hart auf hart kommt, für die Seite des Lebens.

Das Schlimme an Muffeln und Strebern ist, dass sie ihre persönliche Unfähigkeit immer gleich zur Theorie, ja zur Moral aufblasen müssen. Während die Weihnachtsstreber überwiegend dem Neoliberalismus anhängen („Aufgesetzt wird, was auf den Tisch kommt“), träumen die Weihnachtsmuffel von einem Staat, in dem niemand mehr weihnachten muss. Allen historischen Erfahrungen zum Trotz hoffen sie auf den gerechten Staat, ehrlich und direkt, wo jeder kriegt, was er braucht, und das ganze krumme Weihnachten abgeschafft ist.

Liebe Muffel, das könnte euch so passen! Wir nämlich wollen weihnachten. Wir wollen keine vernünftigen Gaben, die wir vorher selbst ausgesucht haben, lustlos gruppiert unterm fair gefällten Baum, gleich nach dem ernährungsbewussten Dessert. Wir wollen fette Gänse und kitschige Bäume! Wir wollen das Fest der Liebe und den Horror der Bescherung! Wir wollen den Grusel der Geschenke, den luziferischen Kitzel, wenn wir „oh, wie schön!“ hauchen, und fieberhaft nach einer möglichen Verweihnachtung suchen! Wir wollen die halsbrecherische Umverwendung, die uns auf Ideen bringt, die uns sonst nie gekommen wären!

Wir sind süchtig nach den Momenten, in denen wir mit der linken Hand die Meerschweinchen aus der Mütze schütteln, bevor wir mit der rechten Hand Erna die Tür aufmachen. Wir sind sicher, dass Karl Marx mit dem Absterben des Staates nichts anderes gemeint haben kann als dessen kreative Verweihnachtung.

Und der beste Tag des Jahres ist für uns Dreikönig. Wenn wir nach dem Fest der Liebe wieder verschwörerisch in der Kantine sitzen und uns erzählen: „Kannst du dir vorstellen, was ich von Erna und Hubert gekriegt habe?“ Kunstpause. Mit gesenkter Stimme: „Und kannst du dir vorstellen, was ich daraus machen werde?“

Der Text erschien erstmals am 20.12.1997 in der taz und wurde nur um einige Einschränkungen ergänzt, die uns durch weihnachtsfeindliche „Reformen“ inzwischen bedauerlicher Weise aufgezwungen wurden.

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