Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog

Kopenhagen: KritikerInnen in die Knäste?

Beitrag von Norbert Schepers, geschrieben am 16.12.2009
Tadzio Müller, Klimaaktivist

Während beim Kopenhagener Klimagipfel die Repression gegen Proteste und Kritik heute weitere absurde Höhepunkte erreichte (vor allem die vorbeugende Festnahme von 1.000 DemonstrantInnen bei der Großdemonstration am Samstag und von 200 weiteren DemonstrantInnen am Sonntag), wurde gestern einer der Sprecher der globalen Klimagerechtigkeitsbewegung, der Autor und Wissenschaftler Tadzio Müller, von einer Pressekonferenz des weltweiten Netzwerks Climate Justice Action (CJA) zu den heutigen Protestaktionen weg verhaftet.

Ein Polizeisprecher warf Tadzio Müller "Widerstand gegen die Staatsgewalt" und "Unruhestiftung" vor; er wurde heute einem Gericht vorgeführt, die Öffentlichkeit blieb dabei mit Hinweis auf sensibles Beweismaterial (laut Polizei abgehörte Telefone) ausgesperrt. Er soll laut seiner Anwältin weitere drei Tage inhaftiert bleiben und dann erneut dem Haftrichter vorgeführt werden. Updates dazu hier bei Turbulence und bei Gegenstrom Berlin. – Inzwischen gibt es eine Petition zur Freilassung von Tadzio Müller und den anderen Klimagefangenen zum Mitzeichnen. (Für den Überblick noch eine Linkssammlung bei der RLS sowie eine Solidaritätsseite bei Facebook.)

Update 19.12.:
Während etliche KlimaaktivistInnen in Kopenhagen noch in Haft sind, wurde CJA-Sprecher Tadzio Müller heute nachmittag nach vier Tagen endlich aus der Haft entlassen, die Vorwürfe werden allerdings aufrecht erhalten.

Inzwischen wurden mindestens zwei weitere SprecherInnen von CJA am Rande von Demonstrationen verhaftet. Insbesondere nach den Massenfestnahmen vom vorherigen Wochenende kann gesagt werden, dass sich Befürchtungen im Vorfeld in Bezug auf umfassende, präventive Einschränkungen von bürgerlichen Rechten bestätigt haben. Offenbar soll nicht nur jeglicher Protest in der Nähe des Tagungsgeländes unterbunden, sondern auch Kritik quasi bestraft werden.

Naomi Klein hierzu treffend: „Die Polizei glaubt offenbar, den Protest dadurch stoppen zu können, dass sie einige der Köpfe dahinter verhaftet. Aber wir werden morgen trotzdem zu Tausenden auf der Straße sein!“

Zum Download anbei eine Protestnote der Rosa-Luxemburg-Stiftung:

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigt sich solidarisch mit den Demonstrationen gegen das drohende Scheitern des UN-Weltklimagipfels in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen. "Gewaltfreier Protest ist dringend nötig", sagte das geschäftsführende Vorstandsmitglied Florian Weis. Angesichts des Stillstands bei den Verhandlungen könne nur starke gesellschaftliche Gegenwehr für ein Umdenken in der Klimafrage bei den Industriestaaten und führenden Schwellenländern sorgen.
Scharfe Kritik ruft das Vorgehen der dänischen Polizei gegen Demonstrantinnen und Demonstranten während der Gipfeltage hervor.

"Die Einheit der Partei ist in Gefahr!"

Beitrag von Kolja Möller/Jörg Schindler, geschrieben am 11.12.2009

Es mehren sich die Stimmen, die diesen Befund mit großem Pathos nutzen, um ihre Vorstellungen einer linken Politik einer kritischen Prüfung zu entziehen. So aktuell ein „Offener Brief“ verschiedener Parteimitglieder aus dem Apparat der Bundestagsfraktion. Parteiräson statt Diskussion, ordre di mufti statt Erarbeitung gemeinsamer Standpunkte. Und dann – statt offener Benennung der seit langem in der Partei bestehenden politischen Differenzen – die Überbetonung der Form gegenüber dem Inhalt: Maßgeblich sei…

…die Einheit der Partei.
Das Praktische an der stetig gefährdeten Einheit, die von allen aufrechten und moralisch beflissenen Genossen gegen Eindringlinge, Dissidenzen und Abweichungen verteidigt werden muss, ist, dass mit ihr so ziemlich alles gerechtfertigt werden kann: Der aufgeklärte Absolutismus des Mittelalters sah die Staatssouveränität ständig gefährdet; Müntefering sah mit der WASG-Gründung 2004 die Einheit der Arbeiterbewegung gefährdet, der Frankfurter Universitätspräsident, der kürzlich die Uni von Besetzern räumen ließ, die Einheit und Integrität seiner Bildungseinrichtung. Es gibt zwei weitere Vorteile des Einheitsarguments: Es ist einfach, weil es auf sich verweist und kein anderes Ziel angibt als es selbst: Die Einheit ist das Ziel, weil das Ziel die Einheit ist. Und dann ist es praktisch, weil es auch in zeitlicher Hinsicht omnipräsent ist: Es gab wahrscheinlich keinen Zeitpunkt in der Geschichte sozialer und politischer Bewegungen, in der ihre Einheit nicht durch irgendwas oder irgendwen „gefährdet“ gewesen wäre. Die Rhetorik der im Verzug befindlichen Gefahr jedenfalls ist keine sonderlich linke Argumentation; sie gehört zum Souveränitäts- und Ausnahmezustandsdenken konservativer Staatspolitik.

Es gibt keine Einheit.
Die spannnende Frage ist jedoch: Wie geht eine linke Partei damit um, dass es eben – wie wir von Marx und Engels lernen können – wenigstens vor dem Kommunismus nie wirkliche Einheit, sondern immer nur Widersprüche und Differenzen geben wird. Zur Erinnerung: Die kapitalistische Gesellschaft ist wenigstens klassengespalten, wenn nicht noch mehr. Wie geht eine linke Partei mit gesellschaftlichem und politischem Pluralismus um? Wie bündelt sie Anliegen und wir erreicht sie es aus diesem Pluralismus heraus etwas gemeinsam Anerkanntes herauszuarbeiten, das dann tatsächlich identitätsstiftend wirkt? Die Strategie der Parteiräson jedenfalls ist kurzsichtig: Wer sich in Erklärungen und Briefen zur „eigentlichen“ Partei erklärt und die jeweils Anderen im Grunde rausschmeißen will, untergräbt sein eigenes Einheits- und Stärkegebaren, weil die Gesamtkonstruktion interessanterweise dadurch nicht stärker, sondern schwächer wird.

Deshalb drüber reden.
Was zu folgendem führt: Die Differenzen zu verschiedenen politischen Fragen, sei es zur Stellung öffentlichen Eigentums und des Umfangs des öffentlichen Dienstleistungssektors, der Notwendigkeit der Haushaltskonsolidierung, der UN-mandatierten Kriegseinsätze, des Umbaus der sozialen Sicherungssysteme und im Übrigen der Rolle der gesellschaftlichen Arbeit überhaupt, des europäischen Raums als politischen Kampfort und nicht zuletzt die Frage, ob der „demokratische Sozialismus“ ein umfassendes alternatives Gesellschaftsmodell oder ein eher unverbindlicher Wertehimmel ist, sind nicht erst seit der Veröffentlichung im „Spiegel“ mit Händen zu greifen. Deshalb war es richtig, die WASG und später die neue Partei „DIE LINKE“ als linke Sammlungsbewegung zu konzipieren. Das schließt gerade die Anerkennung der Differenzen notwendig ein. Schon deshalb muss also jetzt darüber geredet werden. Das gilt selbst für diejenigen, die – wie die Verfasser des „Offenen Briefes“ – der Meinung sind, dass die Positionen der Programmatischen Eckpunkte und des Wahlprogramms allesamt so bleiben müssen. Schon, damit es so bliebe.

Katholiban

Beitrag von Jörg Schindler, geschrieben am 08.11.2009

Während Deutschland unsere Freiheit am Hindukusch vor den Gotteskriegern der Taliban standhaft verteidigt, erwächst direkt im Herzen Europas, in Italien, eine neue Gefahr. So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg am 3. November entschieden: Kruzifixe in italienischen Klassenzimmern verstoßen gegen die Religionsfreiheit. Schließlich dürfen Kinder nicht gezwungen werden, unter religiösen Symbolen sitzen zu müssen, wenn sie nichts oder an etwas ganz anderes als an den christlichen Lattensepp glauben. Papst und Berlusconi-Regierung empören sich.

notwendiger demokratischer Laizismus

So weit, so schön. Eigentlich ist das völlig logisch und wurde bereits vor Jahren auch vom deutschen Verfassungsgericht - damals gemünzt auf das bayerische Schulgesetz - so gesehen. Es entspricht im Übrigen der notwendigen Geschäftsgrundlage jeglicher bürgerlich-demokratischen Staatlichkeit: Entscheidungen im Diesseits treffen ausschließlich die staatlichen Behörden. Die Zuständigkeit diverser Erleuchter beschränkt sich dagegen auf den privaten Bereich und das Jenseits. Nicht ganz zu Unrecht gelten Staaten, in denen der republikanische Laizismus nicht oder nur eingeschränkt gilt, als unsichere Kantonisten. Religiös abgeleitete Willkürentscheidungen im Staat können sowohl die Kapitalinvestition als auch das nackte Leben recht schnell und brachial beenden. Fehlende Gewaltenteilung und Nichtachtung von Gerichtsurteilen durch staatliche Stellen, die unter Kuratel diverser Guru-Vereine stehen, schaffen keine Planungssicherheit für Mensch und Kapital. Dies und nichts anderes ist das Problem der "westlichen Welt" mit den Taliban.

Gotteskrieger bekämpfen,...

Deshalb muss der Westen jetzt endlich nicht nur die Taliban, sondern auch ihre italienischen Brüder aus dem Vatikan, die Katholiban, zurückdrängen. Schließlich haben die sich mit Berlusconi mittlerweile in der römischen Regierung einen fundamentalistischen Vasallen installiert, der öffentlich erklärt, die Entscheidung des Gerichts nicht zu akzeptieren und insbesondere auch die verhängte Entschädigung - 5.000 Euro - nicht zu zahlen. Der italienische Kulturminister Bondi meinte gar, der Glaube an Jesus sei Gründungsgrundlage Europas. Die Anleihen der Katholiban bei den Taliban sind unverkennbar.

...unsere Freiheit am Tiber verteidigen.

Fragt sich nur, wie lange sich der freie Westen diese fundamentalistischen Bestrebungen noch gefallen lassen will. Wann schickt Merkel endlich Schutztruppen nach Rom, um der bedrängten Klägerfamilie Lautsi zu helfen und unsere Freiheit auch am Tiber zu verteidigen?

Another Glorious Day

Beitrag von Ulrich Behrens, geschrieben am 03.11.2009

One – two – three – four. Für Sekunden glaubt man an ein Ballett. Es entpuppt sich als Ballett des Terrors. Jeglicher Vergleich erübrigt sich angesichts dessen, was man zu sehen und zu hören bekommt. "It's all over now, baby blue", hört man einen Schauspieler singen. Die Mischung aus gefilmten Theater(proben), Straßenszenen und Kurzinterviews über ein Militärgefängnis der amerikanischen Marineinfanterie 1957 in Okinawa geht auf eigene Erfahrungen (eine 30 Tage währenden Tortur in einem amerikanischen Militärgefängnis) des Drehbuchautors Kenneth H. Brown zurück, dessen Stück "The Brig" 1963 uraufgeführt wurde und im selben Jahr mit dem "OBIE Award for the Best Play of 1963" ausgezeichnet wurde. Das Ensemble, das damals das Stück spielte, ist das "Living Theatre", gegründet 1947 von Judith Malina, einer in Deutschland 1926 geborenen ehemaligen Studentin von Erwin Piscator, und Julian Beck (1925-1985), einem abstrakten expressionistischen Maler der New York School. Näheres zum "Living Theatre" kann man auf dessen Homepage nachlesen (1). Den amerikanischen Behörden war "The Brig" schnell ein Dorn im Auge; man schloss das Theater unter dem Vorwand angeblicher Steuerschulden. Doch Malina und Beck und die anderen ließen sich keineswegs unterkriegen. Man zog durch die Welt, eckte an, wo man nur anecken kann – und heute existiert das Theater noch immer.

Im Frühjahr 2008 wurde "The Brig" in der Akademie der Künste in Berlin wiederaufgeführt. Man ging mit dem Ensemble auch auf die Straße. Im Film sind Menschentrauben zu sehen, die den Schauspielern auf der Straße zusehen. Malina, Brown, und auch Beck (in einem früheren Interview) kommen im Film zwischen den Szenen des Stücks zu Wort. Auch die Schauspieler äußern sich.

"The Brig" kommt nun in die Kinos – aber nicht als ausschließlich gefilmtes Theaterstück, sondern eben in der o.g. Mischung aus Dokumentation, Straßenszenen und Interviews. Karin Kaper und Dirk Szuszies aus Berlin haben diesen Film produziert (2). Und um es vorwegzunehmen: Sie muten uns 95 Minuten Terror zu. Zumutungskino statt Unterhaltungskino. Nicht jeder "steht" auf so etwas. Aber ich empfehle auch denen, die solche Filme eher meiden, sich diesen zuzumuten.

Wir sehen zehn US-Soldaten und vier Aufseher in einem Militärgefängnis. Zeit und Ort spielen keine Rolle. In der Mitte der Bühne sehen wir einen durch Maschendraht umzäunten Käfig mit fünf Doppelbetten der gefangenen Soldaten, ein schmales Regal über den Betten. Links von diesem Käfig befindet sich ein Raum mit einer Art Theke. Ein Soldat gibt dort Eimer und Putzlumpen an die Gefangenen aus. Daneben sehen wir einen vielleicht ein mal ein Meter großen Raum – eine Einzelzelle, in die die Gefangenen wegen Disziplinverstößen verbannt werden. Rechts vom Käfig befindet sich eine Tür zur Toilette und der Ausgang. Jeder dieser funktionalen Bereiche ist von den angrenzenden durch eine weiße Linie getrennt. Diese Linie dürfen die gefangenen Soldaten nur mit Erlaubnis der vier Wärter übertreten.

In dieser streng reglementierten Raumstruktur spielt sich ab, was man als Bestrafung, Herstellung von Disziplin kaum noch bezeichnen kann. Tatsächlich handelt es sich um ein Ballett des Terrors, das aufgrund systematischer, bis in alle Einzelheiten durchdachter Reglements nur ein Ziel kennt: die Degradierung der gefangenen Soldaten zu Objekten. Jede, aber auch wirklich jede Lebensäußerung, jede noch so banale alltägliche Tätigkeit – Putzen, Lesen (natürlich nur im "Guidebook for Marines", das die Soldaten im Stehen direkt vor ihr Gesicht halten müssen), Rauchen, Essen, Schlafen usw. – unterliegt einer absoluten Herrschaft der vier Aufseher. Die Marines dürfen nicht gehen, nicht einmal im üblichen Sinn des Wortes marschieren. Sie sind gezwungen, mit nach oben angezogenen Ellenbogen und geballten Fäusten zu gehen – egal wohin und wozu. Jede Unregelmäßigkeit, jedes vermeintliche Fehlverhalten, ja, jede Ungeschicklichkeit eines Marines wird notiert und geahndet, zumeist mit Schlägen in die Magengrube. Dieses gesamte Geschehen, in dem der Tagesablauf systematisch und vollständig der Kontrolle der Aufseher unterliegt, degradiert diese Marines zu maschinellen Wesen. Irgendeine individuelle Regung ist in diesem System – das schon weit über das militärische System von Befehl und Gehorsam hinausgeht – unmöglich. Es erinnert allerdings stark an den ersten Teil von Kubricks 1987 gedrehten Film "Full Metal Jacket", in dem Soldaten für den Vietnam-Krieg auf ähnliche Weise zurecht-terrorisiert werden.

Das Theaterstück wie dieser Film über das Stück zeigen gefügig gemachte Körper und Seelen, die der Herrschaft der Aufseher nicht entkommen können. "Umrahmt" wird dieser Terror durch fast ständige Schreierei bzw. ein en detail festgelegtes Regelwerk von Fragen, die keine sind, und Antworten, die ebenfalls keine sind. Es geht nicht um Befehl und Gehorsam, sondern um Funktionieren in einer absolut erniedrigenden Weise. Denn Sprache und Kommunikation verkommen hier zu einer mechanischen Anweisungszeremonie des Terrors. Sprache ist hier nur Gewalt – direkte Gewalt. Als einer der Marines im Käfig seine Mütze auf dem Kopf gelassen hat, zwingt ihn ein Aufseher, sein "Vergehen" der Toilettenschüssel zu beichten. Die Marines selbst werden von den Aufsehern bezeichnet als Maden, letzter Dreck, Mädchen, Weicheier, Läuse. Das deutet auf einen weiteren Punkt, nämlich die Sexualisierung des Geschehens. In zweierlei Hinsicht: Zum einen verschafft die Drangsalierung den Aufsehern einen Lustgewinn. Sexualität verkommt hier zur Machtausübung über den Körper der Gepeinigten. Zum zweiten soll dieser Terror und die Kennzeichnung der Marines als "Mädchen" oder "Weicheier" aber auch die Entsexualisierung der Opfer selbst bewirken. Sie sind keine Männer, auch und gerade nicht im sexuellen Sinn – sie sind Lustspielzeug der Aufseher.

Allerdings sagt diese Inszenierung des Terrors nicht nur etwas über den Terror selbst aus. Das Herausschreien der vorgegebenen "Antworten" und Gehorsamsbekundungen ist für die Marines eben auch eine der beiden Möglichkeiten, sich in gewisser Weise Luft zu verschaffen. Und der totale körperliche Drill, der sie einerseits zu maschinenähnlichen Wesen degradieren soll, ist doch zugleich auch geprägt von einem physischen Entladen, nicht im üblichen Sinne einer "inneren Rebellion", sondern im Sinne einer im Zwang noch sichtbaren körperlichen Rebellion gegen die Peiniger (die sich oft schmunzelnd über ihre Opfer mokieren) und die peinigende Struktur.

Das zentrale Kennzeichen des Faschismus in all seinen Ausprägungen ist nicht so sehr Rassismus. Der Kern des Faschismus ist die Degradierung von menschlichen Subjekten zu Objekten, zu Sachen. Das gilt auch – in einem historischen Kontext – etwa für die "arischen Volksgenossen", also jene, die dem Rassismus gar nicht ausgesetzt sind. Sie müssen als Kampf- und Kriegsmaschinen, ihre Frauen als Kämpferinnen an der Heimatfront respektive Gebärmaschinen im Sinne der Ideologie funktionieren. Auch für die "Volksgenossen" galt das absolute Gehorsamsgebot und damit ihre Degradierung zur Sache. Der Rassismus ist nicht die Ursache, der Quell dieser Ideologie; er ist Folge des ideologischen Kerns des Faschismus: der Degradierung von Menschen zu Objekten.

Was hier im Film respektive Theaterstück gezeigt wird, ist nichts anderes als Faschismus – körperlich, seelisch, sprachlich usw.

Ein weiteres Moment – und das macht der Film, der sich jeglichen weiteren Kommentars der Produzenten enthält und dies auch nicht nötig hat – ist der innere Widerspruch, den der Faschismus selbst gebiert, ohne dass es seinen Protagonisten bewusst zu sein scheint: Er will Menschen jeglicher Subjektivität berauben bzw. unternimmt dies in einem fein abgestuften System der Zuteilung von Vorteilen oder Nachteilen. Während die "Volksgenossen", wenn sie funktionierten, die Chance hatten, am Raubzug der politischen Gangster teilzuhaben, sprich materielle Vorteile (eine Garantie gab es dafür natürlich nicht), gab es am anderen Ende des Systems ausschließlich die Sicherheit auf Vernichtung. Dieser totale Wille zur totalen (aber eben abgestuften) Herrschaft, zur totalen Entsubjektivierung aber, das heißt die Degradierung von Menschen zur Sache, hat seine Grenze in der unumstößlichen Wahrheit, dass es sich eben nicht um Sachen handelt, sondern um Menschen. Am Ende dieser widersprüchlichen Beziehung zwischen faschistischem Zweck und menschlicher Existenz kann stehen: Tod (im Gasofen, im Krieg, im Folterkeller der Gestapo), Überleben (durch zufällige Ereignisse, aber wohl vor allem durch die innere Kraft einiger Opfer des Terrors, überleben zu wollen) oder Rebellion.

Die Situation der Marines im Militärgefängnis zeigt eben auch die Rebellion der Körper, die Rebellion der Seelen, die etwas hinausschreien, was nur auf der einen Seite erzwungenen Gehorsam repräsentiert, in einem anderen Sinn eben auch die Verzweiflung und den Willen zum Überleben. Als einer der Marines, die ihrer Namen beraubt wurden und als Nr. 1 bis Nr. 10 tituliert werden, zusammenbricht und schreit, er wolle raus hier, nur noch raus, und er heiße nicht Nr. 6, sondern James Turner, bricht die ganze verzweifelte, und doch auch hoffende und flehende Subjektivität mit einem Mal heraus. Man sperrt ihn in die Einzelzelle, er schreit weiter, die Aufseher rufen Feldjäger, die James Turner in die Zwangsjacke stecken ... Wo er hingebracht wird, dürfte keinem Zweifel unterliegen. Der terrorisierte Marine, der auf seinem Namen besteht, wird für verrückt erklärt. Und doch ist dieser Akt der Verzweiflung, dieser physische und seelische Ausbruch ein Akt der Rebellion, das letzte, was Nr. 6 geblieben ist, um nicht vollends als Mensch unterzugehen. Für ihn ist es schon ein Schimmer von Hoffnung, aus diesem Martyrium heraus zu kommen.

Die Art und Weise, wie Karin Kaper und Dirk Szuszies durch das "einfache Abfilmen" des Theaterstücks dieses System des Terrors, des Faschismus die innere Struktur dieses Systems und die Sprache der Körper und der Rebellion offen legen, dokumentieren, ist eine Zumutung, aber eben eine unumgängliche. Der Film schockiert auch, weil er verdeutlicht, dass Faschismus keine historische Angelegenheit ist – nicht nur, wenn man an Guantanamo oder andere Lager der US-Regierung denkt, nicht nur, wenn man sich an den "Archipel Gulag" des stalinistischen Terrors erinnert, nicht nur, wenn man an das Stadion in Santiago de Chile denkt, in dem die damalige Junta Tausende hat einpferchen lassen, die später zum großen Teil ermordet wurden – und so weiter. Die Beispiele faschistoider oder faschistischer Parallelen ließen sich beliebig erweitern.

Auch wenn das "Living Theatre" eine starke anarchische Tendenz hat – ja und? Anarchie (oft verwechselt mit Terrorismus, weil einige Ex-Anarchisten später zum Terror griffen) heißt Herrschaftslosigkeit. "Niemand übe Herrschaft über mich aus. Und ich übe über niemand Herrschaft aus." Das ist der Grundgedanke der Anarchie. Ein guter, ein menschlicher Gedanke. Er steht dem, was Theaterstück und Film an Terror zeigen, diametral entgegen.

Der Film "Another Glorious Day" startet am 19.11.2009 in den Kinos.

Dritte Phase?

Beitrag von Kolja Möller, geschrieben am 02.11.2009

Die Wellen in der Diskussion um den Koalitionsvertrag zwischen SPD und der Brandenburger LINKEN schlagen hoch. Treten wir doch einen Schritt zurück und lassen die Diskussionen der LINKEN um Regierungsbeteiligungen Revue passieren: In der ersten Phase diskutierte die PDS noch vor 2005 lebhaft, ob es überhaupt möglich und erwünscht sei im bürgerlichen Staat mitzuregieren. Bekenntnisse zu dieser Frage wurden ausführlich ausgetauscht. Interessanterweise hat die Fusion mit der WASG dann eine zweite Phase eingeleitet: Die Frage nach Regierungsbeteiligungen wurde grosso modo positiv beantwortet, aber von sog. Mindestbedingungen abhängig gemacht, um dem Schicksal eines Profilverlusts in Regierungsverantwortung zu entgehen. Jetzt wäre es doch an der Zeit, gerade mit Blick auf die politische Entwicklung in den Bundesländern, für eine dritte Phase: Was sind diejenigen profilbildenden Reform-Projekte, die die LINKE in der Landesregierung umsetzen kann und die gewissermaßen als „Markenzeichen“ verdeutlichen, dass die LINKE mitregiert und einen Politikwechsel einleitet. Was wären Ansätzen, die mit dem programmatischen Anspruch der „Transformation“ ernst machen, also die Bedingungen dafür zu schaffen, dass sich bestimmte Machtverhältnisse in der Gesellschaft grundsätzlich verändern können?
Beim Blick auf den Brandenburger Koalitionsvertrag sieht es da auf beiden Ebenen leider ein bisschen mau aus: Die Verbesserung des Betreuungsschlüssels in den Schulen ist sicherlich eine wichtige Maßnahme, aber im Grunde fordern das alle Parteien und es ist fraglich, ob das der entscheidende Punkt für eine Regierungsbeteiligung abgeben an. Ähnlich sieht es mit dem eigenen Mini-Ansatz aktiver Arbeitsmarktpolitik im Wege des ÖBS aus. Wichtig und verdienstvoll, aber alleine schon ein Grund für eine Regierungsbeteiligung? Der (gescheiterte) Koalitionsvertrag von SPD und Grünen aus Hessen ging an vielen Stellen weiter und beinhaltete mit einer umfassenden Bildungsreform und einer Energiewende Reformforderungen, die leider von der SPD-Rechten und Energielobby beerdigt wurden. Wie wäre es, wenn Die LINKE sich diese beiden Projekte in allen Bundesländern zu eigen macht? Oder zumindest nicht rechts davon abbiegt?

Siebenundzwanzig Thesen zum Kommunismus

Beitrag von Thomas Seibert, geschrieben am 22.10.2009

Schlagworte:

kommunismus, krise

Krise und Ereignis, Thomas Seibert 2009

Siebenundzwanzig Thesen zum Kommunismus*

1 Einer Krise ausgesetzt zu sein, heißt immer auch, zu einer Entscheidung herausgefordert zu werden, mit ihr aber der Möglichkeit einer plötzlichen Wende begegnen zu können. Eine gefährliche Sache schon deshalb, weil es dabei um den Gebrauch des gesellschaftlichen Reichtums geht, um seine gewaltsame und im Wortsinn mörderische Vernichtung oder seine egalitäre festliche Verausgabung.
2 Die aktuelle Krise geht in ihrer politischen Ökonomie nicht auf.
3 Die Krise ist Krise des Empire*, die Herausforderung, sie zu entscheiden, stellt sich deshalb auch den Multituden* und ihren Singularitäten*. Herausgefordert ist also die wirkliche kommunistische Bewegung, d.h. ihr Antagonismus* im und zum Empire. Das qualifiziert im Umkehrschluss natürlich auch die Herausforderung selbst.
4 Die Krise ist folglich notwendig in der Perspektive ihres subjektiven Faktors* und in der Perspektive auf ihn in den Blick zu nehmen, folglich vom Primat der Kämpfe aus, ihrer Autonomie.
5 Der rechts wie links weitverbreitete Glaube*, die Krise werde auf den Boden der »Realwirtschaft« und damit der Realität zurückführen, wird enttäuscht werden, und das ist gut so. Es liegt darin eine Nötigung, Glaubensdinge ernster zu nehmen als dies in solch krudem Realismus auch nur möglich ist.
6 Die Krise ist zugleich eine solche von Biomacht* und Biopolitik*. Der Multitudenantagonismus auch.
7 Der Antagonismus schließt deshalb Kämpfe der Klassen* und gegen Ausbeutung ebenso ein wie Kämpfe gegen Herrschaft und gegen Formen der Subjektivierung*, er schließt außerdem die eigensinnige Differenz der antikolonialen bzw. antirassistischen, in bestimmter Zuspitzung notwendig antieuropäischen Kämpfe ein. Verschiedenheit wie Zusammenhang der Kämpfe folgen ihrer eigenen Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, d.h. Sequenzialität und Epochalität.
8 Erster Anhalt der Frage nach der Herkunft der Krise ist der Mai 1968, der bislang letzte Wahrheitsprozess* der Politik, sein Auf-und Abbruch, also seine Rekuperation*.
9 In politischer Hinsicht erscheint die Krise zunächst als eine solche des Kampfes von Liberalismus* und Fundamentalismus*. Wer glaubt, dass es zwischen ihnen zu wählen gilt, hat die mit ihr gestellte Herausforderung schon verpasst.
10 Liberalismus ist Transzendenzverleugnung*, Fundamentalismus Immanenzverachtung*, beide Erscheinungsformen des Nihilismus*. In ontologischer Hinsicht ist die Krise also auch eine solche des Nihilismus, noch immer.
11 Zwischen Liberalismus und Fundamentalismus, also im Zentrum der Krise des subjektiven Faktors, spielt die zynische Vernunft, in der Transzendenzverleugnung und Immanenzverachtung zusammenfallen. Sie bleibt deshalb eine zentrale Kategorie der Kritik*.
12 Das Denken der wirklichen kommunistischen Bewegung ist aleatorischer Materialismus*, der so heißt, weil er die Befreiung des subjektiven Faktors einem Prozess ohne Subjekt* anvertraut, also einem Würfelspiel (aléa: frz. Risiko, Wagnis, Zufall; aléatoire: auf dem Zufall beruhend, riskant; von lat. alea: Würfel, Würfelspiel).
13 Weil zur wirklichen Bewegung immer wieder Aufbruch und Abbruch gehören, als die ihr eigenen Krisen, muss sie immer wieder neu beginnen. Deshalb sind Wiederholung* und Entwendung* ihre wesentlichen Methoden, ihre Geschichtlichkeit selbst.
14 Findet die Krise in Transzendenzverleugnung und Immanenzverachtung ihre ethisch-politische Artikulation, bleibt die Kritik der Religion Voraussetzung aller Kritik. Die Betonung liegt auf »bleibt«.
15 Die Krise ist auch eine solche der Arbeitssozialisierung überhaupt und damit jeder Philosophie der Geschichte, die deren Auflösung in der Perspektive einer Dialektik der Anerkennung denkt – und sei diese als Dialektik der Klassen gedacht. Hier kommt die De-Konstruktion* der »demokratischen« und »sozialistischen Ideen« ins Spiel, die selbst allerdings keine ungefährliche Sache ist.
16 Sich selbst ganz in die Krise hineinzustellen, um die mit ihr gestellte Herausforderung überhaupt verstehen und dann auch annehmen zu können, heißt, ihre Kompliz/in werden zu müssen. Auch das eine gefährliche Sache, ein Begriff dafür ist religiöser Atheismus*. Mit ihm wird gesagt, dass die kommunistische Bewegung der Multituden zugleich transnihilistische Reformation* der Singularitäten sein wird und beide auch dann nicht voneinander getrennt werden dürfen, wenn letztere über erstere hinausführt.
17 Im Blick auf ihren subjektiven Faktor ist die Krise dann aber unsere Passage durch die Proletarisierung der Gesellschaft* und die De-sozialisierung der Individuen*, die beide sowohl Voraussetzung wie Folge der Biopolitisierung* des Seins* sind. Gerade deshalb kann die Krise nur im Ganzen gedacht, ausgestanden und kommunistisch gekehrt werden, jenseits von Transzendenzverleugnung und Immanenzverachtung. Das ist, entgegen dem Wortklang, nicht dialektisch, sondern aleatorisch gemeint.
18 Die Krise, also die Proletarisierung der Gesellschaft und die De-sozialisierung der Individuen in der Biopolitisierung des Seins, ist die uns gestellte Herausforderung, also die jetzt gegebene Möglichkeit, singulare Universale zu werden, selbst deren wirkliche Bewegung zu sein.
19 Gefährlich ist die Krise auch, weil sie als biopolitische im radikalen Sinn des Worts eine Krise der Welt bzw. des Seins selbst, also eine apokalyptische Krise ist. Die in ihr auszustehende und zu bestehende Gefahr liegt in der Entleerung der Kommunikation – beginnend mit der Kommunikation der Singularitäten mit sich. Apokalyptisch wäre ein solches »Ende der Geschichte« nicht notwendig als Ende des organischen Lebens anthropologischen Typs, sondern als Verlöschen jeden Daseins* in diesem Leben.
20 Zu den von der Krise eröffneten Möglichkeiten gehört auch und gerade deshalb die kommende Demokratie, die uns in jetzt noch nicht kenntlicher Bestimmung unter eine unbedingte Forderung stellen wird. Von dieser Forderung ist vorab nur der Ausgangspunkt, damit aber auch der aufs Spiel gesetzte Einsatz zu benennen: Das Axiom der Gleichheit* aller und darin der Gerechtigkeit*.
21 Es gibt Kämpfe, es gibt Autonomie und Exodus und es kann von deren Primat gesprochen werden, weil Singularitäten in Individuen*, Multituden in Klassen*, Volk*, Bevölkerung* und Nation* immer schon präsent sind. Damit ist aber auch gesagt, dass die Formen des Individuums, der Klasse, des Volkes, der Bevölkerung und der Nation die inneren Gefahren einer Multitude sind, die Formen ihrer Korruption*. Dies ist und bleibt ein steter Einsatz der Kämpfe selbst, ihrer Ereignishaftigkeit* und der Weite des anthropologischen Exodus.
22 Man ist in der Gerechtigkeit oder man ist es nicht. Von ihr aus wird Recht politisiert, wird der Staat einer Präskription, einer Vorschrift unterstellt. Im gegenwärtigen Moment der Krise wie überhaupt im 21. Jahrhundert wird zugleich gelten müssen, dass die Gerechtigkeit selbst dem Staat und dem Recht fern bleibt, fern bleiben muss. Das ist kein Anarchismus.
23 Wenn die Krise wesentlich eine solche des Empire ist, ratifiziert dies den Einsatz des aleatorischen Materialismus: das Empire als Passage zu denken. Über die Dauer der Passage selbst ist damit allerdings noch nichts gesagt, hier kann von einer sehr langen Zeit die Rede sein. Auch hier verweist die Krise also auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Militanz und darauf, dass Militanz heute alltäglich-praktisches Weltverhältnis ist – oder nicht ist.
24 Unter den Bedingungen globaler Proletarisierung und De-sozialisierung politische Militante zu werden, heißt, die Freisetzung aus allen Grenzen zuletzt nicht nur als faktische Unumgänglichkeit, sondern als frei zu übernehmende Möglichkeit des ersten wirklich kommunistischen Weltverhältnisses zu bejahen: Exodus ist dort, wo der Aufbruch in die Wüste auch gewollt und gewählt wird. Das führt, der Begriff des Exodus zeigt das ebenso an wie der der Wahl, auf den religiösen Atheismus und damit auf die transnihilistische Reformation zurück, vgl. These 16 und 17.
25 Wenn das ganz Andere und ganz Neue nur mit einem Ereignis* in die Welt tritt, eine neue Welt sich plötzlich oder gar nicht öffnet, ist Militanz das Vertrauen auf diese Möglichkeit als Glaube an einen unkalkulierbaren Überschuss, an eine Gabe.
26 Der Gabe des Ereignisses gilt es lange und geduldig aufzulauern, was ein Kalkül einschließen kann und oft auch wird. Das Kalkül gilt einem Unberechenbaren: den Ereignishaftigkeiten. Es kann tragische, aber auch komische Folgen zeitigen und fordert auch deshalb spezifisch kommunistische Geduld.
27 Die spezifisch kommunistische Geduld und ihr unverzichtbares Anderes, die plötzliche Entscheidung, sind kein subjektives Kunststück, sondern noch immer Sache einer Kommunistischen Partei, also der fortgesetzten Kämpfe um die Form dieser Partei.

Gebrauchsanweisung

Die vorliegende Untersuchung gliedert sich in siebenundzwanzig Thesen, Erläuterungen zu jeder einzelnen These, mehrere Zwischenbemerkungen und vier systematische Zusätze. Die Erläuterungen, Zwischenbemerkungen und Zusätze öffnen das philosophisch-politische Archiv, das jeder These mehr oder minder stillschweigend eingeschrieben ist, die Titel der Erläuterungen geben dazu Hinweise. Obwohl die Thesen kohärent aufeinander folgen, kann die Lektüre Vor- und Rücksprünge einschließen. Verweise auf solche Sprünge finden sich an vielen Stellen, ausdrücklich begründet und besonders ernst zu nehmen am Ende der Erläuterung zur 5. These. Weil es dabei um einen nicht nur politökonomischen Begriff der aktuellen Krise und ihrer weit zurück reichenden historischen Dimension geht, beanspruchen die Thesen längerfristige Geltung. Ihr Dreh- und Angelpunkt ist die untergründig noch heute fortwirkende Zweideutigkeit des Mai 1968 als des bislang letzten revolutionären Wahrheitsereignisses und des Entstehungsherds der »Globalisierung« genannten imperialen Konterrevolution. Berief sich Lenin auf drei Quellen des Marxismus (deutsche Philosophie, englische Nationalökonomie und französischer Sozialismus), bedienten sich die Militanten des Mai 1968 ebenfalls bei drei Quellen. Es waren dies ein jetzt auch willentlich pluraler Marxismus, ein existenzial(istisch)er Begriff des »subjektiven Faktors« und also der Militanz und schließlich die damals noch neuen Diskurse, die aus Verlegenheit bald mit der Leerformel »Poststrukturalismus « belegt wurden. Ihnen ist noch das hier zusammengeführte Begriffsarsenal entnommen, wenn auch nach den Erfahrungen geläutert, die seither gemacht wurden. Dem entspricht, dass es dabei um eine erste Bilanz der Debatten zur aktuellen Wiederkehr und Wiederholung wirklicher kommunistischer Bewegung geht, für die vor allem Alain Badiou, Michael Hardt, Toni Negri und Slavoj ´i¸ek stehen. Die Bilanz fällt natürlich einseitig aus, nicht zugunsten der einen oder anderen Position, sondern indem sie ihre eigene Linie zieht. Weil sich das auch auf die Begriffe auswirkt, findet sich am Schluss ein Glossar, das ihren Gebrauch innerhalb dieser Thesen und vor allem je ihren Witz dokumentiert und deshalb gleich zu Anfang und dann wiederholt befragt werden kann. Dort aufgenommene Begriffe* wurden bei ihrer ersten Nennung mit einem * markiert. Die Prominenz der Philosophie und die gelegentlich apodiktischen Formulierungen widersetzen sich der mächtigsten Herrschaftstechnik der Gegenwart, der postmodernen Konfusion. Das schließt, nur scheinbar paradox, die ausdrückliche Anerkennung der condition postmoderne ein: als einer Bedingung, die zu überschreiten ist. Die Freizügigkeit des Zitierens, d.h. der Entwendungen und Wiederholungen, verweist nicht auf akademische Deckung, sondern auf die Kollektivität des Denkens. Ihr gilt mein Dank.

Thomas Seibert: Krise und Ereignis. Siebenundzwanzig Thesen zum Kommunismus, VSA: Hamburg, Oktober 2009 (ISBN 978-3-89965-384-7)

Zum Autor:


Thomas Seibert, Dr. phil., ist Philosoph und Aktivist in einer Person. Zahlreiche Publikationen zu Philosophie und Politik, zu Globalisierung und globalisierungskrititischen Bewegungen, Mitarbeiter von medico international, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Rosa Luxemburg Stiftung, Aktivist bei Attac und der Interventionistischen Linken.

Siebenundzwanzig Thesen zum Kommunismus

Beitrag von Norbert Schepers, geschrieben am 22.10.2009
Krise und Ereignis, Thomas Seibert 2009

Das Magazin "prager frühling" dokumentiert die 27 Thesen, nach denen der Aktivist und Philosoph Thomas Seibert seine neueste Untersuchung "Krise und Ereignis" gliedert. "Seibert denkt den Kommunismus als wirkliche Bewegung und erörtert die Möglichkeit militanter Subjektivität." (VSA-Verlag) – Mehr Artikel zur Krise unserem Cafe Wallstreet.

Verschollen im Bermuda-Dreieck der Zeitnot

Beitrag von Bernd Hüttner, geschrieben am 22.10.2009
Bernd Hüttner, RLS

Nein, Zeit hat heute kaum jemand mehr. Unabhängig von sozialem Status, Geschlecht, Beruf und Einkommen leiden heute viele unter Zeitnot. Obwohl dieses Phänomen das Alltagshandeln dominiert, wird es im linken Diskurs kaum thematisiert. Dort ist immer noch unhinterfragt die Einkommensnot das wichtigere Thema.

„Zeit für Beziehungen“ bietet in 16 Beiträgen empirische Daten, die eine kritische Gesellschaftsdiagnose, und eine Hilfestellung zur Erklärung der persönlichen Situation der Leser_innen ermöglichen. Es werden umfangreiche Darstellungen zur Zeitverwendung angeboten, oder ausführlich erklärt, warum „Familien“ sich heute regelmäßig daran abarbeiten müssen – und fast zwangsläufig daran scheitern - die unterschiedlichen Zeitrhythmen von Kinderbetreuung, Privat- und Berufsleben unter einen Hut zu bringen. Die Pluralisierung der Lebensstile, die zunehmende Verwischung der Grenzen zwischen „Arbeit“ und „Freizeit“ und der neoliberale Qualifizierungsdruck auf Eltern und Kinder verschärft diesen Prozess noch.

Gesellschaftlicher Hintergrund der Debatte ist selbstverständlich und im Band relativ unhinterfragt, wie Bedingungen dafür geschaffen werden können, dass gut ausgebildete Frauen mehr Kinder bekommen und damit das immer noch vorrangig „den Frauen“ zugeschrieben Entscheidungsdilemma „Beruf oder Kind“ abgeschwächt werden kann. Auf der Makroebene wird dafür plädiert, individuelle Transfers an Personen eher zurückzuschrauben und stattdessen in verlässliche und flexible familienbezogene Infrastruktur zu investieren. Eine Ansicht, die erst einmal sehr sympathisch klingt, aber vor dem Hintergrund zurückgefahrener Sozialleistungen und stark zunehmender Kinderarmut zumindest doppeldeutig ist.

Immer wieder zeigt sich eine geschlechtertypische Zuweisung. Die Synchronisation der verschiedenen Ansprüche wird vorrangig Frauen zugeschrieben. Männer scheinen da nicht zuständig zu sein. Dies resultiert aus dem typisch deutschen Bild, dass Erziehung Privat- und damit tendenziell Frauensache sei, aus der Verweigerungshaltung von Männern Erziehungs- und Reproduktionstätigkeiten überhaupt zu übernehmen, und der patriarchalen Anwesenheitskultur im Erwerbsleben, unter der jetzt neuerdings auch mehr Männer leiden.

Mankos des Buches sind seine sehr soziologische Sprache und die stellenweise durchscheinende etwas kulturpessimistische Sichtweise, Zeitwohlstand hätten heute nur noch Arme und Arbeitslose und dieser Umstand sei im Sinne einer Inwertsetzung der dort brachliegenden Potentiale zu ändern.

Martina Heitkötter u.a. (Hrsg.): Zeit für Beziehungen? Zeit und Zeitpolitik für Familien; Verlag Barbara Budrich, Opladen / Farmington Hills 2009, 435 Seiten, 39,90 EUR


Zum Autor:

Bernd Hüttner, Jahrgang 1966, Politikwissenschaftler, arbeitet als Regionalmitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Bremen. Koordinator des bundesweiten Gesprächskreises Geschichte der RLS und Mitglied der Historischen Kommission der Partei DIE LINKE.
Weiteres siehe hier auf der Website der Bremer Landesstiftung der RLS.

Nie wieder Deutschland!? - Das Nachwort zu den 3. Oktober-Feierlichkeiten

Beitrag von Norbert Schepers, geschrieben am 06.10.2009
Wahlplakat zur Landtagswahl Sachsen-Anhalt 2006: "Menschen brauchen Heimat."

Diskussion mit Ilka Schröder und Julia Bonk am 29.10.09, 19.30 Uhr, im fuchs und elster, Berlin-Neukölln.*

Unter dem Motto "Nie wieder Deutschland!? - Das Nachwort zu den 3. Oktober-Feierlichkeiten" wird über das Verhältnis der Linken zur Nation debattiert.

Frage an Radio Eriwan: Stimmt es, dass die Linke international ist? Antwort: Im Prinzip ja. Weltweit kämpft sie im eigenen Land ums Überleben. Der Rest stimmt.
Das Release-Event zum Erscheinen der fünften Ausgabe des Magazins »prager frühling« mit dem Schwerpunkt "Linke und Nation":
Hattu Nation? – Muttu entgrenzen! Pink statt Schwarz-Rot-Gold
Über Nation, Nationalismus und Perspektiven einer globalen Linken diskutieren u.a. die Front Deutscher Äpfel, Egotronic, Julia Bonk, Uta Ranke-Heinemann, Andreas Fischer-Lescano, Michael Albert, Lothar Bisky, Pink Rabbit und Christiane Graf.
Sowie: balkan beats – Post-Jugoslawien in Bewegung

Moderation: Thomas Lohmeier
Mit anschließendem Sit-in der Bar des "fuchs und elster".

Donnerstag, 29. Oktober 09, um 19.30 Uhr
fuchs und elster, Weserstr. 207, 12047 Berlin-Neukölln
[Zwischen Nansen- und Pannierstraße, gegenüber der Musikschule, Nähe Hermannplatz: U7, U8, M29, M41]

VeranstalterInnen:
Freundinnen und Freunde des Prager Frühlings e.V.

* Update: Diether Dehm hat leider aus Termingründen abgesagt.

Auf zum "Make Capitalism History" Kongress!

Beitrag von Norbert Schepers, geschrieben am 01.10.2009
Make Capitalism History Kongress 2009

Eine Woche nach den Bundestagswahlen 2009 findet der "Make Capitalism History!" Kongress an der Freien Universität in Berlin statt. Dort wollen Studierende, Schülerinnen und Schüler aus dem Bildungsstreik zusammen mit Aktiven aus den Krisenprotesten, den Gewerkschaften, der globalisierungskritischen Bewegung und der LINKEN sich vorbereiten auf die kommenden Auseinandersetzungen mit der neuen Bundesregierung.

Vom 2. bis 4. Oktober 09 an der Freien Universität in Berlin. Es gibt bereits über 900 Anmeldungen. Kommt auch Ihr zum Kongress!
Programm und mehr hier: www.make-capitalism-history.de

Das Magazin >prager frühling< unterstützt den Kongress und wird den Samstag über mit einem Stand vertreten sein, am Sonntag diskutiert Redaktionsmitglied Katja Kipping (stellv. Parteivorsitzende DIE LINKE) mit beim Abschlusspodium.

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