Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog

SPD vs. Guttenberg

Beitrag von Kolja Möller, geschrieben am 24.08.2009

Die SPD ist weiter im Umfragetief. Die letzte Kolonne des deutschen Ordoliberalismus, Wirtschaftsminister Guttenberg dagegen der beliebteste Politiker der BRD. Er war gegen die Rettung von Opel. Er hätte die Arbeitsplätze über die Wuppe gehen lassen und wird nicht müde immer wieder zu erklären, wieso der Staatsinterventionismus der Bundesregierung kein Staatsinterventionismus ist. Der ordoliberale Mainstream in den deutschen Medien schreibt Guttenberg als Hoffnungsträger systematisch hoch, aber reicht das als Erklärung schon aus? Die SPD im Keller, der Neoliberalismus mehrheitlich und populär? Verkehrte Welt?
Die SPD hat zwei Fehler gemacht. Erstens hat sie ihren Wahlkampf auf die Wirtschaftskrise ausgerichtet, gleichzeitig aber in der Bundesregierung alles dafür getan, dass die Wirtschaftskrise erst nach den Wahlen so durchschlägt, dass sie auch im Alltagsbewusstsein ankommt. Sie beteiligt sich am Schönreden der ökonomischen Lage. Sie müsste aber im Gegenzug polarisieren, um deutlich zu machen, dass CDU und FDP die Lasten der Krise nach unten abwälzen und Arbeitsplatzverluste in Kauf nehmen. Das passt nicht zusammen. Zweitens zieht die sozialdemokratische Industriepolitik nicht mehr in der Bevölkerung. Man hatte das Szenario schon vor Augen: Die SPD rettet Opel und mit der Abwrackprämie die Automobilindustrie gleich mit, Frank Walter Steinmeier zieht mit heiserer Stimme vor die Werkstore und die deutschen ArbeitnehmerInnen wählen schön brav SPD. Das ist eine offensichtliche Fehleinschätzung. Der Staatsinterventionismus zu Gunsten der Automobilindustrie und speziell Opel lässt sich gesamtgesellschaftlich nicht darstellen. Es ist klar, dass das Geld in anderen Bereichen, etwa bei der Bildung oder im Sozialen, fehlt. Und es ist auch klar, dass mittelmäßige Sprittschleudern keine zukunftsfähigen Produkte mit gesamtgesellschaftlichem Mehrwert sind. Die Mehrheit der BürgerInnen hat in den letzten Jahren Erfahrungen damit gemacht, dass das Geld knapp ist, Arbeitslosigkeit droht, Arbeitszeiten explodieren usw...Sie fragen berechtigt, wieso jetzt das Geld da ist, wo angeblich vorher keines zur Verfügung stand. Die Automobilindustrie ist in der Wahrnehmung der Mehrheit nicht mehr das Symbol für Fortschritt und Wohlstandsniveau. Die SPD hat aufs falsche Pferd gesetzt.

prager frühling am Puls der Zeit

Beitrag von Katja Kipping, geschrieben am 13.08.2009

„Original sanktionsfrei“ – so titelt die vierte Ausgabe des prager frühlings, die Mitte Juni erschien. Im Zuge des Schwerpunktes „Weg mit Hartz IV! Her mit dem Infrastruktursozialismus!“ gab es viel Rückenwind für die Forderung nach Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen. So brachte die Gretchenfrage „Sage mir, wie hältst du es mit Sanktionen bei Hartz IV?“ ans Licht, dass inzwischen Vertreter/-innen aller Strömungen und verschiedener Bundesarbeitsgemeinschaft der Linkspartei sich einig sind, der Sanktionsparagraph gehört abgeschafft.

Inzwischen gibt es ein breites, überparteiliches Bündnis für ein Sanktionsmoratorium. Dieses wurde angeregt und wird getragen von Aktivist/-innen der Erwerbslosenbewegung. Die Liste der Erstunterzeichner/-innen ist lang und beeindruckend. Sie reicht von Gewerkschaftern wie Frank Bsirske und Horst Schmitthenner und Kunstschaffenden wie der Malerin ANTOINETTE, dem Kabarettisten Dieter Hildebrandt, dem PRINZEN-Musiker Sebastian Krumbiegel und Günther Grass über Vertreter/-innen der LINKEN, der Grünen, (u.a. Claudia Roth) sowie der SPD (Franziska Drohsel, Hermann Scheer und Ottmar Schreiner) bis hin zur Vorsitzenden der Katholischen Arbeitnehmerbewegung, Birgit Zenker und kritischen Wissenschaftler/-innen wie Anne Ames und Stephan Lessenich. Darunter befinden sich auch einige Persönlichkeiten, die wir schon für einen Beitrag im prager frühling gewinnen konnten.

Und wieder einmal zeigt sich: prager frühling ist am Puls der Zeit.

www.sanktionsmoratorium.de

"Wenigstens isses keen Wessi"

Beitrag von Lena Kreck, geschrieben am 09.08.2009

"Salami Aleikum" heißt der Film, der - oberflächlich betrachtet - eine kleine Komödie sein könnte. Thema: Ein junger Iraner aus Köln, dessen Vater eine Schlachterei betreibt, die er übernehmen soll, selbst aber kein Blut sehen kann, wird direkt an die ostdeutsch-polnische Grenze verschlagen und lernt dort die Kleinstadt-Eingeborenen kennen. Die Marotten der persischen Migrantencommunity einer westdeutschen Großstadt treffen auf die Seele der deindustrialisierten post-DDR-Kleinstadt, in der - wie der Vater des Filmhelden zutreffend feststellt - noch viel weniger los ist als in Bastulistan, der Gegend also, in der er vor seiner Exilierung für den persischen Shah in einer kleinen Armeestation als Unteroffizier mit einem Untergebenen Wache schieben durfte. Clash of civilisations sozusagen.

"Andere Gulduren haben misch schon ümmer indressiert"

Eigentlich aber ist der Film durchaus ernst; man muss nur die Bilder etwas langsamer oder mehrfach an sich vorüberziehen lassen. So, wenn der ostdeutsche ehemalige Brigadier und plötzlicher Wende-Werkschef auf der Wohnzimmercouch sitzend - kackbraune Anbauwand und verblichen-gilbliche Lampen im Hintergrund - und mit C&A-Kurzarmshirt bekleidet, sagt: "Andere Gulduren haben misch schon ümmer indressiert. Zum Beispiel Winnetou". Die anderen Kulturen sind im konkreten "die Chinesen" oder eben jetzt die iranisch-persische, und zwar deshalb, weil die Chance besteht, die alte - einzige - Textilfabrik in der Kleinstadt samt RGW-Exportschlager "Webomat 23 plus" durch ausländische Investorübernahme zu retten. Das klappte natürlich damals nicht, trotz tausender Investorbittbriefe an "die Chinesen". Und auch aktuell klappt das nicht, weil ja der junge Iraner dann doch gar nicht - wie erhofft - ein großer persischer Investor, sondern eben ja nur unglücklicher Sohn aus einem westdeutschen Großstadt-Subsistenzmilieu ist.

"Vietschi" in der Schublade

Nun, solange der Irrtum unerkannt bleibt, spielt der Ossi - man ist ja schließlich die Anpassung aus jahrzentelanger Erfahrung gewohnt - den weltoffenen Gastfreund; der "Vietschi" rutscht nur versehenlich nochmal über die Lippen, und der Spruch, "Wir sind ein friedliches Dorf, und das soll auch so bleiben. Du bist hier Gast, also benimm dich auch so", bleibt auch bis auf weiteres in der Schublade. So richtet der Ossi den Standort Oberniedewalde im Ostmärkischen für den angeblichen iranischen Großinvestor schön her; ganz besonders das deutsche Dorflokal, das nun statt Schweinenierchen Köfte und Lammspieße anbietet und in dem man jetzt auch eine für die iranischen Besucher unverständliche Abart des Persischen lernt. Selbst gegen die Verbandelung der eigenen dopinggestählten Tochter mit dem eher kleinwüchsigen vermeintlichen Investorensohn hat man unter dieser Bedingung dann nichts einzuwenden. Wolfgang "Stumpi" ist genial in dieser Rolle.

Multikulti mit Baseballschläger

"Salami Aleikum" zeigt so sehr schön die ganze antirassistische Show im ostdeutschen Raum, hinter der allerdings das tiefe Ressentiment noch in der Gastfreundlichkeit selbst lauert. Das Lachen bleibt also in gewisser Weise recht schnell im Hals stecken - aber extrem lustig ist "Salami Aleikum" trotzdem. Oder deshalb. Gleichzeitig gehört der Film ins Programm alljener, die dem ganzen "Multikulti"-Quatsch schon immer deshalb tief misstraut haben, weil sie zu Recht vermuten, dass hinter jeder Phrase des geheuchelten oder lediglich kulinarischen Interesses für andere Kulturen die stillschweigend vorausgesetzte deutsche Leitkultur steht, oder eben die Sorge um den Standort.

Wessis hassen und klarkommen

Bei Lichte betrachtet geht es ja auch eigentlich nicht um Multikulti, sondern Duokulti. Zwei diskriminierte deutsche Minderheiten, die der westdeutschen Exilanten jenseits der EU-Achse und die der ostdeutschen Heim-ins-Grundgesetz-Ostdeutschen, versuchen, mit der deutschen Mehrheitskultur irgendwie klarzukommen. Und die ist ganz tief west- und ganz sehr -deutsch. Den Frust auf die tägliche Diskriminierungserfahrung, etwa niemals formell aus der NVA und auch niemals korrekt aus der Armee des gestürzten Shah-Regimes verabzeremoniellt zu sein, spricht Vater Bergheim, also "Stumpi" aus: "Wenigstens isses keen Wessi".

Pau als Nachfolgerin für Bisky?

Beitrag von Jörg Schindler, geschrieben am 05.08.2009

Wenn es nach dem Thüringer Spitzenkandidaten der LINKEN, Bodo Ramelow, geht, dann soll die Berliner Bundestagsabgeordnete Petra Pau die Nachfolge von Lothar Bisky als Parteivorsitzende antreten. Sie sei eine "klar positionierte ostdeutsche Frau" und eine "gute und kluge Politikerin". Damit startet Ramelow das Namenskarussell, das die LINKE in den nächsten Monaten und vielleicht sogar Jahren begleiten wird.

Die große Frage: Wer beerbt Bisky, Gysi und Lafontaine?

Beim Blick auf die Führungsriege und Granden der LINKEN wird schnell deutlich, dass in die großen Fußstapfen der Männer-Troika niemand so richtig passt. Was tun? Statt Namenreihen zu diskutieren, wären doch zwei Schritte sinnvoll:

Erstens anerkennen, dass die Ära Gysi/Lafontaine/Bisky irgendwann vorbei sein wird und neue Wege gegangen werden müssen. Vielleicht ein Führungsmodell wie bei den GRÜNEN, das unterschiedliche, medientaugliche Personen zusammenbringt, die die politischen Komponenten der Partei repräsentieren.

Zweitens einen Rahmen dafür entwickeln, dass die vorgeschlagenen Personen auch inhaltliche und strategische Vorschläge für die Entwicklung der Partei mit ihrer Person verknüpfen. Denn die positive Mitgliederentwicklung der LINKEN in den letzten Jahren kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Parteipolitik in einer tiefen Krise steckt und die LINKE insbesondere bei jüngeren und weiblichen Wählergruppen und in der Mitgliedschaft massive Probleme hat. Also eine Verbindung einer Parteireform-Diskussion mit der Führungsfrage.

Wie wärs mit Ypsilanti?

Denn von einer Parteidiskussion und einem Führungspersonal, das keine inhaltliche und organisationspolitischen Angebote macht, hat niemand was. Und auch die Bevölkerung ist von den Technokraten der Berliner Republik zunehmend genervt. Wie wär es deshalb eigentlich mit Andrea Ypsilanti?

Bleib standhaft, SPD.

Beitrag von Jörg Schindler, geschrieben am 26.07.2009

Berlin will die Kindertagesstätten kostenfrei machen. Bis 2010 das zweite, bis 2011 auch das dritte KiTa-Jahr. Langfristig sollen auch die Kinderkrippen gebührenfrei werden. Es war ein Wahlversprechen, so wurde es zwischen SPD und LINKE vereinbart. Doch nun bricht Carola Bluhm, voraussichtlich neue sozialistische Sozialsenatorin, die Einigkeit.

LINKE für Qualität, SPD für alle?

Angeblich geht es um die Qualität. Um die sieht es in der Tat nicht optimal bestellt aus; es gibt zuwenig Kinderbetreuungspersonal. Viele Eltern seien deshalb bereit, für eine bessere Qualität in den Kitas einen «gewissen Betrag» zu zahlen, so Bluhm. Bluhm will daher mit den KiTa-Gebühren auch die geplante Gebührenfreiheit selbst kassieren. Die versprochene KiTa-Gebührenfreiheit sei ein Fehler.

Die SPD sieht das jedoch anders. Beachtlich ist jedoch, dass die Sozialdemokraten die Zwei-Scheiße-Argumentation der LINKEN nicht mitmachen. Der SPD-Landesvorsitzende Müller betonte, es stehe außer Frage, dass neben der Verbesserung der Qualität der Betreuung auch das Personal aufgestockt werden müsse. Und Buschkovsky, Bürgermeister des Problembezirks Neukölln, verwies auf die bildungsbürgerliche Argumentationslinie von Bluhm: Besser gestellte Kreise könnten sich leisten, zu sagen, wir zahlen lieber mehr Geld und kriegen dafür mehr Qualität in den Kitas.

gekreuzte Linien

Da ist was dran. Interessanterweise erinnert die Diskussion stark an die verflossene Studiengebührendebatte: Wenn die Studiengebühren doch den Hochschulen zugute kämen und sozial schwächere Studierende hiervon befreit würden, seien sie doch sozial. Auch interessant: 2003 wollte Berlins SPD Studiengebühren einführen, wurde allerdings durch einen Parteitagsbeschluss der damaligen PDS gestoppt, die auf Gebührenfreiheit bestand. Nun argumentieren die Koalitionäre über Kreuz. Während die SPD für die grundsätzliche Gebührenfreiheit plädiert, entdecken linke Senatorinnen in spe ihre Liebe für die Sozialstaffelung von Gebühren im Bildungsbereich.

Bildungsgebühren für Reiche?

Der Vorstoß von Bluhm ist deshalb mehrfach unverständlich.

Zum einen deshalb, weil zwischenzeitlich gerade auch bei den Sozialdemokraten ein deutliches Umdenken in der Bildungsfinanzierung eingesetzt hat. Die PISA-Ergebnisse verweisen auf die Mittelalterlichkeit des deutschen Bildungssystems, auch, was die frühkindliche Bildung betrifft. Auch ohne grundsätzliche Systemkritik liegt auf der Hand, dass Kinderbetreuung bei Muttchen zu Hause nicht grad direkt zum Doktortitel führt. Die SPD ist richtigerweise sogar bereit, nicht in die Gehtallesnicht-Falle zu tappen - natürlich kann man, etwa schrittweise, beides finanzieren. Man muss eben wollen.

Zum zweiten deshalb, weil sich bei der Bildungsfinanzierung exemplarisch die politische Überlegenheit des Öffentlichen gegen das Private erzählen lässt. Vorwärts zum Infrastruktursozialismus.

Zum dritten deshalb, weil auch DIE LINKE (und ihre WählerInnen) ein massives Interesse daran haben müssen, dass auch Kinder von Besserverdienenden mit dem Pöbel zusammen Bildungseinrichtungen besuchen müssen. Denn das nutzt im Zweifel auch den sozial schwachen Kindern - und der Qualität, um die es ja angeblich geht.

Zum vierten deshalb, weil Bildungsgebühren kein Umverteilungsinstrument sind, da sie sozial erwünschtes Verhalten, nämlich Bildung, als Kriterium haben. Sondern das sind die Steuern.

Und zum fünften deshalb, weil DIE LINKE doch auf ihrem Parteitag 2008 in Cottbus die Kindertagesstätte, gebührenfrei und für alle, beschlossen hatte - und damit allen konservativen Zuhausebleiber-Konzepten, auch in der eigenen Partei, eine deutliche Absage erteilte. Und im Übrigen eine eigene Kampagne für die Gebührenfreiheit der KiTas beschloss.

Bleib standhaft, SPD.

Ja, ich fordere die SPD auf: Bleib standhaft. Ich werde Dich zwar weiterhin, aus ganz übergeordneten Gründen, nicht wählen. Aber in dieser Frage hast Du meine unbedingte Sympathie. Und vielleicht kommt DIE LINKE in Berlin dann doch wieder auf den Weg der sozialdemokratischen Bildungsreformen zurück. Schließlich wurden 1970 die Hörergelder flächendeckend abgeschafft. Warum nicht endlich auch die KiTa-Gebühren durch weitere rot-rote Landesregierungen? Das wäre ja schonmal was.

Tschetschenien, Afghanistan und Dresden

Beitrag von Ralf Richter, geschrieben am 11.07.2009
Treppenaufgang zum Dresdner Amtsgericht im Juli 2009

Vor einigen Jahren sorgte ein Buch für großes Aufsehen: Der renommierte amerikanische Autor Philip Roth hatte sich der Identitätsfrage besonders intensiv in seinem Buch „Der menschliche Makel“ angenommen. Ein Professor für zeitgenössische Literatur wird aus dem Dienst gemobbt mit der Begründung, er habe rassistische Äußerungen gemacht. Er verliebt sich in eine junge Analphabetin, deren Ex-Mann Vietnam-Rückkehrer ist und an der Darstellung der Lebensumstände dieses Mannes kann man lernen, wie schwer es für Kriegsrückkehrer ist, in ein normales Leben zu finden. Jedes Jahr zum „Veteranen-Tag“ werden „rollende Wände“ durch die USA transportiert – sie sind Kopien der „Klagemauer“ auf dem Militärfriedhof von Arlington, auf der die Namen aller ca. 50.000 im Vietnamkrieg gefallenen Amerikaner verzeichnet sind. Veteranenverbände üben mit ihren Mitgliedern noch nach Jahrzehnten einmal diese Klagemauer zu besuchen, ohne dabei vorher zusammen zu brechen. Und noch etwas wird geübt: Asiatisch essen zu gehen, und der Versuchung zu widerstehen, den Kellner dabei umzubringen. Es leuchtet den ehemaligen Kampfmaschinen einfach nicht ein, dass das Töten im Staatsauftrag zwar okay ist, dass Killen in privater Sache zu Hause aber verurteilt wird. Die Knarre ist immer noch schnell zur Hand und wie man Probleme „endgültig löst“ hat man da unten ja gelernt. Ist der Dresdner Amtsgerichtsmörder nun also Tschetschenienkriegsveteran? Wie viele Moslems hat er im Kaukasus „aus dem Weg geschafft“? Und: Wie werden – mit welchen psychischen Problemen – unsere Jungs aus Afghanistan zurück kommen? Sind dort wirklich alle beim Brunnen bohren? Oder haben vielleicht doch die Offiziere der Bundeswehr recht wie der Major, der mich unlängst von Hamburg nach Berlin fuhr und der davon sprach: „Wir sind dort im Krieg und es ist Mumpitz, wenn man hier so tut als würden unsere Einheiten nicht los ziehen zur Menschenjagd!“ In naher Zukunft werden die Einsatzzeiten verlängert – der Austausch nach vier Monaten kommt einfach zu teuer. Besser (weil billiger) ist es, die Jungs gleich noch ein paar Monate länger dort unten zu lassen. Länger unter Raketenbeschuss. Länger in ständiger Ungewissheit, was der nächste Tag bringt. Fliegen die Raketen auf unser Lager oder müssen wir raus auf Patrouille? Und dann, wenn wir draußen sind und ein Radfahrer auf uns zu kommt? Oder ein Auto? Schießen wir nicht, gehen wir in die Luft. Schießen wir, treffen wir Unschuldige. Das zerrt an den Nerven. Stunde um Stunde, Tag um Tag, Monat um Monat. Was denkt einer, der gerade zurück ist aus Kunduz und weiß, bald muss er wieder hin – dann ein paar Monate länger und von den Kameraden hört er, dass es in der Zwischenzeit in der Region nicht unbedingt gemütlicher geworden ist?

Ehemalige amerikanischen Vietnam- und Irakkrieger haben sich übrigens nicht vorrangig an Ausländern vergangen – das ist auch im Philip Roth-Roman nicht so. Das erste Opfer ist dann die Ex-Frau, die mit ihrem neuen Liebhaber „plötzlich ums Leben kommt“ … Bei dem Kriegsheimkehrer hatte die psychiatrische Behandlung nicht viel gebracht – viele aber lehnen die Behandlung ganz ab, schließlich haben sie da unten gelernt, kein Weichei zu sein. Afghanistan-Veteranenverbände in Deutschland – wo sind die eigentlich? (Und wer denkt bei den Russlanddeutschen an dieAfghanistan- und Tschetschenienkriegsveteranen?) Sie hätten sich übrigens per Internet viel zu erzählen mit den ehemaligen sowjetischen Afghanistan-Veteranen in Russland. Die sowjetische Armee rekrutierte ihre Afghanistan-Kämpfer (das dürfte wenigen bekannt sein) unter anderem besonders in der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD). So zogen schon in den 80er Jahren nicht wenige aus Ostdeutschland an den Hindukusch- wie heute wieder! Der Krieg, den wir (damit die Lebensversicherungen für die Gefallenen zahlen an Stelle des Bundes) am Hindukusch gar nicht führen, kehrt zu uns zurück. Wie sagte der Major: „Wir können – gerade aus Ostdeutschland – gar nicht so viele dort hin schicken, wie freiwillig nach Afghanistan wollen ...“ Er kam übrigens unter für ihn selbst überraschenden Umständen ins Krisengebiet - der Offizier, der eigentlich für den Einsatz vorgesehen war, fiel kurz vor seinem Abflugtermin alkoholisiert unter ungeklärten Umständen beim Rauchen aus dem Kasernenfenster im fünften Stock und starb an Ort und Stelle. Seine Lebensversicherung wenigstens zahlte problemlos an die Hinterbliebenen.

Zum Autor

Ralf Richter, Dresden, ist freier Autor und u.a. Initiator des Ersten Dresdner Hartz IV-Akademikertreffs (EDAT), Diplomarbeit an der HU Berlin zur "Geschichte der Reichsausländer in Dresden".

Ausverkauf der Politik

Beitrag von Norbert Schepers, geschrieben am 19.06.2009
Kipping: Ausverkauf der Politik

Ausverkauf der Politik - Für einen demokratischen Aufbruch
Buchvorstellung mit Katja Kipping

Es kommentieren:
Caren Lay, MdL Sachsen, Mitglied im Parteivorstand DIE LINKE, Forum Demokratischer Sozialismus
Katharina Schwabedissen, Landessprecherin DIE LINKE. Nordrhein-Westfalen, Antikapitalistische Linke
Moderation: Claudia Gohde, Leiterin des WahlQuartiers der Partei DIE LINKE.

Freitag, den 19. Juni, um 18 Uhr
Max-Schmeling-Halle Berlin:
Gaststätte Albatros, Falkplatz, 10437 Berlin-Prenzlauer Berg
Die Veranstaltung findet am Vorabend des Parteitages der Partei DIE LINKE. direkt vor dem Presseempfang auf dem Tagungsgelände statt.

Weitere Informationen siehe unter www.emanzipatorische-linke.de

Mit dem Sommer kommt der nächste Frühling

Beitrag von Redaktion, geschrieben am 14.06.2009
Der prager frühling 04 erscheint!

Ende der Woche ist es soweit. Mit dem Sommer kommt der Frühling: Die Ausgabe 04 erscheint in wenigen Tagen. Der Schwerpunkt: Original sanktionsfrei: Weg mit Hartz IV! Her mit dem schönen Leben!

Neben vielen investigativen und weniger investigativen Beiträgen zum Hartz IV-Regime wollen wir Euch in dieser Ausgabe auch den Infrastruktursozialismus vorstellen. Der Infrastruktursozialismus ist nicht nur eine Alternative zum Hartz-IV-Regime, sondern gibt vielleicht auch schon eine erste Vorstellung von dem, was ein schönes Leben sein könnte. Außerdem gehen wir unter dem Motto "Buena Vista Sexual Club" der Frage nach, wie's um den Sex im Sozialismus des 21. Jahrhunderts bestellt ist. Ein Test zur Frage "Wie politisch bist Du? - Der Checkerinnen-Test" und ein Interview mit dem Schriftsteller Wladimir Kaminer dürfen natürlich auch nicht fehlen.

Also: Schon jetzt die neue Ausgabe sichern und abonnieren!

Für das Projekt Prager Frühling brauchen wir dringend mehr Abonnentinnen und Abonnenten: Ohne Abos kein Prager Frühling! 1000 Abos für Freiheit und Sozialismus: https://www.prager-fruehling-magazin.de/topic/15.jahresabo.html

Wettervorhersage für Europa

Beitrag von Thomas Lohmeier, geschrieben am 07.06.2009

Das Wahlwetter wird heute in Deutschland uneinheitlich. In den Regionen der großen Volksparteien herrscht ein Tiefdruckgebiet. Viele Wähler und Wählerinnen der Union ziehen Richtung FDP, weil diese neoliberale Positionen verteidigt und nicht wie die Union dem staatlichen Interventionismus das Wort redet. Schließlich, so diese Wähler und Wählerinnen, muss auch unabhängig von der Realität und den politischen Folgen heute noch ideologisch richtig sein, was gestern als ideologisch richtig galt.

Ebenso in einem Wählertiefdruckgebiet befindet sich die andere Volkspartei. Zwar kann die SPD auf etwas bessere Temperaturen hoffen. Dennoch wird ihr Ergebnis ernüchternd sein, weil die bescheidene Erwärmung nur im Vergleich zu den eisigen Temperaturen, die ihre Hartz-IV-Politik der sozialen Kälte vor fünf Jahren verursachte, als lauwarm empfunden wird. Die Europawahl wird daher für die SPD nicht zur Wetterwende. Temperaturen um 25 % sind vielmehr Ausdruck dafür, dass das Wählertiefdruckgebiet bis zur Bundestagswahl erhalten bleibt. Allerdings sind leichte Temperaturverbesserungen in den nächsten Wochen für die SPD nicht ausgeschlossen. Ein Anstieg bis zu 30 % ist bis Ende September noch möglich.

In einem Hochdruckgebiet befinden sich die beiden liberalen Parteien. Die neoliberale FDP profitiert dabei von wirtschaftspolitischen Überzeugungstätern aus dem konservativen Lager, von Männern, die ihren Verstand in der Hose haben und von der hohen Wahlbeteiligung der Bildungsbürger. Von letzterem wird auch die andere liberale Partei profitieren. Während die FDP mit sommerlichen Temperaturen um 12 bis 15 % rechnen darf, werden die Grünen frühlingshafte 10 % erreichen.

Für die Linkspartei ist das Wahlwetter durchwachsen. Leichte Temperaturanstiege im Vergleich zur Europawahl 2004 sind zu erwarten. Viele der Wähler und Wählerinnen, die schon bei der Bundestagswahl 2005 von SPD zur LINKEN gezogen sind, werden auch diesmal die LINKE wählen. Der Sturm der Krise verunsichert aber auch viele linke Wähler und Wählerinnen. Die Schirme, die die LINKE aufspannen möchte, werden nicht als wetterfester als die Schirme der anderen Parteien erkannt. Die LINKE wird daher Temperaturen wie bei Bundestagswahl 2005 (ca. 8 bis 9 %) erreichen.

Anforderungen an ein sozialistisches Konzept zum demokratischen Umbau der Arbeitsgesellschaft

Beitrag von Astrid Kraus, Alban Werner, geschrieben am 02.06.2009
Alban Werner

"Die Befreiung kann uns nicht gegeben werden, wir müssen sie selbst erobern.
Erobern wir sie nicht selbst, so bleibt sie für uns ohne Folgen.
Wir können uns nicht befreien, wenn wir nicht das System, das uns unterdrückt, und die Bedingungen, aus denen das System erwächst, beseitigen. Wie aber soll die Befreiung nun von uns ausgehen, wie sollen die Umwälzun-gen vollzogen werden, wenn wir immer nur gelernt haben, uns zu fügen, uns unterzuordnen und auf Anweisungen zu warten"
(Peter Weiss, Ästhetik des Widerstands I, S. 226).

I. Grundsätzliche Bemerkungen
(1) Ausgangspunkt ist, dass gesellschaftliche Wertschöpfung auf menschlicher Arbeit beruht und daher Arbeit ein notwendiger Bestandteil gesellschaftlichen Miteinanders ist. Gleichzeitig bietet Arbeit, verstanden als gesellschaftlicher Beitrag, die Möglichkeit zur Selbsterfahrung und zum sinnstiftenden und sinnvollen gesellschaftlichen Austausch.
(2) Es ist falsch, dass „der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht“. Richtig ist, dass jede komplexe Gesellschaft das Problem lösen muss, wie die in ihr zu verrichtenden Arbeiten auf ihre Mitglieder verteilt werden und wie sie den Wert der Arbeit bemisst, durch den die Arbeitenden Ansprüche auf die Teile des gesellschaftlich erzeugten Reichtums erwerben.
(3) Die Regulierung gesellschaftlicher Arbeit erfolgt über den Arbeitsmarkt, auf dem eine Mehrheit der Menschen ihre Arbeitskraft als Ware anbieten muss.
(4) Im heutigen Kapitalismus existiert Arbeit in vergesellschafteter Form nahezu ausschließlich in der Form von Lohnarbeit und ist als solche grundlegend in Herrschaftsverhältnisse eingebunden. Ein Teil der Früchte der Arbeit in Form von Gütern und Dienstleistungen wer-den von den Besitzern von Produktionsmitteln angeeignet.
(5) Gleichzeitig beruht die kapitalistische Produktionsweise nicht nur auf der bezahlten Erwerbsarbeit in der Produktion (Dienstleistungen eingeschlossen), sondern mindestens glei-chermaßen auf den zahlreichen gratis geleisteten reproduktiven Arbeiten, d.h. Familien-, Erziehungs- und Sorgearbeit.
(6) Materielle Teilhabe an der Gesellschaft, gesellschaftliches Ansehen und Möglichkeiten der gesellschaftlichen Einflussnahme der Mehrheit der Menschen hängen von ihrer Position in der Arbeitsgesellschaft ab.
(7) Generell abgewertet werden in unserer Gesellschaft Menschen, die unfreiwillig von der Lohnarbeit ausgeschlossen werden. Mit wenig Ansehen verbunden sind Arbeiten, die den o.g. Reproduktionsarbeiten nahe stehen, selbst wenn sie öffentlich oder privatwirtschaftlich orga-nisiert und tarifvertraglich abgesichert sind.
(8) Die Arbeitsgesellschaft zeigt unleugbar patriarchale Züge: Obwohl Frauen weltweit 70 % der notwendigen Arbeit leisten, besitzen sie nur 2 % des Vermögens und beziehen nur 10 % des bezahlten Einkommens.
(9) Die Art der Arbeiten, die in unserer Gesellschaft verrichtet werden, ihr Umfang, ihre Entlohnung und ihr Ansehen sind nicht Ergebnis eines demokratischen Prozesses. Gearbeitet wird zur Herstellung von Waren, deren Verkauf Profit erzielt. Dies schließt auch Natur- und Menschen und Reichtum vernichtende Waren wie Waffen, toxische Erzeugnisse oder fragwürdige Produkte auf den Finanzmärkten ein.
(10) Die Teilhabe an der Arbeitsgesellschaft unterliegt für ihre Teilnehmerinnen und Teilnehmer deswegen nicht nur Verhältnissen entfremdeter Arbeit, sondern auch dem anonymen Zwang der Kapitalverwertung, der alle AkteurInnen auf dem kapitalistischen Markt beherrscht. Die Herrschaft des Kapitals blockiert alle Versuche, die gesellschaftlich zu verrich-tende Arbeit entsprechend bestimmter Wertvorstellungen (wie Selbstbestimmung, Kooperation, Nachhaltigkeit usw.) zu gestalten. Der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft müssen Refor-men zugunsten der von Arbeit abhängigen durch kollektive, solidarische Mobilisierung poli-tisch aufgezwungen werden.

II. Umbrüche der gesellschaftlichen Arbeit
(11) Wir beobachten an allen Ecken eine radikale Veränderung der Arbeitswelt. Prekarisierte Arbeitsverhältnisse, verschwimmende Grenzen zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit durch die Hartz-Gesetzgebung, Entgrenzung durch Flexibilisierung, die grausame Entstellung dringend benötigter öffentlicher Arbeiten als „Ein Euro-Jobs“ usw. Die herrschende neoliberal-kapitalistische Politik hat den Anspruch, die Arbeitsgesellschaft politisch zu gestalten, weitgehend aufgegeben.
(12) Im Kern der Veränderungen steht das Ende des sog. „Normalarbeitsverhältnisses“ (NAV), wie es zumindest für einen großen Teil der männlichen Erwerbsarbeiter in der Nach-kriegsperiode bestanden hat. Das NAV bedeutete für die Lohnabhängigen trotz der offenen Diskriminierung von reproduktiver Arbeit einen geschichtlichen Fortschritt, weil es ihnen einen Status gab, der soziales Ansehen bedeutete und die Möglichkeit, sich für weitere Verbesserungen ihrer Lebenssituation öffentlich und legal einzusetzen.
(13) Für viele Menschen war die ihnen gesellschaftlich auferlegte Rolle ein zu enges Korsett. Insbesondere die Frauenbewegung kritisierte zu Recht das frauenfeindliche, einseitig eine „Ernährer-Rolle“ des Mannes unterstützende Korsett des Arbeitsmarktes und des Wohlfahrts-staates. Die neoliberale Politik nutzte hier klug die an sich emanzipatorische Kritik, um das NAV zu zerstören. Sie nutzte die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen für Lohnsenkun-gen und Flexilisierung des Arbeitsverhältnisses bei allen Lohnabhängigen..
(14) Gleichzeitig reagierten die UnternehmerInnen auf die zunehmenden Unterschiede unter den Lohnabhängigen (vor allem im „oberen“ Segment) und deren Bedürfnisse nach weniger stumpfen Arbeitsverhältnissen, indem sie zahlreiche neue Steuerungsformen von Arbeit einführten. Mit Formen von Team-, Projekt und zeitlich frei eingeteilter, mitbestimmter Arbeit schufen sie neue Freiheitsspielräume.
(15) Diese Spielräume allerdings haben eine grundsätzliche Grenze darin, dass sie „mehr Druck durch mehr Freiheit“ erzeugen und die Beschäftigten zu verschärfter Ausbeutung antreiben sollen. Es handelt sich um eine neue Art und Weise kapitalistischer Herrschaft, die zugleich aber Möglichkeiten für eine fortschrittliche Veränderung der Arbeitswelt.
(16) Die notwendige Reproduktionsarbeit wird in Ermangelung eines ausreichend großen öffentlichen Sektors immer stärker ehrenamtlich bzw. unbezahlt (über das bezahlte Arbeitsvo-lumen hinaus von den öffentlich Beschäftigten) geleistet. Dabei zeigen Probleme mit rechtsextremen Jugendlichen, die skandalöse Unterversorgung im Bereich der Seniorenpflege, die mangelhaft ausgestatteten freien Träger im sozialen Bereich, der Verfall öffentlich Kulturan-gebote u.v.a., wie dringend es wäre, die im Bereich der Privatwirtschaft gebundene oder durch Arbeitslosigkeit gesellschaftliche entwertete Arbeitskraft sinnvoll und angemessen be-zahlt einzusetzen.

III. Eingrenzungen und Abgrenzungen
(17) Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) ist nachvollziehbar vor dem Hintergrund der Verknüpfung von gesellschaftlicher Stellung und Positionierung in der Erwerbsarbeitsgesellschaft und den skandalösen materiellen und gesellschaftlichen Schikanen gegen Erwerbslose. Das BGE wählt aber den falschen Ansatz für eine sozialisti-sche Neugestaltung der Arbeitsgesellschaft. Zwar stellt auch das BGE den Versuch einer Lösung zur Sicherung der Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum aller Erwerbsabhängigen dar, aber anstatt zu einer demokratischen und gemeinschaftlichen Lösung der Frage nach einer Neuorientierung der Arbeitsgesellschaft aktiv beizutragen, wird das Problem durch das BGE individualisiert und die Menschen werden mit einer „Stilllegungsprämie“ abgefertigt. Es leuchtet nicht ein, warum ein BGE, das nach wie vor lediglich einen gesellschaftlichen Mindeststandard sichert, die Arbeitsgesellschaft nachhaltig verändern soll, wenn jene, die ein Einkommen oberhalb des Existenzminimums erhalten wollen, zugleich weiterhin dem „stummen Zwang“ (Karl Marx) der unverändert existierenden Lohnarbeit ausgeliefert sind.
(15) Wir brauchen ein sozialistisches Projekt zur radikalen Neugestaltung der Arbeitsgesellschaft. Wir wollen dabei den Begriff der Arbeit bewusst möglichst weit fassen: Er schließt alle Formen von Arbeit ein, die für das Überleben und die fortschrittliche Weiterentwicklung der Gesellschaft notwendig sind, d.h. Produktions- und Reproduktionsarbeit.
(16) Im Mittelpunkt dieses Projekts steht der Kampf um nicht-entfremdete Arbeitsverhältnisse, deren Gestaltung nicht dem allgemeinen Zwang der Kapitalverwertung untersteht, sondern durch demokratische Entscheidungen der Bevölkerungsmehrheit erfolgt.
(17) Dieses Projekt ist radikal demokratisch, weil es demokratisch nicht zu rechtfertigende Herrschaftsverhältnisse, die durch unterschiedliche Positionen innerhalb der Arbeitsgesellschaft entstehen, abschaffen will. Es ist feministisch, weil es Erziehungs-, Familien- und Pflegearbeiten aufwerten und zwischen den Geschlechtern konsequent gleich und gerecht verteilen will. Es ist sozialistisch, weil alle diese Aspekte im Kern bedeuten, die im Zentrum der kapitalistischen Wirtschaft stehende private Verfügung über Produktionsmittel einzuschränken und zu überwinden.
(18) Viele wichtige Gesichtspunkte in diesem Projekt bleiben offen, viele Fragen sind noch ungeklärt und noch gar nicht richtig formuliert. Erste Fragen sind: Welche Rolle spielt Konkurrenz als Koordinationsmechanismus der gesellschaftlich zu verrichtenden Arbeiten? In welcher Weise kann demokratisch, effizient und ökologisch nachhaltig darüber bestimmt werden, wofür, wie und wann der gesellschaftliche Reichtum investiert werden soll? Wie bestimmt sich die Entlohnung der Arbeit? Wo kann Veränderung auf Basis der heutigen Verhältnisse ansetzen? Wir lässt sich internationale Arbeitsteilung demokratisch organisieren?
(19) Nicht klar ist, wer unsere BündnispartnerInnen bei diesem Projekt sind. Zum einen gibt es etwa bei den Gewerkschaften noch starke (wenn nicht mehrheitsfähige) Kräfte, die in erster Linie zurück zum Normalarbeitsverhältnis möchten und dabei Fragen der Geschlechtergerechtigkeit und ökologischen Nachhaltigkeit zu wenig berücksichtigen. Dies ist auch ver-ständlich, weil es sich um Organisationen handelt, die in erster Linie materielle Interessen ihrer Mitglieder vertreten.
(20) Zum anderen braucht die oben beschriebene sozialistische Transformation der Arbeit eine andere gesellschaftliche Hegemonie, bis hinein in viele selbstverständliche Wertvorstellungen der Menschen über Verteilung der Arbeit im Haushalt, in der Familie und in der Ge-meinde.
(21) Schließlich müssen wir über unsere Arbeitsformen entscheiden, in denen wir hier voran schreiten wollen.

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