Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog

Krise bei Kaffee und Kuchen

Beitrag von Susanne Götze, geschrieben am 06.05.2009

Schlagworte:

krise, linke

Susanne Götze

Das Problem aber ist trotz steigender Arbeitslosenzahlen, angekündigter „sozialer Unruhen“ und täglich neuen Hiobsbotschaften immer noch ein Abstraktum: Niemand kann sich diese Summen vorstellen, die gerade über unseren Köpfen und aus unseren Taschen über die Tische gereicht werden. Niemand kann dieser Finanz-Jonglage folgen – eine Zahlenkolonne jagt die nächste. Immer mehr Geld wird in den Orkus geschickt, die Billionen verschwinden. Insolvente Unternehmen sind vorstellbar, doch ein globales Meer aus faulen Wertpapieren und Kreditpaketen? Aus der zwar in Zahlen fassbaren aber hieroglyphisch bleibenden Spekulationsblase ist nun mittlerweile eine unvorstellbare Rettungsblase geworden, mit deren Knall wir spätestens aus unseren Wohnzimmern aufschrecken und besorgt die Gardinen beiseite schieben.

Kommt dann die Krise zu uns nach Hause? Wie wird sie aussehen? Wird sie mehr als Depression sein? Wird es Wut, Hoffnung und neuer Glauben, neue Kraft sein? Als chronischer Globalisierungskritiker fragt man sich derzeit, ob dieses Aufbäumen des angestochenen Turbokapitalismus mehr vernichten als erschaffen wird.

Jahrzehntelang haben kritische Menschen auf der ganzen Welt versucht, die trügerische Ruhe des kapitalistischen Spekulationsalltags zu stören. Nun hat das Pferd Schaum vorm Mund und alle weichen erschreckt zurück – auch viele Linke. Seit einem halben Jahr mittlerweile schlägt das wild gewordene Tier um sich und wer davon nicht profitiert, sind genau diejenigen, „die es sowieso schon immer gewusst haben“. Die Linke hat es bis jetzt genauso wenig geschafft mit ihren ExpertInnen und Super-Kadern das Abstraktum mit Leben zu füllen, wie ein neues Pferd ins Rennen zu schicken. Es wird stattdessen immer noch auf den alten Gaul gewettet. Doch vielleicht auch, weil eben niemand Reiten gelernt hat und die letzten zehn Jahre damit verbracht wurden, sich über das Entstehen von Sozialforen zu freuen.

Die Menschen, die in London gegen den G20-Gipfel auf die Straße gingen, wie auch schon gegen die Politik unzähliger G8-Gipfel davor, wurden in den bürgerlichen Medien schlicht lächerlich gemacht. Mit einer unbeschreiblichen Arroganz stellt sich ein Spiegel-Reporter vor die demonstrierenden Massen und spricht von einem kläglichen Scheitern der Proteste. Wieder mal habe es die Linke nicht geschafft, „ihre Kritik an den Mann zu bringen“. Ja, da haben in Genua 2001 schon mehr Autos gebrannt. Und dann geht es wieder ab ins warme Hotel: Auftrag erfüllt. Genau dieser Kleingeist ist es, der enttarnt werden muss: Hier sprechen nicht „die Medien“, sondern die Vertreter der Klasse, die jahrelang an dem Kollateralschaden mitgebastelt haben. Nicht die Demonstrant/-innen sind die nietzeanischen „tückischen Zwerge“ – sondern die phantasielose, besitzwahrende Bürgerlichkeit. Dieser Zwergengeist, der durch die neoliberale Gehirnwäsche seinen Höhepunkt erreichte, hat sich so tief eingenistet, dass weder Krise noch Krieg, Klimawandel oder grassierende Armut mehr schocken, aufrütteln oder zum Nachdenken anregen können.

Dabei braucht es eigentlich nicht viel Vorstellungskraft, um sich eine andere Gesellschaft als diesen täglichen Wahnsinn auszumalen. Trotzdem fällt es eben auch so manchem Linken schwer, sich mehr vorzunehmen als ein gerechteres Steuersystem. Beispiele dafür gab es in den letzten Monaten viele: Statt in die Öffentlichkeit zu gehen, fuhren linke Abgeordnete in ihre Wahlkreise, um ihre MitarbeiterInnen samt Anhängerschaft „zu informieren“. Insgesamt kann man die linke Reaktion bis zum 28. März auch als „aufgeregtes Unter-sich-Sein“ bezeichnen – wenn es überhaupt aufgeregt war. Statt sich im linken Spektrum ernsthaft füreinander zu interessieren – über eine Demovorbereitung hinaus – werden lieber weiterhin kleine Tütensüppchen gekocht. Isoliert bleiben deshalb auch die unzähligen linken Alternativen – und damit ist nicht der Mindestlohn gemeint -, die unbeachtet vor sich hinbrodeln. So wurde beispielsweise von dem Ende Februar in Wien stattfindenden Kongress für Solidarische Ökonomie – ein Thema mit nicht zu überbietender Aktualität – kaum Notiz genommen. Selbst linke Tageszeitungen wussten damit kaum etwas anzufangen. An anderer Stelle beklagen dann aber eben diese Redakteur/-innen die Konzeptlosigkeit der Linken. Einer engen Zusammenarbeit von Bewegung und Partei wird dagegen mit dem Argument der anstehenden Bundestagswahl aus dem Weg gegangen. Die Situation ist wirklich verrückt: Während Troja in den Krieg zieht, sitzen die Kassandriner in ihren Hinterzimmern und schütteln die Köpfe. Da bleibt nur mit Neil Young zu entgegnen: „Time is running out. Let`s roll.”

Die „Umweltprämie“ – Fortsetzung des neoliberalen Finanzmarkt-Kapitalismus mit anderen Mitteln

Beitrag von Michael Brie, geschrieben am 06.05.2009
Michael Brie

Kaum wurde die „Umweltprämie“ verkündet, finden wir auf den Websites der Hersteller solche Losungen wie: „Opel macht Deutschlands Straßen sauberer.“ „BMW verdoppelt die Umweltprämie“. Hyundai klärt auf: „Die ersten Anträge sind gestellt, die ersten Umweltprämien werden voraussichtlich im März ausgezahlt. Und schon jetzt ist klar, dass es bei der Zahl der Interessierten eng werden könnte mit dem Gesamtbudget der Umweltprämie, denn mit der Prämie ist nach 1,5 Mrd. EUR Schluss; das entspricht ca. 600.000 eingetauschten Altfahrzeugen.“ Das reale Ergebnis ist beeindruckend: Allein zwischen 3. Februar und 16. März wurden fast 300 Tsd. Anträge gestellt, jeden Tag kommen über 6000 Anträge hinzu. Schon fordert die „volksnahe“ CSU, die Summe von 1,5 Mrd. Euro möge weiter aufgestockt werden. Es ist Wahlkampf in Deutschland.

Die „Umweltprämie“ ist ein charakteristisches Beispiel für Strategien der Herrschenden im Moment der Krise des Finanzmarkt-Kapitalismus. Grundtendenzen werden fortgesetzt, wenn auch mit veränderten Mitteln:

  1. Die „Umweltprämie“ ist strukturkonservativ: Sie setzt auf den Erhalt vorhandener Produktions-, Infrastruktur-, Konsumtions- und Lebensweisestrukturen. Die Autogesellschaft wird verteidigt als zentrale Ort kapitalistischer Produktion und wichtige Basis der Lohnerwerbsgesellschaft, der Hochburgen des Modells Deutschland, der Kernbelegschaften, die zugleich das Rückgrat der IG Metall bilden. Diese Verteidigung der schrumpfenden Kernstrukturen des deutschen Industriesystems geht zugleich einher mit einer weiteren Prekarisierung. Working poor hat in Deutschland US-amerikanische Maßstäbe angenommen, Leiharbeiter sind zum immer schwächeren Reserveproletariat geworden. Sie waren die Ersten, die gehen mussten, als die Krise die Automobilindustrie erreichte.
  2. Die „Umweltprämie“ behauptet „grüne Modernisierung“: CO2-Reduktion soll mit dem Abwracken alter Autos und der Zulassung von neueren Wagen erfolgen. Dies soll der energieeffizienten Erneuerung und Senkung der Umweltbelastungen dienen. Die ökologische Modernisierung erweist sich dabei als Fortsetzung einer fossilistischen Entwicklung, die auf Großstrukturen und Großkonzerne setzt. Die Kriegsindustrie gegen die Natur wird mit zusätzlichen Staatsgeldern modernisiert und umgestaltet. Eine Abrüstung und strategisch ausgerichtete Konversion findet nicht statt. Die Krise wird so nicht zu Chance, die notwendige zusätzliche Staatsverschuldung einzusetzen für eine ökologisch ausgerichtete Transformation hin zu den Strukturen eines solaren Zeitalters. Noch einmal werden die immer knapper werden Ressourcen verschwendet.
  3. Die „Umweltprämie“ ist, wie schon längst nachgewiesen, Teil der herrschenden Sprachpolitik und steht für das neoliberale Neusprech der Umdeutung der Begriffe in ihr Gegenteil (George Orwell). Die „Umweltprämie“ ist eine Prämie, die man für fortgesetzte bzw. sogar verstärkte Umweltzerstörung erhält. Aufgrund der Tatsache, dass neue Autos, alte Autos verdrängen, die leichter gewesen sind, sinkt der Benzinverbrauch zumeist nicht und auch der CO2-Ausstoß bleibt gleich oder erhöht sich sogar. Es werden volkswirtschaftliche Werte (Altautos) mit der Abgasnorm Euro 4 verschrottet und teilweise durch Autos ersetzt, die sogar mehr CO2 freisetzen. Hätte man primär die Umweltbelastung senken wollen, so wäre der kostenfreie Einbau von Katalysatoren in Altautos der beste Weg gewesen. Schlimmer noch: Beachtet man die ökologische Gesamtbilanz eines Autors über die Lebenszeit von Produktion bis Verschrottung (LCA= Life Cycle Assessment) so erweist sich, dass die gesteigerte Nachfrage nach neu produzierten Autos zusätzliche Umweltzerstörung anrichtet. Zudem verlangen sie mehr Aluminium und Kunststoffe, deren Produktion bzw. Entsorgung stark umweltbelastend ist.
  4. Die „Umweltprämie“ stellt Zustimmung der Subalternen her. Sie ist eine sehr erfolgreiche Herrschaftspraxis. In Zeiten der Krise können genau jene, die sowieso schon eng dran sind, ein „Schnäppchen“ machen oder davon zumindest träumen. Sie ziehen in die Autohäuser, rätseln darüber, ob sie es sich irgendwie doch leisten können, vergleichen ihr altes Auto mit einem neuen, besseren, einem mit mehr Prestige. Sie werden in eine Massenbewegung verwickelt, deren Bedingungen von oben gesetzt wurden. Diese Massenbewegung ist nicht kollektiv, sondern privat, verändert nicht die Strukturen, sondern nutzt diese nur aus, bringt nicht zusammen, sondern spaltet.

    Die „Umweltprämie“ ist eine „aktivierende Passivierung“ (Antonio Gramsci) der unteren Mittelschichten. Sie beteiligen sich mit hohem Engagement am Ausbau genau jener Strukturen, durch die sie beherrscht werden. Sie erhalten Chancen zugeteilt, über deren Sinn oder Unsinn sie nicht entschieden haben. Und dabei wird ihnen zudem das Gefühl vermittelt, sie könnten durch Nutzung dieser Chancen ihre eigene Lage und die der Gesellschaft (Umweltsicherung, Schutz von Arbeitsplätzen) real verbessern. Es ist dies auch eine kulturelle Herrschaftspraxis: Der einzelne als privater Autofahrer, der den öffentlichen Raum gleichgültig vernutzt, dabei keine Rücksicht nimmt auf Natur und Umwelt, immer durch Fahrlässigkeit zur Bedrohung für andere werden kann, wird bestätigt: Ich bin, was ich fahre.

  1. Die „Umweltprämie“ macht abhängig. Viele der Käufer neuer Autos nehmen Kredite auf, denn die Zinsen sind relativ günstig und viele haben auch keine Reserven, um das neue Auto aus der „Portokasse“ zu bezahlen. Für sie sind diese rd. 10 Tsd. keine „peanuts“. Das System von Verschuldung und spekulativer Finanzakkumulation wird weiter angeheizt. Aber diese Kredite müssen bedient werden. Eine bestimmte Höhe des Einkommens ist Voraussetzung dafür, diese Kredite auch zu bedienen. Das ist ein zusätzlicher Grund, fast gnadenlos mit sich selbst und anderen um die Arbeitsplatz zu kämpfen, Leiharbeiter als feindliche Konkurrenz zu behandeln, Migranten „nach Hause“ schicken zu wollen. Und vielleicht wird bald dieser oder jener doch den Kredit nicht bedienen können und in den privaten Bankrott getrieben.
  2. Die „Umweltprämie“ ist patriarchal: Die Phantasien, die angesprochen sind, sind männlich. Das Leuchten der Augen beim Anblick der schickeren Karosse soll erinnern an den Blick „männlicher Jäger“ bei der Witterung eines Raubtiers. Nur ist ein Jaguar etwas teuer. Wäre es um die Umwelt gegangen, so wäre vor allem die Förderung des Kaufs von Kühlschränken beim Abwracken aller jener, die keine sehr hohe Effizienzklasse (AAA) haben, wesentlich sinnvoller. Und auch der kostenlose Austausch von klassischen Glühbirnen gegen Energiesparlampen, wie er in Venezuela praktiziert wird, wäre ökologisch außerordentlich wirksam. Eine einzige 11-Watt-Energiesparlampe, mit der eine 60-Watt-Glühlampe ersetzt wird, spart im Laufe ihres Lebens etwa 735 kWh. Zur Erzeugung dieser 735 kWh sind 830 kg Braunkohle notwendig, die 2100 kg CO2 freisetzen. Aber Kühlschrank und Glühbirne gehören offensichtlich immer noch in die „weibliche“ Welt des Heims.
  3. Die „Umweltprämie“ entsolidarisiert. Sie erzeugt einen Wettlauf zwischen allen, die sich formal ein Recht darauf ausrechnen. Denn die 1,5 Mrd. Euro reichen nur für rd. 5 Prozent jener Autos, die in Deutschland älter als 9 Jahre sind. Ein „Windhundverfahren“ ist in Gang gesetzt: Diejenigen, die zuerst die wirklich vollständigen Anträge eingereicht haben, sichern sich dadurch ihre Ansprüche. Aber wissen, ob es wirklich dazu kommt, wird er es erst später, nach getanem Kauf und Verschrottung. Dadurch, dass das Abwracken erzwungen wird, werden zudem die Kosten für gebrauchte Autos in Osteuropa und der Dritten Welt steigen. Und Hartz-IV-Empfänger sind (wieder einmal) per Gesetz ausgeschlossen. Und jene 30 Prozent der Bevölkerung, die kein Auto haben, weil sie so nicht fahren wollen oder es sich nicht leisten können, sind exkommuniziert aus der Mehrheitswelt. Mobilität wird als privater Luxus der kleinen Leute (des „Nordens“) inszeniert, der seine Kehrseite im Mangel, Umweltzerstörung, zugeparkter, lauter, verdreckter, stinkender und für den Fußgänger immer gefährlichen Städte hat und in den ökologischen GAU führt. Sie treibt die Energie- und Rohstoffpreise auch für das Lebensnotwendige hoch, befördert eine Situation, in der die Produktion von agrofuel durch Großkonzerne und von ihnen abhängigen Farmern die von Erzeugung von Nahrungsmitteln durch Bauern und ihre Genossenschaften verdrängt, die Nahrungsmittelsicherheit ganzer Länder zerstört. Die „Umweltprämie“ hier in Deutschland nimmt die wachsende Zahl von Hungertoten in der Welt als „Kollateralschaden“ in Kauf. Die deutsche Regierung und die Mehrheit im Bundestag haben sich der vielfachen fahrlässigen Tötung schuldig gemacht. Und wir Schnäppchenjäger sind ihre Mitläufer.

Eine seit über dreißig Jahren unterdrückte Alternative – der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) zum Nulltarif

Eine Krise, so der Chefs des Weißen Hauses von US-Präsident Obama, Rahm Emanuel, sei die Chance, „Dinge zu tun, von denen Du glaubst, Du hättest sie ohne diese Krise nicht tun können“. Die alten Pfade, die zu dieser Krise geführt haben, können verlassen werden. Dabei kommt es nicht darauf an, die fertige Lösung für die ganze Komplexität der Probleme zu finden, sondern schrittweise vorzugehen. Aus der modernen Evolutionstheorie kann man lernen, dass es nicht darauf ankommt, „ein gutes Tier hervorzubringen, sondern gute Bausteine zu finden, die sich zu guten Tieren zusammensetzen lassen“ (John Holland). Das Komplizierte eines grundlegenden Zivilisationsumbruchs kann einfach begonnen werden, immer in der Hoffnung, dass sich die guten Bausteine am Ende auf heute noch völlig unvorhersehbare Weise zu einem besseren, einem solidarischen Ganzen verbinden.

Zu den Versuchen, den Neoliberalismus mit anderen Mitteln fortzusetzen, und der Konjunkturkrise der Automobilindustrie durch eine antiökologische und antisoziale „Umweltprämie“ zu begegnen, gibt es eine seit langem bekannte und vieldiskutierte und doch fast völlig zum Vergessen gebrachte Alternative – den öffentlichen Personennahverkehr zum Nulltarif. Seit dem Richta-Report der Reformkräfte der Tschechoslowakei der späten 1960er Jahre und der Publikation der „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome war klar, ein Weiter-So führt in die Katastrophe. Die Unmöglichkeit der globalen Verallgemeinerung der Auto-Gesellschaft war common sense und stillschweigend haben wohl viele gehofft, dass China und Indien, dass Asien, Afrika und Lateinamerika arm bleibt. Die Zerstörung menschlicher Persönlichkeit durch eine Gesellschaft des „Habens“ (Erich Fromm) war schon vor vierzig Jahren gut erforscht. Die Zivilisationskrise warf ihre Schatten lange voraus. Heute ist sie eingetreten.

Der Neoliberalismus hat mit der Entfesselung des Finanzmarkt-Kapitalismus ein weiteres und vielleicht letztes (?) Mal die Maschinerie des Fossilismus, Konsumismus und des expansiven kapitalistischen Wachstums um jeden Preis sowie der hemmungslosen Selbstbereicherung aller, die sich bedienen konnten, angefeuert. Für Jahrzehnte wurden wichtigste Aufgaben wie die völlige nukleare Abrüstung, der Übergang zu einer nachhaltigen Entwicklung durch einen sozialökologischen Umbau, gemeinsamer Entwicklung von Nord und Süd sowie die Schaffung von Möglichkeiten eines selbstbestimmten solidarischen Lebens als leere Utopien von „Gutmenschen“ in zynischer Weise der Lächerlichkeit preisgegeben. Der Untergang des Staatssozialismus wurde als Selbstbestätigung der eigenen Herrschafts- und Lebensweise genossen, während sich real die Elemente einer globalen Zivilisationskrise immer schneller anhäuften, bis sie jetzt zur Explosion kommen. Es ist deshalb an der Zeit, sich der durch den Neoliberalismus zerstörten Alternativen zu erinnern.

Projekte eines für die Bürgerinnen und Bürger entgeltfreien öffentlichen Personennahverkehrs sind schon in der frühen Sowjetunion für kurze Zeit praktiziert worden, fielen dann aber der Neuen Ökonomischen Politik zum Opfer. Zwar blieben die Nahverkehrsbetriebe auch weiterhin hoch subventioniert, von einem Nulltarif wurde aber Abstand genommen. In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren hatte derartige Projekte im Westen ein Comeback. Sie wurden zugleich als Antwort auf die „Grenzen des Wachstums“, den American Way of Life und den Kapitalismus diskutiert. Es gab einzelne, kurzzeitige Experimente auf lokaler Ebene, bis sich der Zeitgeist und die reale Wirtschafts- und Sozialpolitik des sich formierenden Neoliberalismus dagegen wandte. Anfang der 1960er Jahre hatte der Öffentliche Personennahverkehr in der Bundesrepublik noch die gleiche quantitative Bedeutung wie der motorisierte Individualverkehr, dreißig Jahre später war dessen Anteil auf deutlich über 80 Prozent gestiegen.

Eine neue Welle der Diskussion kam in den 1990er Jahren auf und in Brandenburger Städten wie Lübben und Templin begannen 1997 bzw. 1998 neue Versuche der Einführung eines öffentlichen Busverkehrs zum Nulltarif. Das größte Projekt dieser Art läuft gegenwärtig in der belgischen Stadt Hasselt, in der 70 Tsd. Menschen wohnen, 40 Tsd. lernen und studieren und die durch viele sog. „Einpendler“ geprägt ist, Menschen, die am Tage für Arbeit, Studium und Einkauf in die Stadt fahren.

1995 kam es im Zusammenhang mit einem Wechsel des Bürgermeisters (der linke Sozialdemokrat Steve Stevaert war 1994 gewählt worden) zur Entscheidung, anstelle einer neuen, dann dritten Ringstraße dazu überzugehen, den öffentlichen Busverkehr zum Nulltarif anzubieten. Es wurde ein Mobilitätsabkommen mit der Region Flandern und dem Verkehrsunternehmen „De Lijn“ abgeschlossen. 1997 gab es in Hasselt acht Stadtbusse, die gerade einmal tausend Fahrgäste am Tag hatten. 2007 waren es 46 Stadtbusse und die Zahl der Fahrgäste hatte sich verzehnfacht. Der innere Ring wurde begrünt und umgebaut. Die Innenstadt wurde attraktiver und die Mobilität stieg.

Was spricht für den Öffentliche Personennahverkehr zum Nulltarif als bundesweitem und europäischen Projekt gerade jetzt in der Krise? Welchen Grund sollte es geben, diesen Einstieg in den Ausstieg aus dem individuellen Autoverkehr zu beginnen?

  1. Die erste Frage ist, können wir uns einen Nahverkehr zum Nulltarif überhaupt leisten? Nun liegen die volkswirtschaftlichen Kosten des Öffentlichen Personennahverkehrs bei höchstens der 50 bis 70 Prozent der Kosten für den motorisierten Individualverkehr.1 Bezieht man alle Folgekosten ein, so liegen die Aufwendungen im Vergleich noch deutlich niedriger. Die Gesellschaft würde enorm sparen. Ein gleich hohes Bruttosozialprodukt wäre plötzlich deutlich mehr wert. Wachsender Reichtum bei Nullwachstum! Aber die Kosten wären anders verteilt. Sie müssten durch die öffentliche Hand aufgebracht werden. Dies bedeutet eine Umverteilung von privat hin zu öffentlich, damit auch privat gespart werden kann. Die These des „Mehr Netto vom Brutto“ erweist sich hier als Demagogie. Denn ein Weniger vom Brutto des Einzelnen wäre real ein mehr, wenn es nur wirklich in die richtigen Ausgaben, in den Aufbau des Öffentlichen Personennahverkehrs, ginge. In Großbritannien geben Autobesitzer rd. ein Drittel (!) ihres Nettolohns monatlich für Kosten aus, die mit dem Auto verbunden sind.2 Der Blick auf die bloßen Benzinkosten führt völlig in die Irre.

    Wäre die Gesellschaft ein Unternehmen, so würde sie sagen, dass das Kapital, das in den Verkehrsmitteln steckt, möglichst intensiv ausgenutzt werden müsse. Private Autos haben eine genau entgegengesetzte Eigenschaft: Sie stehen vor allem rum im Wege und auf dem Wege. Sie nehmen gigantische Fläche an Fahrbahnen und Stellplätzen weg. Ihre Produktivität ist gegenüber dem Öffentlichen Personennahverkehr uneinholbar zurück. Ihre Durchschnittsgeschwindigkeit, wenn sie sich bewegen, ist in Städten um ein Vielfaches unter dem von Bahnen. Um diese Kostennachteile privater Autos auszugleichen, werden sie massiv subventioniert. Die Kosten, die privat in Rechnung gestellt werden, sind nach unterschiedlichen Angaben nur 70 bis 50 Prozent der realen gesellschaftlichen Kosten.

  1. Die CO2-Emmissionen in den hochentwickelten Ländern gehen zu rd. einem Viertel auf den Verkehr zurück. Die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln würde den CO2-Ausstoß um den Faktor 5 oder sogar 10 senken können. Um eine extreme Klimakatastrophe zu verhindern, sind Reduktionen in dieser Größenordnung in den nächsten zwei oder drei Jahrzehnten notwendig. Im Verkehr würde dies auf der Basis vorhandener Technologien allein durch die Umstellung auf öffentliche Verkehrssysteme möglich sein. Es gibt dazu keine vergleichbare technologische Alternative. Auch das sog. Elektroauto müsste ja auf Strom zurückgreifen, der in absehbarer Zeit in vielen Ländern nicht durch erneuerbare Energiequellen erzeugt werden kann. Die Treibstoffe aus landwirtschaftlichen Produkten („Agrofuel“) haben sich als eine Hauptursache weiterer Umweltzerstörung, des Ruins der ländlichen Produktion und wachsenden Hungers erwiesen.
  2. Von Garrett Hardin gibt es einen berühmten Artikel: Die Tragödie der Gemeinwesen (1968). Dort schildert er, wie Weideland, wenn es im Gemeindebesitz ist, Gefahr läuft, überweidet und zerstört zu werden. Was er nicht beachtet, ist, dass gute Gemeinden genau dies über viele Jahrhunderte nicht zugelassen haben, ganz anders als die auto- und kapitalfixierten westlichen Gesellschaften, die ihren „Schafen“ frei Lauf ließen. Sie haben zugelassen, dass die Autos den Globus zerstören, die Städte verstopfen, sie mit Abgasen vergiften, die Ressourcen erschöpfen, das Land zerteilen durch immer größere Straßen. Weltweit gab es im Jahre 2007 über 800 Millionen Autos, davon 250 Millionen in den USA. Jährlich wurden rd. 70 Millionen neue Autos produziert.3 Die Zahl von Toten je zurückgelegtem Kilometer ist beim Auto sechs- bis achtmal so hoch wie bei Bus oder Eisenbahn. Der motorisierte Individualverkehr ist die häufigste Ursache für Tod infolge von Unfällen weltweit. 1,2 Millionen Menschen sterben jährlich infolge derartiger Verkehrsunfälle, fünfzig Millionen werden verletzt. Diese Zahlen werden sich in den nächsten zwanzig Jahren voraussichtlich um rd. 60 Prozent erhöhen, so die Weltgesundheitsorganisation, wenn keine Wende eintritt.4 Autos sind nicht nur eine Waffe gegen die Natur, sie richten auch ein Gemetzel unter motorisierten und nicht motorisierten Bürgerinnen und Bürgern an.
  3. Ein Hauptgrund, der für Autos zu sprechen scheint, ist die erhöhte individuelle Mobilität, die Möglichkeit, direkt von Haus zu Haus zu kommen. Dem stehen zum einen die oft langen Fahrzeiten gegenüber. Zum anderen könnte die grundsätzliche Verlagerung des Personenverkehrs auf öffentliche Verkehrsmittel mit dem hochsubventionierten oder gleichfalls entgeltfreien Ausbau eines Taxisystems für kurze Strecken kombiniert werden. Auch die Möglichkeit von Carsharing für „die letzten zwei Kilometer“ ist in Erwägung zu ziehen, wobei eine Nutzung in der Höhe von 50 km (oder in dünn besiedelten Gebiete auch mehr) im Monat kostenfrei wäre. Die Lieferung von Einkäufen würde nicht im privaten Autor, sondern durch Massenlieferanten erfolgen. Länder wie die Schweiz zeigen, dass ein gutes dichtes Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln die Nutzung des privaten Automobils deutlich senkt. Umgekehrt ist die Ausdünnung des öffentlichen Angebots, seine Verschlechterung oder das schlichte Fehlen entsprechender Angebote eine wesentliche Ursache des steigenden motorisierten Individualverkehrs.
  4. Die Verdrängung des Autos aus den öffentlichen Räumen unserer Städte würde deren Rückgewinnung als Räume der Begegnung, des öffentlichen Lebens auf der Straße, der gefahrlosen Begegnung mit Fremden ermöglichen. Die Belastung durch Lärm, Schmutz (Feinstaub) und Abgase würde drastisch sinken. Viele große Straßen könnten weitgehend begrünt werden. Die Möglichkeiten der demokratischen Mitbestimmung über die Stadt würden steigen. Mit deutlich gestärkten kommunalen Verkehrsbetrieben könnten Unternehmen starker bürgernaher Mitbestimmung entwickelt werden. Anstelle den Zwängen privater Mobilität untergeordnet zu werden, würden die Städte ganz anders demokratisch gestaltbar. Die Städte des „Habens“ sind die des Autoverkehrs und der Konsumtempel, oft auf der zubetonierten Wiese, die Städte des „Seins“ sind Orte öffentlichen Nahverkehrs und der Kultur.
  5. Ein Öffentlicher Nahverkehr, der zum Nulltarif angeboten wird, ist ein typisches Mitte-Unten-Bündnis.5 Er ist solidarisch mit den Schwächeren, jenen, die sich kein Auto leisten können, die auf den öffentlichen Verkehr angewiesen sind, von dessen Mängeln besonders betroffen sind, denen teilweise aber auch das Geld für eine Monatskarte fehlt. Und er ist ein Angebot für die Mittelschichten, ihre hohe Mobilität nicht als privaten Luxus der Wenigen, sondern als „Luxus des Öffentlichen“ (Mike Davis) zu praktizieren, der allen zugänglich ist und keinen ausschließt.
  6. Ein ausgebauter öffentlicher Nahverkehr zum Nulltarif wäre eines jener Projekte, die wirkliche globale Kooperation ermöglichen. Der private Autoverkehr ist nicht global zu verallgemeinern, auch wenn genau daran gerade gearbeitet wird. In den reichen Ländern des Nordens ist die gleichzeitige Aufrechterhaltung eines privaten und öffentlichen Verkehrssystems heute noch zu finanzieren, aber wohl kaum noch morgen. Im Süden ist dies schon heute ausgeschlossen. Hier ist die Mobilität sozial extrem eingeschränkt. Der Umstieg auf den ÖPNV zum Nulltarif im Norden wäre extrem wirksame Entwicklungshilfe: Er senkt die Nachfrage nach Ressourcen, verringert die Klimagefährdung, von der vor allem der Süden bedroht ist, bietet ein Modell an, dass anders als der motorisierte Individualverkehr tatsächlich global verallgemeinert werden kann, könnte mit einem entgeltfreien Technologietransfer von Nord nach Süd verbunden werden. Ein Teil der volkswirtschaftlich eingesparten Kosten könnten in die Förderung entsprechender Infrastrukturprojekte in den Entwicklungsländern investiert werden.

In der jetzigen Krise sind öffentliche Konjunkturprogramme notwendig, um eine dauerhafte Rezession zu verhindern. Die Frage ist nur, ob es Programme wie die der „Umweltprämie“ sein sollen, die Industrien und Technologien fördern, die völlig überholt sind und einem vergangenen Zeitalter angehören, oder die des langfristigen sozialökologischen Umbaus. Der Planet ist zu klein geworden, um auf seine Kosten noch weiter Ressourcen zu verschwenden. Die Not ist zu groß, um durch wachsende Staatsverschuldung überlebte Strukturen zu erhalten. Die Chancen eines Wandels liegen zu sehr auf der Hand, als dass ein phantasieloses zerstörerisches Weiter-So geduldet werden sollte. Es ist Zeit, aus der Krise eine Chance zu machen, genau das zu tun, was wir eigentlich schon immer wollten – aufbrechen in eine gute, eine solidarische und deshalb auch autofreie Gesellschaft.

Zum Autor:

Michael Brie, Prof. Dr., Philosoph, Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitglied der Programmkommission der Partei DIE LINKE.

Das offene Internet retten

Beitrag von Norbert Schepers, geschrieben am 05.05.2009
Blackout Europe

Ein bisschen viel auf einmal: Mitte dieser Woche (6. Mai) sollen sowohl im Bundestag als auch im Europaparlament Gesetzesvorlagen beraten werden, die eine erhebliche Einschränkung des Internets als offenen Kommunikationsraum mit sich bringen sollen.

Zensursula - Von Laien regiert

Nach der erfolgreichen Petition für ein bedingungsloses Grundeinkommen findet nun die Petition “Internet - Keine Indizierung und Sperrung von Internetseiten” beim ePetition-System des Deutschen Bundestages zahlreichen Zuspruch. Die Zehntausender-Marke wurde gestern bereits überschritten. Es eilt insofern, als diesen Mittwoch der von Bundesministerin Ursula von der Leyen (inzwischen als "Zensursula" bekannt) initiierte Gesetzesentwurf in erster Lesung im Bundestag beraten wird.

Blackout Europe – Defending the Open Internet, "Das freie europäische Internet ist in akuter Gefahr". Ebenfalls diesen Mittwoch wird im Europäischen Parlament in zweiter Lesung über das so genannte "Telekom-Paket" (faktisch eine Rahmengesetzgebung für Telekommunikation in Europa) beraten. Trotz einiger Entschärfungen geht es hierbei weiter um die Wahrung von Netzneutralität und digitalen Bürgerrechten. "Diese Debatte entscheidet, wie die Zukunft des Netzes in Europa sein wird."

Weitere Informationen & Links im Blog der AG Digitale Demokratie.

„Ausverkauf der Politik“

Beitrag von Dieter Klein, geschrieben am 04.05.2009
Buchcover des ECON-Verlages

„Ausverkauf der Politik“ – Würde dieses Buch Katja Kippings auf wundersame Weise zur Lektüre in den Schulen, so hätte die junge Generation ein paar Chancen mehr, der Demokratie neues Leben zu geben. Würde es in der LINKEN viel gelesen, täte es auch deren Erneuerung als Antwort auf die gegenwärtige große Krise gut.

Dieter Klein und Christoph Spehr, bei der Buchvorstellung der RLS vom 21. März 09

Die Erosion der Demokratie in Deutschland ist das Thema des Buches vom „Ausverkauf der Politik“. Auf den ersten Blick scheint es größerer theoretischer Ansprüche zu entraten. Es ist ein Buch, das die Leserin und den Leser in eine lebensweltliche Wanderung durch alle wichtigen Sphären der Gesellschaft hineinzieht. Und allerorten stoßen wir auf das gleiche Grundübel, auf unterschiedlichste Gestalten der Aushöhlung und Schwächung der Demokratie. Es ist ein besonderes Verdienst in diesem Buch, dass die Erosion der Demokratie nicht, wie so häufig, einseitig als obrigkeits- und überwachungsstaatliche Tendenz, als autoritäre Entwicklung und Verlust von Arbeiterrechten verstanden, sondern als ein komplexer Prozess in nahezu allen Be-reichen der Gesellschaft sichtbar gemacht wird.

Katja Kipping, Adeline Otto und Katharina Weise bei der Buchvorstellung der RLS vom 21. März 09

Aber das wird uns nicht demokratietheoretisch erklärt, sondern eine engagierte Parlamentarierin führt uns beispielsweise anschaulich aus eigener Erfahrung vor, wie Entscheidungen und Strategiebildung vorbei an den Abgeordneten in nicht legitimier-te Expertengremien ausgelagert werden – die noch dazu oft einseitig unter dem Ein-fluss von Repräsentanten der ökonomischen Machteliten stehen. Verfahren werden durchgepaukt, die den Abgeordneten gerade mal eine Nacht für das Durcharbeiten von ein paar hundert Seiten Entscheidungsmaterial lassen. Aktionismus und Pragmatismus ersetzen nicht selten wirkliche Politik. Auf der Strecke bleibt die Demokratie. Und wenn Katja Kipping dann einfordert, die „Politik wieder aus den selbsternannten oder undemokratisch eingesetzten Geheimzirkeln zurück“ zu holen, liegt auf der Hand: Das ist vernünftig, die Gesellschaft braucht eine Erneuerung der Demokratisierung.

Aber Katja Kipping führt uns vor allem in die Normalität des Alltagslebens hinein. Und beiläufig gewinnt das Profil einer Politikerin Konturen, die eng mit den Problemen von Bürgerinnen und Bürgern verbunden ist – ob sie sie beim Erwerbslosenfrühstück in der Dresdener Dreikönigskirche aufnimmt, in der Initiative erwerbslose Akademiker, beim Fotoshooting – welche Eigenschaften sollen Frauen per Bild zugeschrieben werden – oder im Kontakt mit einer Schülerinitiative für günstige Verkehrstickets. „Die Zerstörung des Öffentlichen“ ist eines ihrer Themen. Sie zeigt, was es für das Schwinden von Demokratie bedeutet, wenn öffentliche Räume der Begegnung, für Protestcamps beispielsweise, wenn Seniorentreffs und Jugendklubs geschlossen werden, wenn private Medien interessengeleitet die Information der Bürgerinnen und Bürger dominieren, wenn Stadtwerke privatisiert werden und die Kommunen dabei ihren öffentlichen Einfluss auf die Energie- und Klimapolitik verlieren. Und wenn Steuersenkungen – vor allem zugunsten der Reichen – den finanziellen Spielraum für öffentlichen Einfluss schwinden lassen.

Kipping zeichnet den Abbau des Sozialstaats nach. Ihr Fokus ist dabei, was mit der Demokratie, mit dem Engagement von Bürgerinnen und Bürgern geschieht, wenn BezieherInnen niedriger Einkommen, gar von Arbeitslosengeld II, kaum noch die Fahrt zu einer Versammlung bezahlen können, wenn für Zeitungen und Bücher 7,59 ¤ im Monat ausreichen sollen und 1,47 ¤ für Kinderwünsche als angemessen be-trachtet werden.

Wir können mit vollziehen, wie die Chancen von Kindern von vornherein beschnitten sind, die in Problemquartieren aufwachsen, in deren Familien sprachliche Ausdrucks-fähigkeit nicht gefördert werden kann und Theaterbesuche einer fernen fremden Sphäre angehören. Ein unzureichendes Bildungsniveau ist vorprogrammiert, der Zu-gang zu höherer Schulbildung und gar zur Universität weigehend blockiert. Auf den Geburtstagsfesten von Familien in prekären Lebenslagen werden keine Beziehungsnetze geknüpft, die Aufstieg versprechen. Bei Katja Kipping kommt Pierre Bourdieus Theorie von Sozialkapital und kulturellem Kapital samt der von ihm analysierten Bedeutung des sozialen Habitus in der Gestalt von Alltagsbeschreibungen daher, die jede und jeder verstehen kann.

Und wir sind, ohne dass es bei der Autorin wütiger Schimpf- und Kraftausdrücke zur Kennzeichnung des neoliberalen Kapitalismus bedarf, mit ihr empört, dass in Kindertagesstätten und Schulen diese der sozialen Herkunft geschuldeten Defizite so vieler Kinder nicht einmal annähernd eine Korrektur erfahren. Wir empfinden Wut, wenn sie dann noch die Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage zitiert: dass den Kindern von Hartz-IV-Empfängern doch durchaus die gleichen Bildungsmöglichkeiten wie anderen Kindern offen stünden.

Allmählich erfassen wir, dass dem Konzept des Buches durchaus strikte theoretische Überlegungen zugrunde liegen. Die gegenwärtige Gesellschaft wird als eine ausdifferenzierte Gesellschaft analysiert, die unterschiedliche Teilsysteme umfasst: Politik, Wirtschaft, Rechtssystem, Bildung, Gesundheit usw. Für alle diese Systeme wird gezeigt, wie ihre gravierenden Defizite die Persönlichkeitsentfaltung der Individuen beschränken und wie insbesondere die Demokratie durch den Mangel sozialer Sicherheit, durch Bildungsdefizite, durch Klassenspaltung im Gesundheitswesen und durch obrigkeits- und überwachungsstaatliche Aushöhlung von Rechten der Bürgerinnen und Bürger schwer deformiert wird. Die Demokratie bedarf der Verankerung und förderlicher Bedingungen in allen Teilsystemen der Gesellschaft. Aber überall werden ihr zunehmend Voraussetzungen entzogen.

Die verschiedenen Abschnitte des Buches stützen sich auf die Einsichten von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und – ein weiterer Vorzug des Buches – nicht selten auf Anstöße aus Kunst und Literatur. Aber nicht Theorien werden expliziert, sondern wir berühren die Lebenswelten, die in den Theorien verallgemeinert werden und verstehen dann, jeweils nur durch wenige Sätze auf den Punkt gebracht, was in den Theorien steckt oder in ihnen falsch und interessengeleitet reflektiert wird.

Besondere Aufmerksamkeit wird im vorliegenden Buch der Arbeitssphäre und dem Plädoyer für ein bedingungsloses Grundeinkommen gewidmet – nicht verwunderlich für alle, die Katja Kippings politisches Profil beobachten. Und sie hat ein unverwechselbares Profil, was bei weitem nicht über alle Politikerinnen und Politiker der LINKEN gesagt werden kann.

Allerdings ist das Kapitel über Arbeit vor allem als Argumentation gegen die „Glorifizierung der Arbeit“ geschrieben. Richtig wird darauf verwiesen, dass die Verbindung zwischen Leistung, Arbeit und Einkommen schon längst erodiert. Ein großer Teil der aufgewendeten Erwerbsarbeit bringt vom Standpunkt der Persönlichkeitsentfaltung sinnlose Gebrauchswerte und Leistungen hervor und hat oft Zwangscharakter. Viel-fach wird entfremdete und demütigende Erwerbsarbeit geleistet. Dagegen wird der Wert freiwilliger gesellschaftlicher Arbeit und die Bedeutung von gesellschaftlich wenig anerkannter häuslicher Familienarbeit für die Gesellschaft betont. Daraus werden jedoch kaum Schlussfolgerungen für eine emanzipatorische Veränderung der Erwerbsarbeit, für gewerkschaftliche Kämpfe um „gute Arbeit“ und um Konversion zu sozialökologisch sinnvollen Produktionsstrukturen gezogen.

Es kommt Katja Kipping ja darauf an, in einem folgenden Kapitel ein bedingungsloses Grundeinkommen für jede und jeden als „Demokratiepauschale“ in das Zentrum der von ihr entwickelten Alternativen zu stellen. Damit leistet sie mit einer gewissen Logik einem Vorwurf vieler Kritiker des bedingungslosen Grundeinkommens Vor-schub. Diese halten es für problematisch, dass ein demokratischer, sozial und ökologisch orientierter Umbau der Arbeitswelt - so wie etwa bei Wolfgang Engler - ausdrücklich eher in das „Reich eines abgeschlossenen historischen Kapitels“ verwiesen wird – zugunsten der Gestaltung eines mit Hilfe des Grundeinkommens selbstbestimmten Lebens jenseits der Erwerbstätigkeit.

Gleichwohl sind Kippings Argumente für ein bedingungsloses Grundeinkommen ü-berwiegend stark und einleuchtend. Sie könnten aber ebenso für eine repressionsfrei zu gewährende bedarfsorientierte soziale Grundsicherung für alle diejenigen ins Feld geführt werden, die bedingt durch Alter, Krankheit, Ausbildung oder Arbeitslosigkeit ihr Einkommen nicht durch Erwerbsarbeit sichern können. Da sich keine Verständigung zwischen beiden Positionen abzeichnet, sollten sich beide Seiten auf gemeinsame Grundanliegen, auf gemeinsame nächste Schritte zu mehr sozialer Sicherheit als Bedingung selbstbestimmten Lebens und auf gemeinsame Kämpfe dafür verständigen. Der Ausgang dieser Kämpfe mag als ein offener Prozess betrachtet wer-den, der ohnehin nicht durch die nächsten Schritte vorentschieden wird.

Ein starkes Kapitel, für Frauen und besonders für Männer ganz sicher mit erheblichem Gewinn für eigenes Verhalten zu lesen, ist das Plädoyer für Geschlechtergerechtigkeit. Die von Katja Kipping wohltuend gepflegte Diskurskultur schließt in diesem Kapital auch parteiübergreifende Solidarität ein, etwa mit Andrea Ypsilanti, Andrea Nahles und Frau von der Leyen. Nachdenklich macht, was die Autorin zu einem unbewussten Antifeminismus bei Männern zu bedenken gibt. Im Abschnitt zu einem erneuerten Feminismus vermittelt sie ein Gefühl für Ambivalenzen in gesellschaftlichen Szenen mit feministischem Einschlag, die den älteren Durchschnittslinken wohl in der Regel ein Buch mit sieben Siegeln sind. Dass sich da eine Frau auch aus eigenen Erfahrungen nicht allein auf feministische Überredungskünste zu beschränken gedenkt, spricht höchst erfrischend aus dem Abschnitt „Machiavelli für Frauen“.

Im Kapitel über „eine neubegründete Linke“ wird deutlich, wie stark feministisch-demokratisches Denken in die Gesamtprofilierung der Linken – zumindest verbal – einzugreifen vermag. Das ganze Buch handelt von der Erosion der Demokratie in der gegenwärtigen Gesellschaft. Und jedes Kapital endet mit Vorschlägen zur Erneuerung der Demokratie.

Sehr zwingend mündet dieser rote Faden ein in die erste Forderung an ein linkes Projekt heute: Zentral für eine linke Partei ist, sich ebenso als Partei der Emanzipation, der Demokratie und individuellen Selbstbestimmung zu verstehen wie als Partei des Sozialen und der Gerechtigkeit. Freiheit und soziale Rechte gehören zusammen wie der Kampf um die Verfügung über Produktionsmittel und der Kampf um die Verfügungsgewalt über das eigene Leben. Das setzt Katja Kipping gegen eine Tendenz in der Linken, die Freiheit zur Selbstbestimmung des eigenen Lebens für jede und jeden als zweitrangig anzusehen.

Als weitere zentrale Momente für die Identität einer linken Partei werden globale Gerechtigkeit als Einheit von sozialer und ökologischer Frage und ein Abschied der Linken vom Wachstumswahn hervorgehoben. Die letztgenannte Forderung an eine linke Partei hat es in sich, betrachtet doch aufgrund vieler Erfahrungen insbesondere ihre gewerkschaftliche Strömung das Wachstum als die günstigste Bedingung für die Durchsetzung von Zielen der Lohnabhängigen. Aber wenn DIE LINKE in dem bevor-stehenden Kämpfen um einen sozialökologischen Umbau der Gesellschaft, dem wahrscheinlich zentralen Problem des 21. Jahrhunderts, eine starke Position ein-nehmen will, kommt sie an dieser in ihrer Programmatik bisher völlig vernachlässigten Frage nicht herum.

Zur Identität der LINKEN gehört natürlich – aber keineswegs von allen Mitgliedern bewusst angenommen – ein Selbstverständnis als feministische Partei. Zu dieser Identität gehört ferner, dass die Richtlinienkompetenz bei der Partei und nicht bei der Fraktion liegen soll. Als unumgänglich für linke Parteien sieht Katja Kipping einen klaren Bruch mit Elementen autoritärer Führung an. Und sie will einen Raum für Lebenslust in der Partei. Das Projekt der Partei DIE LINKE wird dezidiert als transformatorischer Prozess verstanden, in dem der alte Streit zwischen Reform und Revolution aufgelöst wird. Was für ein schöner Beitrag zur künftigen Programmatik der LINKEN und für ihre tatsächliche Entwicklung! Achtunddreißig Seiten gebündelter Anspruch an DIE LINKE, die es in sich haben – zu recht. Und die in der Realität der LINKEN nicht leicht durchzusetzen sein werden.

Mein Lob des vorliegenden Buches wäre unproduktiv für Katja Kipping, würde es nicht ein paar kritische Anmerkungen einschließen – außer den Fragen zu Arbeit und Grundeinkommen.

Erstens mag die Frage erlaubt sein, ob der Zerstörung der Demokratie durch die Dominanz des Profits der ökonomischen Machteliten in Wirtschaft und Gesellschaft nicht größeres Gewicht beigemessen werden sollte. Strategische Entscheidungen über Volkswirtschaftsstrukturen, über menschliche Sicherheit oder ihr Gegenteil, über das reale Verhältnis von Ökonomie und Ökologie, über Abwendung oder Heraufziehen einer Klimakatastrophe, über die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Nord und Süd mit Folgen für Leben oder Tod von Hunderten Millionen Menschen in den Entwicklungsländern fallen häufig in den Zentralen transnationaler Unternehmen und nicht zuletzt auf den Finanzmärkten – vorbei an den Institutionen der Demokratie.

Zweitens: DIE LINKE kann nur mit einer proeuropäischen Orientierung, nur im Rahmen europäischer und globaler Solidarität erfolgreich sein. Müssten nicht – etwa in einem nächsten Buch der Autorin – als Raum der Erneuerung der Demokratie zumindest die europäische Dimension und darüber hinaus globale Prozesse erheblich stärker beachtet werden? Denn gegenwärtig ist der Souveränitätstransfer von Nationalstaaten an multinationale Regierungsinstitutionen außerhalb demokratischer Kontrolle ein zweiter Mechanismus der Erosion von Demokratie neben der Übermacht des transnationalen Kapitals.

Drittens – weniger als Kritik, denn als Problematisierung: Kategorien linken Denkens wie Kapitalismus, demokratischer Sozialismus, Profitsystem, Regulationsweise usw. tauchen in Katja Kippings Buch kaum auf. Wahrscheinlich ist dies ein seltener Vorzug: Eine linke Politikerin, noch dazu die stellvertretende Parteivorsitzende, vermag grundkritisch über den Zustand der Gesellschaft auf sehr verständliche Weise zu schreiben, ohne das gewohnte linke Vokabular zu strapazieren. Zweifellos ein Vorteil, um Menschen über das gewohnte Umfeld der LINKEN hinaus zu erreichen.

Aber begriffliche Schärfe ist gleichwohl eine Bedingung auch in den künftigen geistigen Auseinandersetzungen. Vielleicht wäre es eine Möglichkeit, zum Ende wichtiger im Buch behandelter Problemkreise – jeweils etwa in einem Kasten – ganz knapp zu erläutern, wie ein anschaulich dargestellter Komplex in der Theorie und in Kategorien Niederschlag findet. Aber wahrscheinlich würde ein solches Vorgehen zu einem Bruch in der klaren, lebensnahen, in knappen unverschachtelten Sätzen daherkommenden Präsentation führen. Ich ziehe meine Erwägung deshalb wieder zurück.

Gratulation zu diesem Buch!

Katja Kipping: »Ausverkauf der Politik. Für einen demokratischen Aufbruch« erschien im März 2009 im ECON-Verlag. Gebunden, 368 Seiten, ISBN: 978-3-430-20079-0

Zum Autor:

Prof. Dieter Klein ist Leiter der Zukunftskommission der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitglied der Programmkommission der Partei DIE LINKE. – Dieser Beitrag ist die schriftliche Fassung seines Kommentars zum Buch bei der Buchvorstellung der RLS am 21. März 09. Ein Bericht zur Veranstaltung findet sich bei der Emanzipatorischen Linken.

Laubenpieper-Sozialismus

Beitrag von Bernd Hüttner, geschrieben am 03.05.2009
Bernd Hüttner, Rosa-Luxemburg-Stiftung

Steffen Kludt: Am Ende des Fortschritts? „Sozialismus in den Farben der DDR“. Eine generationsgeschichtliche Perspektive. Schkeuditzer Buchverlag 2009, 168 Seiten.

Zur DDR sind wahrlich schon sehr viele Bücher erschienen. Steffen Kludt bietet seinen LeserInnen mit seiner bei Konrad Jarausch geschrieben Staatsexamensarbeit ein Best-of der vor allem mit dem voluminösen Band „Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive“ (Leipzig 2005) definierten und mit Annegret Schüle, Thomas Ahbe, Rainer Gries und anderen verbundenen kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Generationenforschung zur DDR.

Kludts zentrale These ist, dass die innere, schlussendlich im Zusammenspiel mit anderen Faktoren zum Untergang führende Krise der DDR auf einen „Clash der Generationen“ zurückzuführen ist: Die die DDR dominierende Generation der antifaschistischen Kämpfer mit ihrer Sozialisationserfahrung konnte mit Modernisierung und Individualisierung ab Mitte der 1960er Jahre nicht umgehen, die mit ihnen einhergehenden zivilisatorischen Potentiale nicht produktiv nutzen.

Fünf Generationen werden von Kludt unterschieden. Die älteste ist die „Alte Garde“, die noch von der Weimarer Zeit der extremen Konfrontation geprägt worden ist. Die sozialistische Utopie dieser von Honecker und seiner Generationskohorte verkörperten „antifaschistischen Patriarchen“ sei vor allem von den Entbehrungen ihrer Jugendzeit zu Beginn der Weimarer Republik formatiert worden. Genügend und billiger Wohnraum, Ernährung und Kleidung, so sah der Traum vom besseren Leben für diese Generation aus – und dieser Traum limitierte auch ihr politisches Vorstellungsvermögen und Handeln. Individuelle Freiheit und Pluralität von Lebensformen kommen da nicht vor. Die auch von anderen HistorikerInnen so bezeichnete Aufbau-Generation (Jahrgänge 1925 bis 1935) stellte zusammen mit der „Alten Garde“ die erste Führungsschicht der neu gegründeten DDR der 1950er Jahre, beide hatten eine hohe Identifikation mit dem Sozialismus in den Farben der DDR. Die Aufbaugeneration stand aber immer im Schatten der „Alten“ und, so Kludt, entwickelte „kein eigenes politisches Selbstbewusstsein“.
Die dritte Generation ist die der Funktionierenden (Jahrgänge 1935 bis ca. 1950), sie gilt als unauffällig, orientiert sich an den beiden älteren Generationen, nur ein sehr geringer Teil von ihr wird Bestandteil der Post-68er-Reformdebatte und dann des 1989er Herbstes. Die vierte Generation, die Kludt die „integrierte“ nennt, ist die erste, die ihr komplettes Leben in der DDR verbringt, da ihre Angehörigen erst nach deren Gründung geboren werden. Sie war deren materielles Niveau gewöhnt, und als sie erwachsen wurde, stand die DRR auf dem Höhepunkt ihrer moralischen Reputation und wirtschaftlichen Entwicklung. Die „Integrierten“ beginnen aber, sich zaghaft mental und kulturell von den ihnen vorhergehenden drei Generationen zu entfernen. Diese Distanzierung beschleunigt sich bei den „Entgrenzten und Distanzierten“. Die Angehörigen der Jahrgänge der 1960er bis Anfang der 1970er Jahre sind in ihrer Alltagswelt vom offiziellen Staatssozialismus entkoppelt. Einige Theoretiker erkennen zwar noch und fordern, dass die wissenschaftliche-technische Revolution nur zusammen mit „der Jugend“ machbar ist, und die Staatspartei gesteht zur Bewältigung jener auch gewisse Nischen zu, politisch bleibt aber alles im wahrsten Sinne des Wortes beim / bei den Alten.
Die DDR und ihre Staatspartei misst der Jugend hohe Bedeutung zu, jene wendet sich aber schon längst von der gerontokratischen Fürsorgediktatur ab. Was frühere Generationen noch vor dem Hintergrund einer harten Kindheit und Jugend als Schutz empfunden hatten, ist für die jüngeren selbstverständlich und wird immer mehr unter dem Aspekt der „Gefangenschaft“ wahrgenommen. Es ist ein Allgemeinplatz, dass westliche Medien große Bedeutung für die Sozialisation der Angehörigen der entgrenzten und distanzierten Generation hatten.

Aus diesem angenehm zu lesenden Buch, in dem der Begriff „Stalinismus“ nicht auftaucht, ist viel über die DDR und über DIE LINKE zu lernen, denn die meisten derzeitigen Mitglieder der älteren Parteieliten dürften der hier „integriert“ genannten Generation angehören.
Der 1978 geborene Steffen Kludt erhielt für sein Buch zurecht den Förderpreis Wissenschaft der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg 2009.

Zum Autor:

Bernd Hüttner, Jahrgang 1966, Politikwissenschaftler, arbeitet als Regionalmitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Bremen. Koordinator des bundesweiten Gesprächskreises Geschichte der RLS und Mitglied der Historischen Kommission der Partei DIE LINKE.
Weiteres siehe hier auf der Website der Bremer Landesstiftung der RLS.

1. Mai: Die Würstchenbude ist großartig, alles andere ist Quark.

Beitrag von Jörg Schindler, geschrieben am 01.05.2009

Während in den USA gerade mit Chrysler der erste "systemrelevante" Autobauer Insolvenz angemeldet hat - trotz der massiven Intervention der neuen sozialdemokratischen Obama-Regierung - und die Einschläge steigender Arbeitslosenzahlen täglich näher auch in Deutschland zu hören sind, feiern die Kräfte des Fortschritts den 1. Mai. Das mag als solches nicht ungewöhnlich, sondern eher Grund zur Freude sein. Wären da nicht gewisse Formen der Realitätsverweigerung.

Die Würstchenbude ist großartig, alles andere ist Quark.

Nehmen wir das Industrieproletariat. Pünktlich 10 Uhr findet es sich auf den Märktplätzen und Stadtparks diverser Klein- und Großstädte zum fröhlichen Stelldichein ein. Bei Würstchenbude, verdünnten Hellbier und frischgebügelten Kurzarmhemd wird "Kolleesche" begrüßt und über dies und das geklönt. Wie gehts der Tochter? Ach, machtse jetzt auch ne Ausbildung? Und dem Gerd? Meeensch, das hätte ich ja nicht gedacht.

Währenddessen hält der Ortskartellvorsitzende ne hochnotkämpferische Rede, in der er die Politiker an ihre Wahlversprechen, die Unternehmen an ihre Verantwortung für Belegschaft, Volk und Vaterland sowie die Anwesenden an ihr Klassenbewusstsein erinnert. Gekrönt wird dies mit der impulsiven Forderung nach Umverteilung und sozialer Gerechtigkeit. Allen Beteiligten ist klar: Das muss so sein, ist aber auch egal, weils eigentlich auch niemand so richtig interessiert.

Der Krawall ist großartig, alles andere ist Quark.

Nehmen wir das Ersatzproletariat. Beheimatet ist es in den diversen Großstädten und meldet pünktlich zum 1. Mai, vertreten durch antihierarchisch handelnde Menschen aus ihren Reihen, wiederum eine "revolutionäre 1.-Mai-Demo" an. Nachdem bereits im Vorfeld die radikale Konfrontation mit dem Staat und seinen Bütteln, der Polizei und Versammlungsbehörde, auf dem Gebiete des Anmeldungsbürokratismus ausgefochten wird (Höhepunkt wäre dann ggf. die Fortsetzung des Scharmützels vor dem einschlägigen Verwaltungsgericht, welches dann festlegt, welchen Fußbreit die Demoroute noch haben darf, ehe die Schlägerübergriffe der Polizei als rechtmäßig gelten), sammeln sich die radikalen Kämpferinnen und Kämpfer zu einer extrem systemstürzend relevanten Demo, an deren Ende das Rating der Zahl von Polizeiübergriffen, Verletzten, beschädigten Bonzen- und Proletenkarren am Straßenrand und Nachrichtensekunden im abendlichen Programm steht.

Was lernt uns das?

Was lernt uns das, fragt Oma lebensweisheitlich. Nun, alles ist wie immer. Sowohl Proletariat als auch Stellvertreterproletariat sind trotz Wirtschaftskrise nach wie vor mit ihren liebgewordenen Gewohnheiten beschäftigt. Der Feiertag des 1. Mai gilt weiterhin der Huldigung des Sonnenwetterkapitalismus der Wohlstandsperiode. Schön säuberlich getrennt marschieren Würstchenbudenbesucher und Krawallmacher - beides die schlechten Seiten des Arbeiterklassenkampftages - durch die Lande und verbreiten schlechte 1.-Mai-Stimmung. Menschen, die sich davon nicht angesprochen fühlen, - wie ich - besuchen derzeit miesepetrig die eine oder andere Veranstaltung. Dies ist ein Aufruf: Proletarier aller Autobauer, überwindet Euch und fahrt in die Großstädte. Und Stellvertreterproletarier aller Couleur, zeigt den Proleten Eure Stadt. Demonstriert gemeinsam. Mitten in der Wirtschaftskrise. Für einen 1. Mai 2010 ohne Würstchenbude und Krawalleristik!

Listenauftstellungen wie in einer normalen Partei.

Beitrag von Kolja Möller, geschrieben am 24.04.2009


Am Wochenende geht’s mal wieder bei den Listenauftstellungen der LINKEN rund. Besonderes interessant: In Hessen will sich Sabine Leidig, Bundesgeschäftsführerin von ATTAC, um einen aussichtsreichen Listenplatz bewerben. Eigentlich eine gute Sache: Sie steht für die globalisierungskritische Bewegung, sie ist ausstrahlungsfähig und kann Wählerinnen und Wähler erreichen, die die LINKE bisher sträflich vernachlässigt hat. Doch der Landesvorstand und die Parteibasis blockt. In einem Beschluss wird Sabine Leidig angegriffen, sie habe sich bisher nicht genügend für die Linke nicht eingesetzt. Ein fatales Signal an soziale und außerparlamentarische Bewegungen, deren Funktionäre in Zukunft nur dann politisch bei Listenaufstellungen mitmischen sollen, wenn sie im vorauseilenden Gehorsam so handeln, als wären sie loyale Duckmäuser. Andere beklagen, dass Sabine Leidig bisher nicht in der Partei verankert sei. Hier zeigt sich, dass die LINKE eine ganz normale Partei ist: Auch in allen anderen Parteien gibt es regelmäßig Kämpfe darum, ob eher Funktionäre aus der Parteiochsentour oder gesellschaftlich ausstrahlungsfähige Personen sich auf vorderen Listenplätzen durchsetzen. Eigentlich gilt dabei, dass es die Mischung macht und man beide Komponenten braucht. Wollen wir hoffen, dass die hessischen Delegierten das berücksichtigen. Es wäre schon ein bedenkliches Signal, wenn eine prominentente Vertreterin aus der globalisierungskritischen Bewegung abgekanzelt wird und im Gegenzug jeder ein Pöstchen zugeschachert bekommt, der in der SPD der siebziger und achtziger Jahre mal an einer Ortsvereinssitzung teilgenommen hat.

Die taz wird 30. Wir gratulieren auch.

Beitrag von Redaktion, geschrieben am 18.04.2009

Liebe taz,

Du wirst 30 Jahre alt. Und selbstverständlich wünschen wir Dir - so wie es sich für jedes langweilige Glückwunschtelegramm gehört - weiterhin viel Glück, Erfolg und Freude mit Deinen Lieben, Blablabla. Das ist die offizielle Grußadresse.

Inoffiziell schauen wir als Magazin "prager frühling" natürlich etwas neidisch auf Deine Abo-Zahlen, Deine biologisch und politisch korrekte Verlagseinrichtung und -adressanschrift, Deine angestellten, blöderweise nicht nach Tarif bezahlten RedakteurInnen, Deine politische Geschichte. Ein bisschen wären wir auch so, nur - klar! - natürlich linker, sozialistischer, politisch korrekter, tariflich bezahlter. Und unsere Kantine würde eine Dönerabteilung haben, an der uns, wenn wir an sie herantreten, der - selbstverständlich männliche - Dönerist laut und deutlich in klarem kreuzbergischen Akzent mit "...scharf, auch?!" anbrüllt.

Das alles wären wir gern, und noch viel meeheer: Den absoluten Vogelabschuss landetest Du unseres Erachtens, als Du am 8. Mai 2002 auf Deiner Satire-Seite "die wahrheit" behauptetest, der Bild-Chef-Reaktionär vom Dienst Kai Diekmann habe sich einer Penisvergrößerung unterziehen wollen.Das war wirklich gut; das war lustig, das menschelte, ach nein: menschenrechtelte.

Und zwar so gut, dass der dieke Diekmann den klassischen Fehler beging, den man nur begeht, wenn man in den tiefsten Abgründen seines Ichs getroffen ist und den Verstand ausschaltet - was im Übrigen stark dafür spricht, dass ihr mit Eurer Aussage mindestens intuitiv richtig lagt. Jedenfalls verlegte der besagte BILD-Lohnschreibersklavenhalteraufseher schnurstracks den letzten Rest Verstand in seinen kleinen Penis, klagte gegen Dich und verlor den Prozess mit der so denkwürdigen wie zutreffenden gerichtlichen Wertung, dass Diekmann als BILD-Oberknallfroschdompteur "bewusst seinen wirtschaftlichen Vorteil aus der Persönlichkeitsrechtsverletzung anderer sucht" und daher "weniger schwer durch die Verletzung seines eigenen Persönlichkeitsrechtes belastet wird". Er müsse also "davon ausgehen, dass diejenigen Maßstäbe, die er anderen gegenüber anlegt, auch für ihn selbst von Belang sind". Das war super, das war geil. Echt. Das schrieb Geschichte. Wir haben gequiekt vor Freude, und überall in Deutschland knallten die Demeter-Schaumweinerzeugniskorken!

Aber eines tun wir im Gegensatz zu Dir ganz sicher nicht: Joschkas Kosovo-Schmarrn und ähnlichem Hokuspokus auf den Leim gehen. Mit uns wird's daher bestimmte Jubelschlagzeilen der deutschen Post-68er-Alternativgroßmachtmitszene nach Bielefeld nicht geben, z.B. die: "Schlächter Abgang" zum Tod von Milosevic.

Aber so haben wir eben alle unsere kleinen Leichen im toskanischen Weinkeller. Lass Dir davon zu Deinem 30. nicht den Kopf schwer machen: Feiere, singe, tanze, schreib Dir die Seele aus dem Leib. Denn die Diekmanns kommen und gehen - taz sollte bleiben, finden wir.

Deine Redaktion von "prager frühling - Magazin für Freiheit und Sozialismus"
-Redaktion *prager frühling-

Ein modernisierter Antiimperialismus

Beitrag von Katja Kipping, geschrieben am 08.04.2009
Katja Kipping

Es gibt viele Konflikte auf der Erde. Doch keiner spaltet die gesellschaftliche Linke in Deutschland so sehr wie der Nahostkonflikt. Während ein Teil der deutschen Linken sich positiv auf die „antiimperialistischen“ Befreiungsbewegungen der sechziger und siebziger Jahre bezieht und den palästinensischen Widerstand hier tendenziell einpasst, bezieht sich an ein anderer Teil auf die antideutsche Wende, die Anfang der 1990er Jahre die Linke erschütterte: Konkret geht es hier um die Einsicht, dass antiimperialistische Befreiungsbewegungen nicht selten hinter das etablierte Emanzipationsniveau demokratisch-kapitalistischer Gesellschaften zurückfielen, weshalb umgekehrt eine Solidarität mit dem Staat Israel erforderlich sei.

Ein Dazwischen, eine dialektische, das heißt eine Widersprüchlichkeiten anerkennende, Bearbeitung des Nahostkonfliktes steht auf verlorenem Posten. Mit dem Buch „Die deutsche Linke, der Zionismus und der Nahost-Konflikt“ von Jutta von Freyberg, Wolfgang Gehrcke und Harry Grünberg, welches im April 2009 beim PapyrossaVerlag erscheint, liegt jetzt eine neue Problematisierung vor. Zwar verhehlen die AutorInnen nicht ihre Sympathien für antiimperialistische Positionen, gleichzeitig jedoch versuchen sie sich an einer „Erneuerung“ und sind bereit, Probleme des traditionellen Antiimperialismus anzuerkennen, um schließlich eine „Post-Zionistische Perspektive“ als friedenspolitischen Orientierungsrahmen für den Nahen Osten zu entwerfen. Die AutorInnen machen sich auf einen par force Ritt durch den Nahostdiskurs: Neben den historischen Wurzeln des Zionismus arbeiten sie das vertrackte Verhältnis der Arbeiterbewegung zur Judenfrage heraus und zeichnen die Gründung Israels und die Arabische Revolution nach. Das Ganze mündet in einer Auseinandersetzung mit dem Diskurs der Linken zum Nahostkonflikt und Vorschlägen der AutorInnen für Schritte in Richtung Frieden in der Region.

Dabei unterschlagen die AutorInnen ihren Zionismus-kritischen Ausgangspunkt nicht: In den Ausführungen zur Gründung des Staates Israel wird dann auch deutlich hervorgehoben, dass bereits vor dem Populärwerden des Zionismus die britische Mandatsmacht großes Interesse an einer weiteren Kontrolle über das Gebiet hatte. Folgerichtig trägt ein Unterkapitel die Überschrift: „Der Zionismus war nur durch Allianzen mit Kolonialmächten realisierbar.“ In der Zuspitzung führt diese Analyse zu dem Eindruck, die Gründung des Staates Israels sei vorrangig eine Fortführung des Kolonialismus.

Und doch wäre es ein Fehler, wenn all jene Diskurskräfte, die einen kritischen Blick auf den klassischen Antiimperialismus und Antizionismus haben, dieses Buch einfach als eines der üblichen antiimperialistischen Schriftstücke abtun. Dafür findet sich zum einen in diesem Buch zu viel Wissenswertes, beispielsweise die kritische Aufarbeitung antisemitischer Tendenzen in der Arbeiterbewegung. Kaum einer der linken Köpfe wird da verschont. Angefangen bei Wilhelm Liebknecht, der der antisemitischen Dreyfus-Affäre auf dem Leim gegangen war und lange von der Schuld des der Spionage zu Unrecht beschuldigten jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus überzeugt war bis hin zu Rosa Luxemburg, die die Judenfrage als Nebenwiderspruch herunterspielte. Lediglich der Sozialdemokrat und Reformer Eduard Bernstein warnte schon früh vor einer Unterschätzung des Antisemitismus.

Unüblich für den klassischen Antiimperialismus ist zudem das in diesem Buch deutlich vorhandene Hinterfragen des emanzipatorischen Gehaltes von nationalen Befreiungsbewegungen. So heißt es in dem Kapitel zu nationalen Befreiungsbewegungen u.a.: „Viele Befreiungsbewegungen führten nicht in die Emanzipation, sondern zu Autokratien.“ So deutlich die AutorInnen am Anfang in der kritischen Aufarbeitung des linken Antiimperialismus der Vergangenheit sind, so eindeutig ist jedoch ihr Plädoyer am Ende dafür, „die Kritik am Imperialismus wieder aufzunehmen und zu einer modernen Imperialismustheorie weiter zu entwickeln.“

Die AutorInnen vertreten in diesem Buch keine dezidiert antizionistische Position. Vielmehr führen sie selber Argumente an, warum der Antizionismus, für den es aus linker Perspektive in der Vergangenheit womöglich sogar Gründe gegeben haben mag, durch die Geschichte überholt ist. Im Gegenzug hat für die AutorInnen aber auch der Zionismus ausgedient: Eine postzionistische Perspektive stehe vielmehr auf der Tagesordnung. So wird am Beispiel von Dov Khenin, der 2008 bei den Bürgermeisterwahlen in Tel Aviv ohne großes Budget von 0 auf 35 Prozent kam, exemplarisch unterstellt, dass einer postzionistischen Perspektive die Zukunft gehört: „Nicht weil der Zionismus historisch widerlegt worden sei, sondern weil er die progressive Funktion, eine jüdische Staatsbildung zu ermöglichen, erfüllt hat.“ Fraglich bleibt dabei, inwieweit sich die postzionistische Perspektive substantiell, das heißt jenseits der sprachlichen Innovation, vom Antizionismus unterscheidet.

Wer nun aber meint, die von Jutta von Freyberg, Wolfgang Gehrcke und Harry Grünberg vertretenen Positionen mit dem Feindbild des historischen Antiimperialismus vor dem inneren Auge kritisieren zu können, wird am inzwischen erreichten Debattenstand vorbeireden. Denn dieses Buch steht letztlich für eine modernisierte, sich auf der Höhe der Debatte befindende, die historischen Irrtümer kritisch beleuchtende Perspektive auf den Nah-Ost-Konflikt, die dennoch an eine antiimperialistische Traditionslinie anknüpft.

Insofern stellt dieses Buch für all jene linken und emanzipatorischen Kräfte, die eine kritische Sicht auf den Antiimperialismus und Antizionismus haben, vor eine diskursive Herausforderung. Man muss kein Antideutscher sein, um inhaltlich Einspruch zu erheben gegen die im Buch aufgemachte postzionistische Perspektive und gegen das Plädoyer für einen rein modernisierten Antiimperialismus. Und so sehr man die Überspitzung antideutscher Positionen im Einzelnen kritisieren mag: Dass Hamas und Co. nicht die Träger alternativer, humanerer Entwicklungswege in den jeweiligen Gesellschaften sein können, liegt eigentlich auch auf der Hand, wird aber von den AutorInnen nicht deutlich genug benannt. Allerdings kann dieser Widerspruch nun womöglich auf einem neuen, bisher in der Diskussion der deutschen Linken bei diesem Thema nur selten erreichten Niveau ansetzen. Insofern verdienen die Thesen des Buches bei allem inhaltlichen Widerspruch eine kritische Würdigung.

Geithner entgiftet Finanzjunkies mit Staatsgeld

Beitrag von Jörg Schindler, geschrieben am 26.03.2009

Wer diesen Staat regieren will, kommt nicht drum herum, die außenpolitischen Prämissen stinknormaler kapitalistischer Nationen zu akzeptieren, also manchmal Angriffskriege zu führen, meint Thomas Lohmeier in dem vorigen Blog. Zu ergänzen ist: Wer diesen Staat regieren will, kommt auch nicht drum herum, die finanzpolitische Prämisse stinknormaler Nationen zu akzeptieren. Und die geht so: Kapital braucht Anlagemöglichkeiten.

Wie sich der US-Finanzminister die Krisenlösung vorstellt...

Die bürgerliche Lesart der Finanzkrise behauptet, durch die Spekulation sei "das Vertrauen" der Anleger und auch der Banken untereinander gestört. Dadurch werde kein Kapital für Investitionen mehr zur Verfügung gestellt - schließlich wisse der Anleger ja nicht, ob er die geliehene Kohle je wieder sieht. Dadurch knauserten die Kapitalbesitzer mit notwendigen Investitionen für profitable Projekte, die Geld benötigten. Die Wirtschaft arbeite aber mit laufenden Kredit; Geld wird ständig geliehen, um damit zu arbeiten und so die Kreditverbindlichkeiten nebst Zinsen zu bedienen. Stockt dieser fließende Prozess, komme es also für die Wirtschaft zur "Kreditklemme". Der Motor der Realwirtschaft laufe also nicht mehr rund, stottere, die Krise sei da. Gesunde Unternehmen kämen in Schwierigkeiten und liefen Gefahr, abgewickelt werden. Arbeitslosigkeit drohe.

Es ist schon ziemlich blöd, dass auch weite Teile der Linken diese "Spekulationsthese" als Erklärungsansatz der Krise übernommen haben. Nun wäre das aber an sich für die Weltwirtschaft nicht so das große Problem, dass die Linke grad ziemlich daneben liegt; schließlich regiert sie ja den Staat nicht.

Ein größeres Problem ist, dass die bürgerliche Lesart keine Antwort darauf hat, wie mit dem Überakkumulationsproblem umzugehen ist. Denn was der Erklärungsansatz der "Spekulationskritiker" übersieht, ist, dass die Kreditklemme zwar kurzfristig durch staatliche Imitation von Vertrauen behoben werden kann. US-Finanzminister Geithner hat hier einen ebenso klugen wie bornierten Plan: Der Staat solle riskante Investitionsgeschäfte, aber vor allem Risikoaufkäufe von "toxischen Papieren" mit Garantien absichern. Meint also: Der Kapitalanleger kauft die in Verruf geratenen wertunsicheren Papiere von AIG & Co. an. Weil er aber nicht sicher sein kann, ob in den Papieren nur heiße Luft statt toller Renditen drin ist, sichert der Staat ihm eine Mindestrendite ab und sorgt so für den "Abfluss" der kritischen Wertpapieren durch den Markt - die Kreditklemme löst sich. So hoffen zumindest die staatlichen Finanzbuchhalter. Es gibt also Methadon statt Heroin für die Finanzjunkies. Draufzahler des Entgiftungsprogramms ist der Staat, wenn das Papier tatsächlich doch nichts (mehr) wert ist. So weit, so teuer für die Steuerzahlerin.

...und weshalb die Linken darauf keine Antwort haben.

Doch was ist, wenn diese organisierte Wertpapiersiebung mit anschließender Verbrennung der gefälschten Versprechen auf Rendite beendet ist? Wie soll verhindert werden, dass die zinshungrigen Anleger nicht erneut windige Versprechen nach Maximalrenditen folgen, die sich letztendlich nicht realisieren lassen? Oder, um im Bild zu bleiben, wenn der Finanzjunkie wieder neues Heroin will? Dieses Problem verweist auf die blinde Stelle der bürgerliche Antikrisenprogramme (leider auch die großer Teile der Linken):

Überakkumulation bei gleichzeitiger Unterkonsumtion lässt auch die Profitraten sinken. Selbst unterstellt, es gäbe regulierte Finanzmärkte, gilt ja, dass sich letztlich jede Investition im Produktionskreislauf auch profitabel realisieren muss. Warenüberschuss und Kaufarmut bewirken aber, dass Waren nicht mehr an den Mann oder die Frau, damit letztlich auch die Investition nicht hinreichend verzinst zurück zum Kapitalgeber gebracht werden können. Hier taucht dann urplötzlich des Pudels Kern, nämlich die Verteilungsfrage, auf: Statt den Anlegern Mindestrenditen zu sichern, die sich in der Krise am Markt nicht realisieren lassen und damit gesellschaftlichen Reichtum buchstäblich sinnfrei zu verpulvern, könnte man ja die Frage stellen, weshalb mit diesen Mitteln nicht in die Warenproduktion eingegriffen werden sollte.

Die Weicheier unter uns könnten hier vorschlagen, die Konsumentenkaufkraft gemeinwohlorientiert zu steuern, also den Armen zu geben und den Reichen zu nehmen. Und zwar bewusst.

Stereoanlage statt Kapitalanlage

Die Bruce-Willis-Linken unter uns dagegen könnten sich noch darüber hinaus was Schönes überlegen, die Kapitalanleger von der Sorge des Anlegens zu befreien - verbunden mit dem freundlichen Hinweis, dass man mit einer Stereoanlage mehr Spaß haben kann als mit einer Kapitalanlage. Dies bricht dann allerdings mit der finanzpolitischen Notwendigkeit kapitalistischen Wirtschaftens, der Verschaffung von Anlagemöglichkeiten für das Kapital. Staat ist mit einem solchen Programm also nicht zu machen, aber es wäre ein Ausblick auf eine postkapitalistische Alternative. Aber dafür müsste die Linke zunächst mal aufhören, die Antikrisenprogramme der Bürgerlichen, nur ein bisschen moralischer, nachzubeten.

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