Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog

„Feminismus ist kein Schreckwort, mit dem man die Arbeiterklasse verliert.“

Beitrag von Thomas Ostermeier & Katja Kipping, geschrieben am 25.04.2018

Katja Kipping: Du hast eine Bühnenfassung von dem auch in der Linken in Deutschland viel diskutierten Buch Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ entwickelt, die zur Zeit in der Schaubühne läuft. Gibt es Interpretationen von Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“, die Dich ärgern?

Thomas Ostermeier: Ja natürlich. Der ärgerlichste Fehler, der auch von Linken gemacht wird, ist Identitätspolitik gegen die soziale Frage auszuspielen. Die Behauptung, die Linken hätten sich zu viel mit Identitätspolitik beschäftigt und nun muss mal Schluss damit sein, dass man über Unisex-Toiletten und Feminismus redet … sowas ärgert mich und es ärgert auch Didier. Er erwähnt das in jedem Gespräch. Man muss für beides kämpfen und beides verknüpfen. Dass sich „Rückkehr nach Reims“ besonders der Klassenfrage widmet, lässt nicht den Umkehrschluss zu, dass deswegen alle anderen Fragen unwichtig seien. Zudem stecken auch in seinem Buch ganz viele identitätspolitische Fragen. Seien es die Referenzen an James Baldwin und den Kampf der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung oder an Didiers eigene Geschichte als homosexueller Mann.

Kipping: Behauptungen à la „Wenn der Feminismus zu laut wird, schreckt dass die Arbeiterklasse ab“ sind also eher eine Projektion der eigenen Vorurteile?

Ostermeier: Ich glaube, dass Eribons Buch sehr gut ein Manko von Teilen linker Theorie beschreibt: Indem man die Arbeiterklasse als Vorhut einer zukünftigen, besseren Gesellschaft sieht, wird die Arbeiterklasse mythologisiert. Auch bevor Eribons Familie und viele andere im Norden Frankreichs begannen Front National zu wählen, auch als sie noch überzeugte Kommunisten waren, dachten sie frauenfeindlich und homophob. Diese Zerrissenheit zwischen der Verklärung der Arbeiterschaft durch seine trotzkistische Partei und der Distanz zu seiner eigenen Familie aus der Arbeiterklasse versteht Eribon mit dem Abstand von 30 Jahren. Das kann man eben auch nicht generalisieren im Sinne von: Feminismus ist ein Schreckwort, mit dem man die unterprivilegierten Schichten der Bevölkerung für seine politische Sache verliert. Ich glaube es gibt — vielleicht weniger offen — in allen Klassen Frauenfeindlichkeit.

Kipping: Einer der positiven Effekte von „Rückkehr nach Reims“ ist hierzulande, dass auf einmal Klassenfragen überhaupt wieder thematisiert werden. Wenn man aber fragt: „Sind sie Teil der Arbeiterklasse?“, sagen Leute immer noch eher: „Ich bin Angestellte oder ich bin Pfleger*in.“ Das Problem bleibt, dass sich mit dem Begriff Arbeiterklasse nicht alle, die dazu gehören, gemeint fühlen. Wie lässt sich das ändern?

Ostermeier: Ich halte mich da an die Marx‘sche Definition: Wenn ich nicht mehr als meine Arbeitskraft zu verkaufen habe, um für ein Dach über dem Kopf und für Essen auf dem Tisch zu sorgen, gehöre ich dazu. Wenn ich kein Eigentum an Kapital oder Produktionsmitteln habe, bin ich Arbeiterklasse. Vielleicht ist der Begriff schwierig, weil er historisch belastet ist und manche sofort an die DDR denken. Das ist ein historisches Erbe, das der Begriff auch mitbringt. Ich mag den Begriff trotzdem, weil ich mich daran freue, wie die Leute zusammenzucken. Ich war neulich vom Handelsblatt zu einem Gespräch über Macht eingeladen. Da war unter anderem die Schriftstellerin Thea Dorn. Ich sprach dort auch über die Linke – die gesellschaftliche Linke, nicht die Partei. Frau Dorn war furchtbar irritiert: Was denn ‚die Linke‘ sei? Sowas gäb‘s doch gar nicht mehr. Eribon sagt dazu: „Wenn Leute davon reden, dass es Rechts und Links nicht mehr gibt, dann ist es immer ein von der Rechten installierter Diskurs.“ Sieht man ja auch bei der Realpolitik von Macron, der den alten Rechts-links-Gegensatz hinter sich gelassen haben will und dabei ganz klar rechte Politik macht: Sozialabbau und rassistische Politik gegen Geflüchtete plus Interessenspolitik für die besitzende Klasse Frankreichs.

Kipping: So lange man bei Klassenkampf an SED und an Freiheitsbeschränkungen dachte und nicht an kämpferische Emanzipation war das ein Problem für die Linke. Das hat sich verbessert. Trotzdem bleibt die Schwierigkeit: Bei Arbeiterklasse denken alle an den Arbeiter im Blaumann bei VW am Fließband und die Krankenpfleger*innen im weißen Kittel fühlen sich nicht angesprochen. Ich verwende ja den Marx‘schen Klassenbegriff wie Du, ich würde immer noch dazusagen: auch Erwerbslose, Soloselbstständige, Prekarisierte, Illegalisierte, Laptop-Arbeiter*innen und Fabrikarbeiter — sie gehören alle dazu. Ich habe neulich mit Frigga Haug darüber diskutiert, provokativ von der „Klasse der Enteigneten“ zu sprechen. Denn das haben alle, die nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben, gemeinsam: Sie werden permanent enteignet. Um die Früchte ihrer Arbeit, um das, was ihnen zusteht, gebracht. Man sieht das beispielsweise an den explodierenden Mieten. Da werden alle enteignet, egal ob sie in Hartz IV sind oder über ein mittleres Einkommen verfügen. Wenn die Miete höher ist als das, was du bekommst, musst du dir das Wohnen vom Munde absparen. So lässt sich der Enteignungsbegriff nämlich auch verstehen: Wir Linke stellen die Eigentumsfrage, aber die Enteignung der Massen findet nicht durch uns statt, sondern durch die Kapitalseite.

Ostermeier: Aber was ist euer politisches Projekt dahinter?

Kipping: Zunächst: Verbindungen herstellen. In der politischen Praxis entsteht Solidarität ja oft gerade da, wo die, die noch nicht direkt betroffen sind, merken: sie könnten betroffen sein. Der Pflegenotstand trifft nicht nur die Beschäftigten, sondern alle, die ins Krankenhaus müssen und alle mit pflegebedürftig werdenden Eltern. Alle, die keine Millionär*innen sind, sind auf ein funktionierendes Pflege- und Gesundheitswesen angewiesen. Es geht uns darum, die verbindenden Interessen in den Mittelpunkt zu stellen, die sonst immer gespalten werden.

Ostermeier: Nun ist Klasse aber das eine, Klassenkampf noch mal was anderes. Wir haben ja derzeit keinen Klassenkampf …

Kipping: … Wir haben einen Klassenkampf von oben.

Ostermeier: OK, aber keinen Klassenkampf der Arbeiterklasse von unten.

Kipping: Wir erleben zumindest eine Zunahme von Kampfeslust. Am Beispiel der Pflege: Leute in diesen Berufen arbeiten da aus tiefster Überzeugung, weil sie Menschen helfen wollen. Sie waren bisher deshalb ein wunderbares Opfer für Ausbeutung. Jetzt signalisieren mir immer mehr Pflegende, dass sie sich das nicht mehr gefallen lassen. „Die Profite steigen doch, warum soll ich das jetzt ausbaden? Die Patient*innen können nichts dafür, wir wollen sie nicht im Stich lassen. Aber so geht es eben nicht weiter.“ Zurückgefragt: Wie sähe aus deiner Sicht Klassenkampf im 21. Jahrhundert aus?

Ostermeier: Wir stehen an keinem Punkt, wo wir die Überwindung der Klassengegensätze erleben. Aber wenn wir sie einmal erleben, werden jene, denen das Kapital gehört, das nicht so einfach hergeben. Das sieht man bei Siemens: Unglaubliche Dividende dieses Jahr, gleichzeitig werden tausende Arbeitsplätze im Osten Deutschlands gestrichen. Bisher wurde sowas immer damit begründet, dass es der Wirtschaft schlecht geht. Jetzt geht es ihr gut und trotzdem werden Tausende gefeuert. Das ist so ein himmelschreiendes Unrecht! — Parallel sitzt Siemens-Chef Joe Kaeser neben Donald Trump in Davos und macht mit ihm auf „best friend“. Die Verkommenheit kennt offenbar keine Grenzen mehr und das ist dann auch ein Signum dafür, dass wir uns warm anziehen müssen, wenn die Konflikte einmal aufbrechen.

Kipping: Bevor diese Konflikte offen ausbrechen, werden die Herrschenden auf eine andere Strategie abstellen: auf Verunklarung, Diffamierung und Spaltung. Es gibt ja Kämpfe. Nicht nur bei den Pflegekräften, sondern auch bei Amazon, Deliveroo und andernorts. Die gilt es zu stärken und die müssen vor allem zusammengeführt werden. Das ist das klare Ziel der Linken. Rosa Luxemburg hat das „die Maulwurfsarbeit“ genannt. Sie hat der Linken ins Stammbuch geschrieben, dass sie Maulwurfsarbeit machen muss. Wenn es zu Streiks kommt, auch über den jeweiligen eigenen Horizont hinaus denken, ist die Arbeit, die ansteht und die man auch von Gewerkschaften fordern muss. Wir unterschützen den jeweiligen Kampf, denken zugleich über ihn hinaus.

Ostermeier: Dazu gehört aber auch, die Geschichte von Bewegungen besser zu erzählen. Nicht immer nur als Geschichte von Niederlagen. Ich habe mit Alain Badiou darüber diskutiert und damals gesagt: „Was bringt‘s denn weiterzumachen – Occupy hat nichts gebracht, Arabischer Frühling, Taksim, Gezi - alles gescheitert. Da hat mir dieser ältere Herr ganz schön den Kopf gewaschen. Was das für ein furchtbar naiver Ansatz von politischer Veränderung sei? Die Geschichte von gesellschaftlicher Veränderung sei immer erst die Geschichte vom Scheitern und wer sich davon frustrieren lasse, sei nicht für Veränderung gemacht. Man kriegt sie nicht geschenkt, sie geschieht nicht von heute auf morgen.

Kipping: Was ist denn der größte Erfolg von bisherigen Klassenkämpfen?

Ostermeier: Alles, was wir leben: Vom Frauenwahlrecht bis zum Betriebsverfassungsgesetz. Auch wenn wir die 35-Stunden-Woche noch nicht haben — Arbeitszeitregelungen, Mutterschutz, Sozialversicherung, einfach alles, was die Situationen der Arbeitenden verbessert, ist ein Erfolg und wurde erkämpft.

Oder wenn ich an die Geschichte von Willi Hoss in Stuttgart und dessen „plakat-Gruppe“ denke. Da haben sich Anfang der 1970 auf einmal die ausländischen Arbeitnehmer organisiert, während die deutsche Arbeiterschaft sich nicht dafür interessiert hatte, dass diese Arbeiter bisher keine Arbeitnehmer*innenvertretung hatten, weil keiner ihre Sprache sprach. Die stellten erstmals eine eigene Liste auf und jeder hatte im Betrieb auf einmal Ansprechpartner, die Griechisch, Türkisch oder Italienisch sprachen!

Kipping: Gute Gelegenheit über euer Stück zu reden. Die Geschichte von Willi Hoss wird in deinem Eribon-Stück miterzählt und von seiner Tochter, Nina Hoss, vorgetragen. Wie entstand die Idee, die Geschichte des grünen Urgesteins Hoss da einzubringen?

Ostermeier: Erstmal ist er für uns kein grünes Urgestein. Im klassischen Kleinbürgertum war immer die Erzählung: „Die Grünen sind sowieso alles verkappte Kommunisten.“ Ich finde es witzig, dass es im Fall von Willi Hoss sogar stimmt.

Hoss ist vor allem ein Kommunist im zwanzigsten Jahrhundert, der zwei Jahre lang in Kleinmachnow auf die Parteihochschule und dann nach Westdeutschland ging, um den Kommunismus aufzubauen. Doch er war nicht nur im klassischen Sinne ein umtriebiger Kommunist, sondern 1968 auch einer, der aus der Klasse kam, für die er gekämpft hat. Geschichte ist immer die Geschichte der Sieger. Und vor diesem Hintergrund ist es wichtig, auch die Geschichte der historischen „Verlierer“ und ihre Siege zu erzählen.

Einer der Vorwürfe von Nina Hoss Vater an die Studenten von 1968 besteht in einem Zitat eines kommunistischen Parteiführers: „Geht nach Hause, Studenten, morgen seid ihr unsere Bosse und erzählt uns, wie wir mit weniger auskommen und mehr arbeiten müssen.“

Ich finde den Weg, den Hoss genommen hat interessant. Als Schweißer hat er im Rheinland an den riesigen Rheinbrücken, mit dem Kopf nach unten hängend unter gefährlichsten Bedingungen die Schweißnähte erneuert. Sein großer traumatischer Moment ist dann, dass seine kommunistische Partei, die DKP, ihn für seine Kritik am Schweigen zum sowjetischen Einmarsch in Prag von 1968 ausschließt. Und da schließt sich wieder der Kreis: Die Rückschläge hat er nicht als Niederlage erlebt, sondern als Ansporn, aus den Widersprüchen der Geschichte der Linken im zwanzigsten Jahrhundert zu lernen und weiterzugehen. In dieser Biographie ist auch der Umgang mit den Sündenfällen im zwanzigsten Jahrhundert interessant.

Mit diesem Erbe müssen wir als Linke ja auch umgehen. So wie ihr als Linkspartei damit umgehen müsst, dass ihr die Nachfolgepartei der SED seid. Nicht im Sinne individueller Verantwortung, sondern als Frage: Wie positionieren wir uns? Wie erzählen wir diese Geschichte? Übernehmen wir Verantwortung?

Kipping: Als ich damals in die PDS eingetreten bin, wurde mir sehr oft diese Frage gestellt: „Wie kann man in eine Partei mit dieser Geschichte eintreten?“ Für mich war folgendes entscheidend: Ich finde es redlicher, sich einer kollektiven Vergangenheit zu stellen und sich dabei die Frage zu stellen, wie konnte es passieren, dass so hehre Ansprüchen sich in der Praxis in Unrecht verkehrten? Welche Lehre, kann man ziehen, damit das nicht wieder passiert? Eine zentrale Schlussfolgerung für mich lautet, dass Grund- und Freiheitsrechte nie wieder auf dem Altar vermeintlich höherer Ziele geopfert werden dürfen. In der DDR wurde Widerspruch immer mit der Frage abgewürgt: „Willst du den Weltfrieden gefährden?“ Heute klingt etwas Ähnliches an, wenn über Terrorismusabwehr geredet wird.

Deswegen will ich ein klares Streiten für Freiheits- und Grundrechte — in dem Wissen, dass diese einer materiellen Unterfütterung bedürfen, damit sie nicht nur auf dem Papier existieren.

Ostermeier: Noch mal zurück zur Geschichte von Ninas Vater. Ich hatte mir immer gewünscht, dass man sie auf der Bühne verarbeitet und mir war nie klar, wie das gehen sollte.

Das Interessante an der Hoss’schen Familiengeschichte ist ja auch, dass Nina eben nicht da herkommt, wo 90 Prozent der Schüler*innen der bundesdeutschen Schauspielschulen herkommen: Aus diesem wohlgenährten Milieu, wo man sich leisten kann, weil die beiden anderen Kinder Medizin studieren, dass dann eine sowas Verrücktes wie ein Klavier- oder Schauspielstudium machen kann.

Das ist eine dieser Geschichten, die in den Medien selten erzählt werden. Es ist eben nicht die klassische Aufsteiger*innen-Geschichte, die sich als Erfolgsmodell des Kapitalismus oder des Neoliberalismus verkaufen lässt. Im Sinne, jeder hat die Chance. Sie sollte aber erzählt werden als Geschichte im Sinne von: Das ist auch Deutschland. Es gibt  auch ein deutsches Milieu, das sich ganz selbstverständlich im Grillgeruch des Kleingartenvereins versammelt, ohne ausländerfeindlich oder rassistisch zu sein.

Das Proletariat oder die Unterprivilegierten kommen in unseren Medien oft  als fettsüchtige, frauenfeindliche, alkoholkranke oder Kindesmissbrauch betreibende Monster vor. Ein anderes Gesicht der Arbeiterklasse bekommt man im Fernsehen nicht zu sehen.

Das wäre aber wichtig, Geschichten der einfachen Menschen nicht nur, wie in den Polizeiberichten, Geschichte von individuellen Tragödien zu erzählen. Sondern klar zu machen, dass es eine Arbeiterklasse gibt, die nicht defizitär ist. Dass es Biographien in diesen Arbeiterklasse gibt, wo Menschen arm sind, sich aber nicht frauenfeindlich, nicht rassistisch, nicht homophob artikulieren, sondern solidarisch mit Ausländern, Geflüchteten und Transgendern sind.

Kipping: Noch ein Thema, das uns in der Redaktion oft umtreibt, ist das Verhältnis von Politik und Kunst. Der Prager Frühling wurde schließlich nicht zuletzt durch die Kafka-Konferenz inspiriert … Das Verhältnis von Kunst und Politik ist ja von oft ertragreichen Spannungen aber auch von schmerzhaften Missverständnissen geprägt.

Ostermeier: Würdest du das so beschreiben?

Kipping: Ich würde sagen, dass es ohne ästhetische und kulturelle Revolutionen auch keine politischen Revolutionen geben kann. Oder um Heiner Müller zu zitieren: „Die Zeit der Kunst ist eine andere als die Zeit der Politik. Das berührt sich nur selten. Und wenn man Glück hat, entstehen Funken.“ Ich füge hinzu: Zeiten von Umbrüchen sind Zeiten des Funkenflugs.

Ostermeier: Ich finde zunächst mal wichtig, dass sich eine Linke nicht der Avantgarde-Feindlichkeit verschreibt. Das ist ein Problem linker Kulturpolitik. Das sage ich nicht, weil ich hier extrem privilegiert am Ku‘damm sitze und ein gutes Auskommen habe, sondern aus einer echten Sorge heraus. Ich glaube, dass auch in linker Kulturpolitik immer schon der Samen des Reaktionären schlummert. Ich würde immer Stadtteilpolitik, Stadtteilfeste, Stadtbüchereien und Musikschulen verteidigen. Aber ich verteidige nicht einen häufigen Kurzschluss eines muffligen Sozialismusverständnisses, dem avantgardistische Kunst nur als die Darlings der Kulturbourgeosie erscheint. Ich finde es total wichtig, dass sich von Luigi Nono über Malewitsch und Meyerhold die Avantgarde der Kunst mit der Avantgarde der Politik verbindet.

Ein Künstler wie Luigi Nono, war ja ein erklärter Klassenkämpfer, gleichzeitig künstlerisch ein totaler Avantgardist, dessen Kunst so dekonstruktivistisch und formalistisch ist, dass sie zunächst der Arbeiterklasse nicht immer näher zu bringen ist. Es geht darum, dass man sie nicht deswegen drangibt, sondern eine Gesellschaft schafft, in der alle die Leistung dieser Kunst verstehen und vielleicht sogar genießen können. Wenn das Bürgertum, das in weiten Teilen ziemlich beschränkt ist, das kann, dann kann das die Arbeiterklasse schon lange. Wenn man sie in einen gesellschaftlichen Umstand bringt, das erleben zu können.

Kipping: Das erinnert mich an Peter Weiss‘ „Ästhetik des Widerstandes“ ... Drei junge kommunistische  Arbeiter stehen nach einem harten Arbeitstag vor dem Pergamonaltar und versuchen, sich diese Kunst anzueignen. Mit dem  Wissen, was an Unterdrückung in diesem Werk steckt. Und trotzdem, ist diese kulturelle Aneignung – allen Widerständen zum Trotz – Teil ihrer revolutionären Praxis.

Doch Eröffnen wir zum Abschluss noch mal den Blick: Wo siehst Du gegenwärtig ermutigende  Ansätze, wo was in Bewegung kommt?

Ostermeier: Ich finde, das Denken von Didier Eribon, Edouard Louis und Geoffroy de Lagasnerie in Frankreich sehr spannend. Die drei geben mir Hoffnung. Sie stellen sich ja bewusst in die Tradition von Bourdieu. Dass sie genau diesen Faden aufnehmen und nicht etwa den von Baudrillard, der mal gesagt hat: „der Irakkrieg hat gar nicht stattgefunden“, und dann in der völligen Verirrung gelandet ist, macht mir Mut. Mir macht Mut, dass sie an eine materialistische Tradition anknüpfen, der es um Klasse und um Gesellschaft geht. Sie haben den Mut zu sagen: „Ich komme aus der Armut. Mein Vater liegt krank und arbeitsunfähig im Bett, weil das französische Sozialsystem ihn nach einem Arbeitsunfall gezwungen hat weiter zu arbeiten und das hat ihm den Rest gegeben.“ Sie sagen solche Sätze mit Bestimmtheit und benennen: „Das ist ganz konkrete soziale Gewalt.“ Geoffroy de Lagasnerie denkt in „Verurteilen“ über das Gefängnissystem nach und analysiert das amerikanische Gefängnissystem als Markt, in dem sehr viel Profit gemacht wird. Er zeigt, dass wenn Gefängnisse in privatwirtschaftlicher Hand sind, auf einmal die Zahlen der Verurteilten hoch gehen. Er zeigt, wie stark Systeme des Strafens und Verurteilens mit dem Neoliberalismus verbunden sind.

Ich freue mich über die Passage bei Eribon, in der er zeigt, wie Kultur heute als Distinktionsmittel innerhalb der bürgerlichen Klasse fungiert. Dass man die neueste Opernsängerin kennt und sich leisten kann, nach Mailand zu fliegen, um sie dort in einer Aufführung zu sehen. Wie man sich von anderen in der bürgerlichen Klasse dadurch abgrenzen kann, dass man die Interpretationen in ihren feinen Abstufungen genau wahrnehmen kann. In anderen Traditionslinien französischer Philosophie wird diese Frage überhaupt nicht mehr gestellt. Es geht nur noch um Dekonstruktion von Formen, Narrationen und Subjekten. Nicht mehr darum, in welchem Feld und in welcher Klassensituation sich diese Fragen stellen.

Wenn du mich also nach Hoffnung fragst: Mich macht extrem hoffnungsfroh, dass mit der Krönung von Macron ein anti-macronistisches Trio auftritt, das sich nicht nur in der Polemik ergeht, sondern sehr genau hinschaut. Das macht mir Hoffnung.

„Rückkehr nach Reims“ ist noch bis zum 16. Mai in der Schaubühne zu sehen.

 

Umschalten, Genoss*innen!

Beitrag von Redaktion *prager frühling, geschrieben am 22.01.2018

In DIE LINKE wird aktuell ein Papier der ostdeutschen Landtagsfraktionen zur Reform des Einwanderungsrechts diskutiert. Eine Podiumsdiskussion dazu haben wir hier dokumentiert. Auch die Genoss*innen von Marx21 greifen die Diskussion auf. Sie starteten mit einem Diskussionsbeitrag von Susanne Hennig-Wellsow und einem von Jules El-Khatib. Auf der Seite der akl ist darüber hinaus ebenfalls ein Beitrag von Ianka Pigors erschiene. Ein Kommentar zum Stand der Debatte.

Eine Linke, die für Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit und eine solidarische Transformation streitet, muss sich zwangsläufig auch zum Faktum der Migration verhalten. Durch die wachsende globale Ungleichheit ist der Lebensort mittlerweile signifikantester Indikator für die Höhe des Einkommens eines Menschen — entscheidender noch als Klassenzugehörigkeit. In liberalen kapitalistischen Gesellschaften wiederum eröffnen und begrenzen Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatus wie kaum ein anderes Kriterium den Zugang zu bürgerlichen Freiheitsrechten, in Sozialstaaten limitieren sie zudem auch den Zugang zu grundlegenden sozialen Rechten. Dem entsprechend stellen Migrationsbewegungen die seit Entstehung von Nationalstaaten und ihrer Grenzregime virulenten Fragen in neuer Dringlichkeit: Mit welchem Recht schließen demokratische Staaten Menschen vom Aufenthalt auf Ihrem Territorium aus? Und: Welche Rechte sollten Sie im Land lebenden Menschen mit „fremden“ Staatsbürgerschaften gewähren müssen?

Für die politische Rechte aller Schattierungen im Bündnis mit großen Teilen des politischen (Neo)Liberalismus ist dabei das „Recht auf gewaltsamen Ausschluss“ und das „Recht auf Verweigerung sozialer Rechte“ dabei vorausgesetzt. Ausnahmen werden, wenn überhaupt, als Gnadenrechte gewährt, die nach „nationalem“ oder „ökonomischem Interesse“ jederzeit wieder entzogen werden können. DIE LINKE ist die einzige Partei, die in dieser Frage einen grundlegend anderen Zugang hat.

Aufweichung durch Auslegung

In dem verschärften Kulturkampf von rechts geraten aber auch manche Formelkompromisse im Programm von DIE LINKE unter Beschuss. Die richtige Forderung nach „offenen Grenzen” bzw. „offenen Grenzen für Menschen in Not” sind wie jede gute Kompromissformel deutungsoffen. In konkreten Auseinandersetzungen müssen aber positive Forderungen inhaltlich gefüllt werden, sonst werden sie zu Leerformeln. Das kann man derzeit erleben. So interpretiert Sahra Wagenknecht die Forderung nach offenen Grenzen als eine Vision für eine Welt, in der alle Menschen in Wohlstand leben, während Gregor Gysi sie ebenfalls restriktiv lediglich als Gewährung von Reisefreiheit auslegt. Beides sind mögliche Deutungen, allerdings beide am eher unteren Rand des Spektrums vorstellbarer Interpretationen. Einige, die damals für das Programms votierten, hatten dabei sicher anderes vor Augen.

Kämpfe um Migration auf Höhe der Zeit

Es verdankt sich einer Arbeitsgruppe, die im Auftrag der ostdeutschen Landtagsfraktionen eine Konzeption einer linken Flüchtlings- und Einwanderungsgesetzgebung entwickelt hat, die das Recht auf globale Bewegungsfreiheit aller Menschen ernst nimmt und in Forderungen für die konkret stattfindenden Auseinandersetzungen um positives Recht übersetzt. In den Begründungen weisen sie dabei gedanklich jedoch weit über den engen Rahmen positivrechtlicher Reglungen hinaus. Die Forderung nach offenen Grenzen interpretieren sie anders als die benannten restriktiven Auslegungen als Aufforderung, die Logik der geltenden Aufenthaltsrechts vom Kopf auf die Füße zu stellen. Bisher geht das Aufenthaltsrecht wie skizziert von einem „Recht auf Ausschluss” mit an Nützlichkeitserwägungen orientierten Ausnahmetatbeständen aus. Der Entwurf der Arbeitsgruppe dreht diese Logik um. Die Ausschlüsse, nicht das Begehr der Einreise, ist legitimierungs- und begründungspflichtig. Die Verweigerung der Einreise wird im Entwurf auf wenige, einleuchtende Ausschlusstatbestände beschränkt. So kann die Einreise verweigert werden, wenn ihr Zweck Spionage oder die Begehung von Straftaten ist. Gleiches gilt, wenn Einreisewillige Waffen oder Sprengstoff bei sich führen oder für Kriegsverbrechen verantwortlich sind.

Darüber hinaus führt der Entwurf die Wiederherstellung des Grundrechts auf Asyl aus und expliziert den Zugang zu sozialen Rechten für dauerhaft im Land Lebende.

Konservative Revolutionär*innen?

Erfreulich ist, dass alle bisherigen Reaktionen die flügelübergreifende Einigkeit illustrieren, dass das Grundrecht auf Asyl wiederhergestellt werden muss. In anderer Hinsicht überraschen jedoch einige der Reaktionen auf den Diskussionsaufschlag. Sowohl in den Diskussionsbeiträgen von Jules El-Khatib (Marx21) und dem von Ianka Pigors (SAV bzw. Antikapitalistische Linke) wird z.T. mit Scheinplausibilitäten ein in der Konsequenz deutlich restriktiverer Vorschlag für die migrationspolitische Positionierung von DIE LINKE befürwortet.

Pigors Behauptung, das Konzept lege den Schluss nahe, selbst DIE LINKE hätte erkannt, dass Zuwanderungsbegrenzung eine zentrale Aufgabe der heutigen Politik sei, wirft zunächst vor allem die Frage auf, welchen Text sie eigentlich gelesen hat. Den Vorwurf scheint sie zum Glück selbst nicht besonders ernst zu nehmen. Im Widerspruch zum behaupteten Einfallstor für rot-rot-grünen Regierungsträume“ kategorisiert sie den Text als „fantastische, utopische Literatur […] in der wenig populären Form eines juristischen Textes“.

Plausibler scheint Pigors Einschätzung, dass die gesellschaftliche Stimmung [] zurzeit keineswegs so [sei], dass der Gesetzentwurf sofort breite Zustimmung erhalten würde. Nur: Welche Positionen können linke MandatsträgerInnen in Mittelsachsen, Südwest-Mecklenburg oder im pietistischen Bible Belt Schwabens dann überhaupt derzeit noch vertreten? Dass die Kräfteverhältnisse im Bundestag ausschließen, dass ein dem Entwurf entsprechendes Gesetz dort eine Mehrheit finden könnte, trifft schließlich für viele linke Forderungen zu. Nur ist das vor allem ein Argument dafür, mit guten Konzepten und gemeinsam mit sozialen Bewegungen für neue linke Mehrheiten in der Gesellschaft und in den Parlamenten zu ringen. Noch vor einer inhaltlichen Positionsbestimmung auf mögliche parlamentarische Mehrheiten zu schielen, ist dabei eher hinderlich.

Vorwärts im Rückwärtsgang?

Was Pigors und El-Khatib als Gegenvorschlag zum Konzept anbringen, ist trotz des scheinradikalen Gestus‘ eher restriktiv. So ergäbe sich laut El-Khatib ein ziemlich konkretes Bild, wie Bewegungsfreiheit, soziale Sicherheit, Gleichstellung und Teilhabe erreicht werden können aus bisherigen Forderungen. DIE LINKE hat als einzige Partei gegen die Asylrechtsverschärfung gestimmt und fordert die Wiederherstellung des Asylrechts. Sie fordert, alle benachteiligenden Regelungen und Gesetze aufzuheben, wie das Asylbewerberleistungsgesetz, die Residenzpflicht und Arbeitsverbote für Geflüchtete.

Auch Pigors fokussiert sich auf asylrechtliche Forderungen. Nun ist dies alles vollkommen richtig. So richtig, dass es in jedem einzelnen Punkt in der Konzeption einer linken Flüchtlings- und Einwanderungsgesetzgebung festgehalten ist. Da beide, Pigors wie El-Khatib aber keinen darüber hinausgehenden Vorschlag machen, den vorliegenden aber rundweg ablehnen, kann man schließen, dass sie DIE LINKE auf eine rein defensive Politik festlegen wollen, die sich ausschließlich gegen die vielfältigen seit 1993 erlassenen repressiven Gesetze in der Asyl- und Flüchtlingspolitik wendet. Nun war die bundesrepublikanische Migrationspolitik auch vor der faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl nicht auf transnationale Bewegungsfreiheit ausgerichtet. Die politischen Eliten der Bundesrepublik behaupteten im Gegenteil bis Anfang dieses Jahrhunderts kontrafaktisch Deutschland sei kein Einwanderungsland. All jene, die migrierten ohne Verfolgung geltend machen zu können oder bis zum Anwerbestopp 1973 als ausländische VertragsarbeitnehmerInnen einreisten, waren auch damals gezwungen, in der Illegalisierung zu leben, falsche Fluchtgründe vorzugeben oder Zweckehen zu schließen. All dies geschah immer unter dem Damoklesschwert von Entdeckung und Ausweisung. Die Forderung nach Wiederherstellung des Asylrechts ist also richtig. Sie bleibt aber eine konservative Forderung, die nicht über einen sehr unbefriedigenden Status quo ante hinausweist. Selbst Konservative und Liberale haben mittlerweile eingesehen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Die progressive Linke hat lange dafür gestritten, dass dies endlich allgemein anerkannt wird. DIE LINKE sollte dahinter nicht zurückfallen und weiterhin engagiert für gleiche Rechte von Einwandernden genauso wie für das Recht auf legale Einwanderung streiten.

Schattenboxen gegen Strohpuppen

El-Khatib und Pigors arbeiten in Ihrer Ablehnung des Konzepts auch mit irreführenden Argumenten. So behauptet ersterer, dass im gutgemeinten Versuch, Rechte auszuformulieren, [] gesetzliche Restriktionen entwickelt würden. Er meint fälschlich, dass sich die eingangs genannten Tatbestände, welche gegen eine legale Einreise sprechen z.B. in der Türkei verfolgte kurdische Aktivisten anwenden ließen. Einziger Schönheitsfehler, das von ihm gewählte Beispiel beweist genau das nicht.[1]

Pigors wiederum bemängelt, dass in dem Konzept nicht alle Finanzierungsfragen detailliert besprochen würden. Dies sei aber nötig, weil mehr Zuwanderung bedeute, dass die bestehenden Ressourcen innerhalb der Arbeiterklasse auf mehr Menschen verteilt werden. Damit bemüht sie ein Propagandabild der Rechten, das den Sozialstaat als Kuchen versteht, bei dem jede weitere Person das Kuchenstück der Bedürftigen verkleinert. Die Feststellung der Arbeitsgruppe, dass die Beiträge an Steuern und Sozialabgaben von MigrantInnen saldiert höher sind, als die Inanspruchnahme von Sozialleistungen, ignoriert Pigors. Sie knüpft dabei direkt an Debatten an, die Migration faktenwidrig als „Einwanderung in die Sozialsysteme“ und Migrant*innen als volkswirtschaftliche Kostenfaktoren behandelt.

Die Frage nach dem Recht auf Bewegungsfreiheit mit einem falschen Kosten-Argument abzuwürgen, wirkt dabei (vermutlich ungewollt) wie ein Heranrutschen an den rechten Alltagsverstand. Dieser lässt sich aber auch durch eine Erwähnung der linken Forderung nach progressiver Besteuerung von Kapitaleinkommen nicht besänftigen, so richtig diese auch ist. Wer in politischen Debatten den Sozialstaat als Kuchen versteht, will in der Regel nicht über die Bereitstellung der Zutaten diskutieren, sondern darüber, wer gefälligst nichts abbekommen soll.

Mehr Mut zur Solidarität statt German Angst!

Statt wie gebannt auf diese bewusst gestreuten  „Ängste und Sorgen“ zu schauen, wäre es sinnvoll ein Angebot an all jenen zu unterbreiten, die noch unentschieden sind. Die rassistischen Kampagnen der Rechten von NPD bis CSU werden schließlich mit einem Dauerfeuer von Metaphern der Regellosigkeit und der Katastrophenhaftigkeit von Migration geführt.

Dem Konzepte entgegenzustellen, welche eine Verrechtlichung und Legalisierung von weitgehender Freizügigkeit plausibilisieren und an einen eben auch vorhandenen progressiven Alltagsverstand anknüpfen, ist Aufgabe einer progressiven Linken. So ist mittlerweile die prinzipielle Bewegungsfreiheit innerhalb Europas weitgehend akzeptiert. Die uneingelöste Forderung nach sozialen und arbeitsrechtlichen europäischen Standards wird ebenfalls gesellschaftlich breit geteilt. Dies als Ausgangspunkt in anstehenden Debatten nicht für darüber hinaus weisende Vorschläge zu verwenden, ist fahrlässig.

Eine defensive Position, welche die Rücknahme der migrationspolitischen Grausamkeiten der letzten Jahrzehnte fordert, ist absolut notwendig. Aber sie genügt nicht. Ein Zurückfallen hinter die Erkenntnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland war und ist, stellt sogar die bestehenden Errungenschaften der Kämpfe um Migration in Frage. Rechte lassen sich nicht im Rückwärtsgang verteidigen und Erfolge nur im Vorwärtsgang errungen. Oder anders: Die beste Verteidigung ist ein guter Angriff.

Weiterlesen:

Susanne Hennig-Wellsow: Wir brauchen ein linkes Einwanderungsgesetz: Im Mittelpunkt eines linken Einwanderungsrechts muss der soziale Anknüpfungspunkt und die soziale Verwurzelung eines Menschen stehen.

Anja Mayer und Jörg Schindler: Keine Einwanderung ist illegal! Von Willkommensämtern, dem Recht hier zu leben und Flüchtlings-Keynesianer*innen

Ulla Jelpke und Lena Kreck: Kann es ein linkes Einwanderungsgesetz geben?

Thomas Feske: Soll er doch nach Prohlis kommen. Eine Antwort auf Christian Baron

Yuval Eylon: Über die Aushöhlung der Solidarität. In der Flüchtlingsfrage lassen sich Pragmatik und Programmatik nicht trennen

Serhat Karakayali und Vassilis Tsianos: Die frohe Botschaft der Autonomie der Migration. Annäherung an einen umstrittenen Begriff

Stefan Gerbing: Am Tiefpunkt: Eine Entgegnung auf Tobias Riegel und die Denunziation der Forderung nach offenen Grenzen

Kolja Lindner: Rückkehr nach Frankreich. Sahra Wagenknecht, die AfD und der Kampf um Hegemonie

Stefan Gerbing: Boris Palmer – ein Bürgermeister verrechnet sich gründlich. Über „Wir können nicht allen helfen.“

 

Fußnoten:

[1] Im Konzept heißt es dazu ganz klar: Die legale Einreise ist mit Ausnahme von Einreisen zur Asylantragstellung ausgeschlossen bei Tatsachen, die die Annahme rechtfertigen, dass die Einreise dem Zweck der Spionage oder der Begehung einer Straftat dienen soll. Der Entwurf benennt also die Suche nach Schutz vor politischer Verfolgung explizit als Ausnahme. Zudem ist die Forderung der Aufhebung des PKK-Verbots eine über alle Flügel hinweg geteilte Position in DIE LINKE.

 

Feuer und Leidenschaft für eine Alternative zum Bestehenden

Beitrag von Bodo Niendel, geschrieben am 11.01.2018

Ronald M. Schernikau gehörte zu den schillernsten Figuren der deutschen Literatur. Er war ein deutsch-deutscher Schriftsteller, der in der Bundesrepublik und der DDR Erfahrungen sammelte. Er war Überflieger, Intellektueller, Dandy und Kommunist. Bereits während des Abiturs verfasste er den Roman „Kleinstadtnovelle.“ Bis heute einer der schönsten schwulen Coming-Out-Romane. Westberliner-Künstlerleben, Studium der Literaturwissenschaften in Leipzig (ab 1986) und im Oktober 1989 wurde er DDR-Bürger, um in Berlin-Marzahn bis zu seinem Aids-Tod, das an der Bibel angelehnte Werk „Legende“ zu schreiben. Er starb im Alter von 31 Jahren. „Legende“ erschien erst postum.

„Lieben, was es nicht gibt?“ ist die Zusammenstellung der Beiträge einer Tagung, die 2015 im Literaturforum des Brecht-Haus in Berlin stattfand. Kenner_innen und Freund_innen Schernikaus beleuchteten sein Werk. Stefan Ripplinger widmet sich Schernikaus Journalismus. Er schrieb in jungen Jahren für westdeutsche linke Zeitungen, wie die DVZ, die ihm den Freiraum für seine besonderen Texte gewährte. Die Gefühlsduselei der Friedensbewegung war ihm fremd. Philantropen, mitfühlende Christen oder Menschenrechtsaktivisten waren im suspekt. „Motiv für politisches Handeln ist Eigeninteresse, das wie Ernst Bloch geschrieben hat, in „revolutionäres Interesse“ umschlagen kann.“ So deutet Ripplinger Schernikaus Einstellung zu politischen Handeln. Zugleich baut Schernikau sich seine eigene Welt. Eine Reportage über Brötchen in der DDR beginnt er mit dem in Westdeutschland unaussprechlichen Satz. „Es war einmal ein junger Mann, der fuhr in das schönste Land der Welt.“

Aber dass diese Liebe zur DDR noch mehr skurrile Züge trägt, darauf macht Georg Fülberth aufmerksam. „Die Tage in L.“ ist Schernikaus Buch zur DDR-Gegenwart am Ende der 1980er Jahre. Es zeigt schonungslos die Schwächen des Staates auf und wie sich die Bürger_innen von ihm abwenden. „Ein großer Text, politisch die Dokumentation eines Desasters,“ so Fülberth. Schernikau verstand das Buch als Liebeserklärung an die DDR. Die DDR-Kulturfunktionäre verstanden diesen Text selbstverständlich nicht als solche und ließ das Werk nicht drucken. Es blieb also eine unverstandene Liebe.

Dietmar Dath analysiert die Poetik von Schernikau in „Legende“. Es sei eine Sprache in nur scheinbarem Kinderdeutsch, eigentlich aber „äußerstem Kunstdeutsch“, so Dath. Schernikaus Poetik habe „ihre Fähigkeit, sich unterm Alltagsverständnis der Massenindividualität wegzuducken. Das Hohe an ihr ist ihr freiwilliger Absturz in diesem Alltagsverständnis unzulängliche geschichtsästhetische Tiefen.“

Schernikau war befreundet mit den Literaturgrößen seiner Zeit, wie Elfriede Jelinek, Gisela Elsner und Peter Hacks. Christina Künzel geht auf die innige Freundschaft zur westdeutschen Kommunistin Gisela Elsner ein, wie Schernikau eine schillernde Figur in der deutschen Literaturlandschaft. Ihre Stile waren grundverschieden. Während Schernikau mit einem gnadenlosen Optimismus schrieb und damit versuchte etwas Positives zu erzeugen, war Elsners Stil durch Destruktion gekennzeichnet. Sie wollte die bürgerliche Gesellschaft entlarven. Gegenüber Schernikau verhielt sie sich mütterlich und gab ihm den Ratschlag sich beim Besuch des stellvertretenden  Ministers für Kultur der DDR „möglichst kleinbürgerlich anzuziehen.“ Eine große Hürde für Schernikau.

Elsner sollte Schernkau nur wenige Monate überleben. Misserfolg und das Ende der DDR waren zu viel für sie, sie beging Suizid.

Die Beziehung zu Peter Hacks gestaltete sich gänzlich anders. Peter Hacks war der kommunistische Großbürgerschriftsteller der DDR. Erhaben betrieb er eine Literatur der sozialistischen Klassik. Goethe galt ihm als großes Vorbild. Da in der DDR der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital aufgelöst sei, seien es nur kleine Problem, die alle lösbar seien. Dass sich Hacks damit gründlich irrte, muss wohl nicht ausgeführt werden. Schernikau kam aus den westdeutschen Künstlerkreisen. Die Auseinandersetzungen mit dem westdeutschen Kapitalismus war bei ihm stets präsent, auch wen er über die DDR schrieb. „Aus dieser Position, die den BRD-Kapitalismus noch nicht völlig hinter sich gelassen hat wie Hacks, leitet Schernikau seine Parteinahme für die DDR ex post aus dem Systemvergleich ab.“ So Kenntnisreich Martin Brandt. Dass die beiden sich in verstanden und gegenseitig literarisch schätzten, ist erstaunlich.

Man kann und vielleicht muss man ihm seine Liebe zum realexistierenden Sozialismus ankreiden. Mauertote und Stasi waren nicht sein Thema. Dies macht ihn für manche heutige Leser_innen schwer verdaulich. Aber  - und hier wird es spannend – sein Dandytum wäre mittelfristig in der DDR unlebbar gewesen und damit hätte gerade auch Schernikaus Engagement die Möglichkeiten für einen anderen Sozialismus ausloten können. Doch genau da ging die DDR unter. Ein ungeheures Feuer und eine Leidenschaft für eine Alternative zum Bestehenden springt aus jeder Zeile seiner Texte. Schernikau hat große Literatur geschrieben. Davon zeugt dieser kenntnisreiche Sammelband. Manche Sammelbände habe einige starke Beiträge und viele schwächere, dieser nicht.

Bodo Niendel, Referent für Queerpolitik der Bundestagsfraktion DIE LINKE.

Vom analytischen und gesellschaftskritischen Potential queerer Kritik

Beitrag von Bodo Niendel, geschrieben am 11.01.2018

Das Buch versammelt neuere Beiträge queerer Forschung. Die Herausgeber_innen erheben den Anspruch „Teil einer Standortbestimmung aktueller Queer Studies“ zu sein. Tatsächlich gelingt es ihnen zu zeigen: Queere Kritik hat weiterhin ein erhebliches analytisches und gesellschaftskritisches Potential.

Barbara Paul wirft einen Blick auf queere Kunstpraxen, die sie von „queer-chic“ abgrenzt. Also einer „Vereinnahmung queerer Positionen und Posinalitäten durch die Mainstream –Kultur“ zum Zwecke des Verkaufs von Waren. Sie stellt unterschiedliche künstlerische Arbeiten vor, die spannende queere Einblicke liefern. Leider ist die Darstellung der Kunst, zugunsten des etwas langen theoretischen Vorlaufs, etwas zu kurz gekommen.

Sabine Hark ist die wohl bekannteste deutsche Queer-Theoretikern. Sie mahnt an, sich von den gesellschaftlichen Liberalisierungen und Modernisierungen nicht täuschen zu lassen. Weiterhin sei Heterosexualität die stetige soziale Norm. Die Festschreibung von Begabung und Verhalten zu den gesellschaftlich hergestellten Polen männlich und weiblich und die Suche nach den Gründen der Homosexualität, seien wiederkehrende Muster in westlichen Gesellschaften: „Es ist eben das Homo-Gen, nach dem gesucht wird, nicht das Hetero-Gen.“ Klassische feministische Kritik habe insbesondere die Dominanz von Männlichkeit infrage gestellt. Mit der Theorie von Judith Butler wurde „die Herstellung von Geschlecht theoretisch-systematisch mit der produktiven Macht der heterosexuellen Matrix verknüpft, ließ sich fortan im Prinzip die kritische Analyse von Geschlecht nicht mehr trennen von der Frage, wie dies mit der Reproduktion jener Matrix verknüpft ist.“  Hark möchte die wissenschaftliche Heteronormativitätskritik schärfen, mahnt aber an, dass diese Kritik nicht eingeschriebene Geschlechterasymmetrien außer Acht lassen darf. Die eigene Theorie müsse auf ihre fehlbaren Kategorien stets überprüft werden. Ein Plädoyer für die Verbindung von Feminismus und Queer.

Konstanze Plett liefert einen historischen Blick auf den Kampf um das Geschlecht im deutschen Recht. Sie erinnert an die mühevollen Kämpfe von Frauen um Gleichberechtigung insbesondere im Ehe- und Arbeitsrecht. Sie weist auf die harten Auseinandersetzungen zur Reform und Aufhebung des Paragraphen 175 hin und widmet sich dem Personenstandsrecht, das die Rechte von trans- und intergeschlechtlichen Menschen beschränkt. Die Änderung des Personenstandsgesetzes im Jahr 2013, nach welchem bei der Geburt eines intergeschlechtlichen Kindes kein Geschlechtseintrag vorzunehmen ist, hat und wird viele Prozesse zur Folge haben und zu weiteren Gesetzesänderungen führen. (Damit sollte sie mit dem im Oktober 2017 ergangenem Bundesverfassungsgerichtsurteil zum „dritten Geschlecht“ Recht behalten.) Plett wendet sich gegen die Geschlechterbinarität und folgert: „Am besten wäre es gewesen, wenn der Gesetzgeber die Geschlechtsregistrierung bei Geburt gänzlich aufgehoben hätte.“

Nina Schuster widmet sich einem kaum erforschtem Gebiet: Queer und Raum. Es geht um die „zweigeschlechtliche Vereindeutigung“ des Raums. Doch Räume bieten immer auch Konfliktpotentiale. Sie beschreibt ein Trans*-Treffen mit einer Trans-Person, die zugleich Polizist ist, innerhalb linksalternativer Räumlichkeiten und den daraus erwachsenen Streitigkeiten. Indem Schuster darauf hinweist, dass eine Person „gleichzeitig marginalisierte und hegemoniale Positionen besetzen“ kann plädiert sie für ein differenziertes Denken und Handeln.

Lüder Tietz bietet einen spannenden Abriss über alternative CSDs in Deutschland. Diese hätten politisch und künstlerisch auf Defizite der großen CSDs hingewiesen. Doch indem er die Alternativ-CSDs den großen CSDs gegenüberstellt, und die Alternativ-CSDs nicht einer Kritik unterzieht, läuft er Gefahr lediglich in Gut und Böse zu scheiden. Er unterschlägt damit auch interne Kämpfe bei den Organisator_innen der großen CSDs. Da Tietz jedoch die verborgene Geschichte der Alternativ-CSDs sichtbar macht, ist dieser Beitrag mit Gewinn zu lesen. Das trifft auf die Mehrzahl der Beiträge zu, auch wenn einige sprachlich unnötig kompliziert gefasst sind.

Bodo Niendel, Referent für Queerpolitik der Bundestagsfraktion DIE LINKE.

 

 

Debatte: »DIE LINKE sollte gegen restriktive Gesetze kämpfen«

Beitrag von Jules El-Khatib, geschrieben am 11.01.2018

In DIE LINKE wird aktuell ein Papier der ostdeutschen Landtagsfraktionen zur Reform des Einwanderungsrechts diskutiert. Eine Podiumsdiskussion dazu haben wir hier dokumentiert. Auch die Genoss*innen von Marx21 greifen die Diskussion auf und starten mit einem Diskussionsbeitrag von Susanne Hennig-Wellsow und einem von Jules El-Khatib. Letzteren dokumentieren wir hier.

Ich bin gegen ein linkes Einwanderungsgesetz. Denn unter kapitalistischen Bedingungen wird jegliche gesetzliche Regelung von Einwanderung immer einen restriktiven Charakter annehmen: Sie regelt immer auch, unter welchen Bedingungen Menschen gehen müssen.

Das trifft leider auch für das vorliegende Konzept der ostdeutschen Landtagsfraktionen der LINKEN für ein Flüchtlings- und Einwanderungsgesetz zu. Das Papier kritisiert zu Recht die bisherige rassistische Flüchtlingspolitik der Bundesregierung scharf und möchte stattdessen für Menschen, die nach Deutschland kommen, »Bewegungsfreiheit, soziale Sicherheit, Gleichstellung und Teilhabe« gewährleisten. Es ist zu begrüßen, dass sich die Autorinnen und Autoren deutlich von dem bisherigen Vorschlag der beiden links regierten Länder Brandenburg und Thüringen abgrenzen. Deren Landesregierungen hatten sich noch positiv auf das sogenannte kanadische Modell bezogen, in dem ein Punktesystem »Einwanderungswillige« nach Ausbildung, Sprachfähigkeiten und dem Alter auswählt. Diesem Nützlichkeitsrassismus erteilen die ostdeutschen Landtagsfraktionen dankenswerterweise eine Absage.

Einwanderungsgesetz bedeutet Beschränkung

Doch trotz vieler fortschrittlicher Vorstellungen hält das Konzept unverständlicherweise an Abschiebungen und Einreiseverboten (bei Begehung von Straftaten, Spionage oder Kriegsverbrechen) fest. Das ist eine Abschwächung linker Programmatik. Hier offenbart sich das Grundproblem der Herangehensweise. Im gutgemeinten Versuch, Rechte auszuformulieren, werden gesetzliche Restriktionen entwickelt. Was ist beispielsweise mit Kurdinnen und Kurden, die in der Türkei verfolgt werden und die PYD oder die PKK unterstützen? Nach bundesdeutschem Recht begehen sie durch die Unterstützung dieser Organisationen eine Straftat. Dürfen sie also nicht einreisen?

Ein zweites Problem ist der strategische Ansatz des Papiers. Die Autorinnen und Autoren meinen, es bestehe eine Leerstelle zwischen den Forderungen der LINKEN nach offenen Grenzen und ihrem Agieren im Hier und Jetzt. Sie sagen, dass die Partei »eigentlich keine progressiven Vorschläge macht, wie Migration legal und sozial abgesichert stattfinden kann«. Das ist schlicht falsch. DIE LINKE hat als einzige Partei gegen die Asylrechtsverschärfung gestimmt und fordert die Wiederherstellung des Asylrechts. Sie fordert, alle benachteiligenden Regelungen und Gesetze aufzuheben, wie das Asylbewerberleistungsgesetz, die Residenzpflicht und Arbeitsverbote für Geflüchtete. Außerdem fordert DIE LINKE, die Unterbringung in Sammellagern sofort abzuschaffen, Abschiebungen zu beenden und ein Bleiberecht für alle. Ebenso verlangt sie, dass alle Kinder, die in Deutschland geboren werden, auch die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten. Um Geflüchtete und Einheimische vor Lohndumping zu schützen, fordert DIE LINKE die Anhebung und flächendeckende Durchsetzung des Mindestlohns. Statt Hartz IV für Einheimische und Sachleistungen für Geflüchtete will sie eine sofortige Mindestsicherung von 1050 Euro, ohne Sanktionen, für Menschen, die von ihrer Arbeit nicht leben können.

Gesellschaftliche Gegenmacht

Daraus ergibt sich ein ziemlich konkretes Bild, wie »Bewegungsfreiheit, soziale Sicherheit, Gleichstellung und Teilhabe« erreicht werden können. Um diese Forderungen durchzusetzen, brauchen wir kein linkes Einwanderungsgesetz. Statt sich auf die Einführung eines solchen Gesetzes zu konzentrieren, sollte DIE LINKE gegen restriktive Gesetze kämpfen. Dieser Kampf kann kein rein parlamentarischer sein, sondern bedarf des Aufbaus gesellschaftlicher Gegenmacht durch soziale Bewegungen. Auch und gerade mit Geflüchteten.

Zum Autor:
Jules El-Khatib ist Mitglied im Landesvorstand der Linken.NRW und aktiv in Essen.

 

Wir brauchen ein linkes Einwanderungsgesetz

Beitrag von Susanne Hennig-Wellsow, geschrieben am 08.01.2018

In DIE LINKE wird aktuell ein Papier der ostdeutschen Landtagsfraktionen zur Reform des Einwanderungsrechts diskutiert. Eine Podiumsdiskussion dazu haben wir hier dokumentiert. Auch die Genoss*innen von Marx21 greifen die Diskussion auf und starten mit einem Diskussionsbeitrag von Susanne Hennig-Wellsow, den wir hier dokumentieren. (Erstveröffentlichung bei Marx21 hier.)

Linke Politik ist eine Politik offener Grenzen. Der Anspruch auf Bekämpfung und Überwindung der Fluchtursachen, auf ein humanes europäisches Flüchtlingsrecht sowie auf die solidarische Bewältigung der Fluchtbewegung durch die Länder der EU wird dabei nicht aufgegeben. Offene Grenzen bedeuten jedoch nicht, dass Zuwanderung und Integration sich einfach regellos vollziehen können. Soziale Verantwortung setzt sich nicht im Selbstlauf durch und ohne eine Veränderung von Kräfteverhältnissen wird es keine Veränderungen zum Besseren geben.

DIE LINKE strebt mit aller Kraft eine moderne, solidarische Einwanderungs- und Integrationspolitik an. Zugleich muss DIE LINKE in Regierungs- oder kommunaler Verantwortung geltendes Recht respektieren und umsetzen. Gemessen an linken Grundsätzen ist das bestehende Recht ein ernsthaftes Übel. Deswegen sollte DIE LINKE dafür sorgen, dass geltende Gesetze nach ihren Maßstäben völlig überholt werden.

Für ein linkes Einwanderungsgesetz

Im Mittelpunkt eines Einwanderungsgesetzes müssen die Bedürfnisse der Menschen und damit die individuellen Gründe und Ursachen für Migration, nicht die Bedürfnisse und ökonomischen Zwänge des deutschen Arbeitsmarktes stehen. Ein linkes Einwanderungsrecht muss drei Aufgaben erfüllen: Es muss bestehende aufenthaltsrechtliche Fragen systematisieren, liberalisieren und entbürokratisieren. Dabei ist der Anspruch an ein linkes Einwanderungsrecht, menschenrechtliche Mindeststandards bei der Einwanderung wiederherzustellen, Zugänge zu sozialer Sicherung und gesellschaftlicher Teilhabe zu erleichtern und entsprechende Hürden abzubauen. Das geltende Recht verfolgt nur die »Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern«. Anstelle der Formulierung von Ausnahmen sollten die Voraussetzungen und rechtlichen Grundlagen für eine legale Einreise und den Aufenthalt bestimmt werden. Das Asylgrundrecht muss durch die Abschaffung der sicheren Dritt- und Herkunftsstaaten-Regelungen wiederhergestellt und die Verletzung von grundlegenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten als Fluchtgründe anerkannt werden.

Bei den Diskussionen um Einwanderung geht es nicht nur um Fragen der Inklusion von Schutzsuchenden und Zuwandernden; es geht grundlegender um die Frage, was die soziale Basis unseres Gemeinwesens ist. Es wäre klug, auf ein »inklusives Wir all derer, die hier leben« zu setzen. Im Mittelpunkt eines linken Einwanderungsrechtes müssen danach der soziale Anknüpfungspunkt und die soziale Verwurzelung eines Menschen stehen.

Offene Grenzen

Die Forderung nach »Offenen Grenzen für Menschen in Not« und dem grundsätzlichen Anspruch auf Bewegungsfreiheit (»Offene Grenzen für alle Menschen«) aus dem Erfurter Programm der LINKEN kann nur so verstanden werden, dass die Gesellschaften für Einwanderungsbewegungen so offen und durchlässig wie möglich gehalten werden. Dies macht allerdings einen rechtlichen Regulierungsbedarf erforderlich, der es ermöglicht, einen abgesicherten Rechtsstatus zu erhalten und den bestehenden Status zu verbessern. Damit wäre auch ein Weg aufgezeigt, der auf die Realisierung von Bewegungsfreiheit hinwirkt: Durch die schrittweise Realisierung globaler sozialer und demokratischer Rechte auf unterschiedlichen Ebenen (national, inter- und transnational) und Foren (z. B. parlamentarische Gesetzgebung) verlieren die territorialen Staatsgrenzen an ausgrenzender Macht.

Susanne Hennig-Wellsow ist Landesvorsitzende der LINKEN in Thüringen und Fraktionsvorsitzende im Thüringer Landtag.

Weiterlesen:

Redaktion *prager frühling: Umschalten, Genoss*innen!: Eine progressive Migrationspolitik lässt sich nur im Vorwärtsgang erreichen

Anja Mayer und Jörg Schindler: Keine Einwanderung ist illegal! Von Willkommensämtern, dem Recht hier zu leben und Flüchtlings-Keynesianer*innen

Ulla Jelpke und Lena Kreck: Kann es ein linkes Einwanderungsgesetz geben?

Thomas Feske: Soll er doch nach Prohlis kommen. Eine Antwort auf Christian Baron

Yuval Eylon: Über die Aushöhlung der Solidarität. In der Flüchtlingsfrage lassen sich Pragmatik und Programmatik nicht trennen

Serhat Karakayali und Vassilis Tsianos: Die frohe Botschaft der Autonomie der Migration. Annäherung an einen umstrittenen Begriff

Stefan Gerbing: Am Tiefpunkt: Eine Entgegnung auf Tobias Riegel und die Denunziation der Forderung nach offenen Grenzen

Kolja Lindner: Rückkehr nach Frankreich. Sahra Wagenknecht, die AfD und der Kampf um Hegemonie

Stefan Gerbing: Boris Palmer – ein Bürgermeister verrechnet sich gründlich. Über „Wir können nicht allen helfen.“

Am Tiefpunkt

geschrieben am 15.12.2017

Vereinzelte Kritik an der im Grundsatzprogramm der LINKEN verankerten Forderung nach offenen Grenzen beschränkt sich meist auf Andeutungen und Sticheleien. Eine ernsthafte Beteiligung an schon länger stattfindenden Diskussionen wie der Forderung „realpolitisch” Geltung verschafft werden kann oder ob sie als lediglich utopische „Forderung für eine ferne Zukunft“[1] verstanden werden könne, beteiligen sich die skeptischen Stimmen bisher kaum. Material und Grundlagen für Debatten gäbe es genug. Die Parteistiftung hat dazu lesenwerte theoretische Beiträge veröffentlich. Die Arbeitsgruppe Einwanderung der ostdeutschen Landtagsfraktionen hat zudem einen Diskussionsaufschlag für einen Einwanderungsgesetzesentwurf vorgelegt, der realpolitische Schritte hin zu globaler Bewegungsfreiheit zu definieren versucht. (Unter anderem dokumentiert in der neuen Ausgabe des *prager frühling.)

Umso ärgerlicher ist es, dass die Debatte immer wieder für unfaire Polemiken und Diffamierungen genutzt wird. Ein neuerlicher Tiefpunkt war der jüngst erschienene ganzseitige Beitrag im neuen deutschland mit dem Titel „Sahra und der Aufstand der Easy-Jetter”. In dem Text von Tobias Riegel werden die migrationspolitischen Debatten in DIE LINKE als gegen Wagenknecht und Ehemann gerichteter Machtkampf trivialisiert.

Nicht nur, dass die Forderung nach offenen Grenzen und deren Begründungen grotesk verzerrt werden, Befürworter*innen werden kurzerhand als „hysterisch” pathologisiert und gleich mehrfach als „naiv” bezeichnet. Wer die nationalen und europäischen Grenzregime überwinden will, bekommt von Riegel vorgeworfen, er oder sie vertrete eine „neoliberale” und „undurchdachte Easy-Jet-Philosophie”, die ausschließlich „freie Google-Coca-Cola-Deutsche-Bank-Individuen” im Blick habe. Doch damit nicht genug. Den Sinn des antirassistischen Demo-Spruchs „No Border, no Nation” verdreht der Autor in eine an Mad Max-Filme gemahnende Dystopie: „Eine Welt ohne Grenzen und Nationen würde eine privatisierte sein: keine greifbaren Machtzentren, kein einklagbares Recht, keine ausgleichenden Steuern, keine sozialen Mindeststandards, kein staatliches Gewaltmonopol - denn wer sollte all das in einer grenzenlosen Welt wie durchsetzen? Stattdessen: global vagabundierende Lumpenproletarier, die in einem sozialen Unterbietungswettbewerb gegeneinander ausgespielt.” Das, so schlussfolgert Autor Riegel, sei „der Traum einer globalistischen Finanz- und Internetwirtschaft, die ideologie- und ortlos nirgendwo mehr Rechenschaft über ihre Gewinne ablegen möchte.”

Das ist noch nicht einmal auf den ersten Blick plausibel. Schließlich führen gerade in westlichen Industrienationen die mit Kriminalisierung und Illegalisierung von Migratin*innen einhergehenden Grenzregime dazu, dass eine prekarisierte Klasse migrantischer Arbeiter*innen entsteht (die abfällige Rede vom „vagabundierenden Lumpenproletariat” verbietet sich), der grundlegende Rechte verweigert werden. Diese ist bereits jetzt von den staatlich garantierten, sozialen und arbeitsrechtlichen Mindeststandards ausgeschlossen. Migrant*innen ohne legalen Aufenthaltsstatus sind davon betroffen, aber auch Migrant*innen mit legalem aber prekären Aufenthaltstiteln werden durch die Verknüpfung von Aufenthalt mit existenzsichernder Erwerbsarbeit auf dem Erwerbsarbeitsmarkt besonderer Erpressbarkeit unterworfen. Am Job hängt im Zweifelsfall dann nicht nur das Einkommen, sondern der legale Aufenthalt der gesamten Familie. Daher müssen sie inakzeptable Ausbeutungsverhältnisse akzeptieren und geraten damit tatsächlich in bestimmten Sektoren in die Gefahr als Unterbietungskonkurrenz zu eingesessenen Arbeiter*innen verwandt zu werden.

Es waren Netzwerke wie „Kein Mensch ist illegal”, selbstorganisierte Flüchtlingsorganisationen sowie die Medibüros, die auf das „Recht, Rechte zu haben” pochten. Dazu gehörten neben dem Recht auf Gesundheitsversorgung eben auch die sozialen und arbeitsrechtlichen Mindeststandards, die Riegel vermeintlich für verwirklicht hält. Die von Riegel so geschmähte „Offene-Grenzen-Fraktion” kämpft also seit Jahr und Tag genau dafür, dass Migrant*innen und eingesessene gleichermaßen von diesen Standards geschützt werden. Mit dieser Position wenden sie sich gegen die Deinstitutionalisierung und Entrechtlichung, die Riegel ihr polemisch vorwirft. Die Forderungen der antirassistischen Netzwerke wurden nicht zuletzt von Teilen der Gewerkschaften aufgegriffen, weil diese begriffen, dass Illegalisierung eben auch die Reichweite gewerkschaftlicher Organisierung untergräbt. Die Behauptung, dass wer gegen das europäische Grenzregime eintritt, eigentlich gegen Besteuerung, gegen einklagbare Rechte und gegen soziale Mindeststandards ficht, ist Verleumdung beziehungsweise schlicht Fake-News.

Riegels eigene Vorstellung, dass ausgerechnet der nationale Wettbewerbsstaat als soziales Bollwerk für die deutsche Arbeiter*innenklasse fungiere und durch Migration unterminiert werde, wäre hingegen sehr begründungspflichtig.

Die Traumdeutung der Chef*innen der „globalistischen Finanz- und Internetwirtschaft“, bei denen sich der Autor nicht recht entscheiden mag, ob sie nun „ideologielos” oder „neoliberal” seien, krankt an empirischen Belegen. Zwar haben sich deren Lobbyist*innen in Brüssel und Berlin in der Tat für alle möglichen Steuer- und Finanzmarktderegulierungen eingesetzt. Die Verwirklichung des Rechts auf globale Bewegungsfreiheit war entgegen Riegels Vermutung allerdings bislang nicht unter deren Prioritäten.

Das ist auch nicht nötig, denn für den genannten Personenkreis ist das Recht auf globale Bewegungsfreiheit längst Realität. Wer ohnehin mit der deutschen Staatsbürgerschaft und dem über lange Jahre „stärksten” Reisedokument der Welt gesegnet ist, kann visafrei in 158 Staaten reisen.[2] Auch die Reichweite der meisten anderen europäischen Pässe liegt nur knapp darunter. Mit genügend Kleingeld sind in der Regel auch Visa-Anforderungen keine nennenswerte Hürde. Zudem lässt sich in Malta und andernorts ganz legal der Pass und damit Freizügigkeit in und außerhalb des Schengen-Raums erwerben.[3]

Aber jenseits von Realpolitik und Lobbyismus, auch von neoklassischen Ökonomen ist nicht zu erwarten, dass sie demnächst Open-Borders-Demonstrationen organisieren werden. Zwar gibt es durchaus positivistische Studien, die den volkswirtschaftlichen Beitrag von Migrant*innen für groß und die negativen Effekte von Migration z.B. auf die Zahl der Erwerbsarbeitslosen für äußerst marginal erachten. Andererseits hat sich kaum ein Ökonom außerhalb der AfD derart vehement für einen Stopp von Flucht und Migration nach Europa ausgesprochen wie der sonst von Linken als neoliberaler Gottseibeiuns betrachtete Ex-Chef des ifo-Instituts, Hans Werner Sinn. Studien des Instituts, die sich mit den Kosten von Grenzkontrollen beschäftigen hatten in der Vergangenheit nie die Rechte von migrantischen oder angestammten Arbeitnehmer*innen im Sinn, sondern immer nur die Effekte für den Warenhandel. Diese schätzten sie, anders als andere europäische Ökonomen für Deutschland als überaus gering und geradezu vernachlässigbar ein.

Die philosophischen Begründungen der meisten Linken, die sich für die Verweigerung des Rechts auf Bewegungsfreiheit für Menschen aus dem globalen Süden aussprechen sind ohnehin wenn nicht an Kommunitaristen wie Michael Walzer angelehnt, dann von (national)liberalen Argumenten eines Will Kimlicka oder David Miller inspiriert. Auch bei genauerer Betrachtung bleibt von Riegels Denunziation antirassistischer Forderung als neoliberale Avantgarde nicht viel übrig. Stattdessen argumentiert er selbst mit (national)liberalen Diskursfragmenten.

So wenig überzeugend wie seine Angriffe auf antirassistische Netzwerke, so wenig überzeugend ist seine unbedingte Verteidigung der „Gastrechtsäußerung” Wagenknechts. Sie selbst hat diese mittlerweile als missverständlich bedauert und auch ihr bedingungsloser Fanblock auf den Nachdenkseiten hat sie als „missverständlich und problematisch” bezeichnet. Riegel nennt sie hingegen „Verbal-Provokationen” und fragt sich, „warum sie [Wagenknecht] sich die erwartbaren Empörungsstürme antut?”, obwohl diese Provokationen „nicht ihrer [Wagenknechts] Haltung” entsprächen.

Mit dem Satz „Darüber sollten die wütenden Genossen mal nachdenken.”, reicht er eine Frage, die nur Wagenknecht selbst beantworten kann an die vielen ratlosen antirassistisch engagierten Genoss*innen weiter, die sich von der „Verbalprovokation” auch tatsächlich provoziert gefühlt haben. Nun mag es sein, dass dies wirklich kein unbedachter Versprecher war, sondern „mit Taktik, Realitätssinn, Wahlchancen und vielleicht sogar mit gesellschaftlichem Verantwortungsgefühl zu tun” hat, wie Riegel behauptet. Nur sollten (auch taktische) Diskussionen unter Genoss*innen offen und ehrlich geführt werden und nicht als Hermeneutik einer rätselhaften höheren Vernunft im Stile des Orakels von Metzingen.

Dennoch: Etwas Positives lässt sich aber dem erreichten Tiefpunkt der Debatte jedoch abgewinnen. Von hier aus kann das Debattenniveau nur noch steigen.

Stefan Gerbing ist Redakteur des *prager frühling.

 

[1] So z.B. Sahra Wagenknecht in einem Streitgespräch mit Frauke Petry, vgl. http://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/2432.streitgespr%C3%A4ch-zwischen-sahra-wagenknecht-und-frauke-petry.html

[2] Vgl. www.passportindex.org

[3] https://www.welt.de/politik/ausland/article131468167/Tausende-Reiche-werden-gegen-Geld-EU-Buerger.html

Der falsche Preis

Beitrag von Dr.-Axel-Stoll-Medaillenkommittee beim *prager frühling, geschrieben am 14.12.2017

Die alternative Karlspreis-Verleihung für Ken Jebsen ist geplatzt. Der begabte Musiker und begnadete Antisemit Gilad Atzmon hat Hausverbot im Babylon und Jebsen wollte selbst nicht mehr zu seiner eigenen Ehrung kommen.

Das ist schade. Denn auch wir verdanken Ken Jebsen viele überraschende Erkenntnisse. Erinnert ihr Euch noch an die Proteste des „Womens March“ in den ersten Tagen der Präsidentschaft von Donald Trump? Habt ihr euch nie gefragt, wies es möglich war, dass die vielen Frauen in den USA auf einmal alle die gleichen Mützen tragen konnten? Hab ihr Euch so wie wir nur naiv gefreut, dass so viele Frauen spontan einem offen sexistischen Präsidenten widersprechen? Dank dem selbst ernannten „medialen Mülltrenner“ Ken Jebsen wissen wir, dass noch viel mehr dahintersteckt. Denn der der jüdische Finanzinvestor George Soros hatte seine Finger im Spiel!

Und es ging ihm um anderes als Protest gegen den sexuellen Belästiger aus dem weißen Haus. Nein, Soros wollte sich an unseren toten Babys bereichern! Wie das? Schon wieder jüdische Ritualmorde? Auch im 21. Jahrhundert? Dank Jebsen wissen wir der Plan war viel profitabler und kam auch ganz ohne Gegenpogrom aus. Er ging so: Georges Soros betreibt unter anderem ein Abtreibungsklinik-Imperium und genau diese Kliniken finanzierten die Frauenproteste, weil natürlich ganz logisch mehr selbstbewusste Frauen eben auch mehr Abtreibungen versprechen. Daran hätte Georges Soros dann verdient. Aber der Spekulant hätte nicht nur an Abtreibungen seinen Reibach gemacht, sondern sogar auch am Verkauf der toten Embryonen an die Pharmaindustrie für die Stammzellenforschung. Ein doppelter Schnitt also. Der Moderator hat uns zwar keinen direkten Beweis gezeigt für den perfiden Plan von George Soros erbringen können, aber Jebsen hat schon die Frage gestellt, ob und wie das alles zusammenhängt. Und wenn man die richtigen Fragen stellt, dann ergibt sich die Antwort ja fast von allein.

Viele andere Dinge hätten wir ebenfalls ohne den Ken nicht erfahren: Dass Jörg Haider vom Mossad ermordet wurde und die Shoah maximal auf Platz 2 der Massenverbrechen steht. Hättet Ihr das gewusst?

Deswegen findet die *prager frühling-Redaktion: Ken Jebsen sollte gerade wegen der geplatzten alternativen Karlspreis-Verleihung eine Anerkennung seiner Leistungen erhalten. Schließlich haben wir noch so viele Fragen: „Was geschah mit den über eine Million reichsdeutschen Patenten, die in alliierte Hände verschwanden? Wo sind die Eingänge zur Hohlen Erde? ... und wer kontrolliert sie?“

Aus diesem Grund sollte Ken Jebsen mit der Dr.-Axel-Stoll-Medaille ausgezeichnet werden. Denn Dr. Axel Stoll war ein ähnlich verkannter Mann und formidabler Wissenschaftler, der von der Lügenpresse geächtet, verfolgt und der Lächerlichkeit preisgegeben wurde. (z.B. hier.) Also wenn ihr ein Kino in Nähe kennt, meldet Euch!

 

Euer Dr.-Axel-Stoll-Medaillenkommittee beim *prager frühling.

 

Über die Ethnisierung der sozialen Frage

Beitrag von Bodo Niendel, geschrieben am 15.11.2017

Gerd Wiegels schmales Büchlein zur AfD bietet einen kompakten Einstieg zur Debatte um die rasend schnelle Etablierung der neuen Rechtspartei. Die Entwicklungen in der AfD sind nicht vorhersehbar und so haben es Bücher zum Thema leider an sich, dass einige Informationen bei der Veröffentlichung schon veraltet sind. Wiegels Büchlein ist vor der Bundestagswahl erschienen und konnte den Austritt der Bundesvorsitzenden Frauke Petry noch nicht berücksichtigen. Wer sich über die AfD auf dem Laufenden hält, der wird an in Wiegels Buch wenig neue Informationen finden. Er zeichnet jedoch präzise nach, dass die Erfolge der AfD nicht aus heiterem Himmel gekommen sind. Wie bereits die Studien des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyers seit vielen Jahren belegen, gibt es in der deutschen Bevölkerung ein großes Potential für eine Rechtspartei. Die von Thilo Sarrazin und anderen angestoßenen Debatten haben rechtes Gedankengut weiter in der Öffentlichkeit verankert und respektabel gemacht.

Wiegels Stärke ist, dass er die Fakten zur AfD neu ordnet und sie um die Frage gruppiert, wie die gesellschaftliche und die parteipolitische Linke auf den Rechtruck antworten soll.

Er warnt ausdrücklich vor Klassenreduktionismus und stellt heraus, dass es der AfD im Kern eine „Ethnisierung der sozialen Frage“ gelungen sei. Die erkläre „sich vor allem aus der Schwäche linker politischer Konzepte und aus der objektiven Schwäche der Linken, ihre Vorstellungen mit einer realen und in gesellschaftlichen Kämpfen zu entwickelnden Umsetzungsoption zu versehen.“

Die AfD ist eine Rechtspartei mit verschiedenen Flügeln. Vor allem der „neofaschistische Flügel“ um Björn Höcke ragt hier heraus, aber es gibt, trotz des Abgangs von Frauke Petry, weiterhin gemäßigte Rechte in der Partei. Wiegel empfiehlt stärker die vorhandenen Spannungen in der Partei zu nutzen und ihre unvereinbaren Positionen zu betonen.

Anders als die meisten Autor_innen zum Thema stellt Wiegel heraus, dass man den Erfolg der AfD vor dem Hintergrund des rasanten Aufstieg des Neoliberalismus und der Zerstörung sozialstaatlicher Sicherungen betrachten müsse, die nicht zuletzt die europäische Sozialdemokratie zentral forciert habe. Die AfD stelle eben die „soziale Frage“ nur ethnisiere sie diese, indem sie die exklusive Wiederherstellung von „Wohlstandsprivilegien“ für einzelne Bevölkerungsgruppen verspreche.

Deswegen sei die AfD eben keine Nazipartei, im Gegenteil sie profitiere von dieser Stigmatisierung. Es sei sogar Teil der rechtspopulistischen Strategie mit diesem Vorwurf zu arbeiten und sich in die Opferrolle zu begeben. Man müsse sich daher mit der AfD inhaltlich auseinandersetzen. Wiegel warnt zugleich, „dass eine verbale Übernahme ihrer Themen und ihrer Diktion niemals zum Erfolg führt.“

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, hat sich die deutsche Rechtspartei bisher noch im gleichen Maße verankert. Wiegel schlägt daher eine stärkere Fokussierung auf die soziale Frage vor, ohne diese jedoch gegen Diversität und emanzipatorische Kräfte in der Gesellschaft auszuspielen. Auch wenn mir eine stärkere Betrachtung des Antisemitismus der AfD fehlt, ein kompaktes und ein gutes Buch zum Thema mit der impliziten Aufforderung: Macht endlich gute linke Politik!

Bodo Niendel, Referent für Queerpolitik der Bundestagsfraktion DIE LINKE.

Soll er doch nach Prohlis kommen

Beitrag von Thomas Feske, geschrieben am 09.11.2017

Ursprünglich war der Beitrag „Getrennte Lebenswelten“ von Christian Baron unter der Überschrift „Sollen sie doch zugrunde gehen“ abrufbar. Mittlerweile hat man den Titel geändert. Zu starker Tobak - vielleicht dem ND, vielleicht dem Autoren.

Mich wundert das nicht. Die veränderte Überschrift kittet allerdings nur mühsam, was der Autor an waghalsiger Argumentation präsentiert. Seiner Überzeugung nach gäbe es – aus linker Perspektive – zwei relevante Milieus, die sich unversöhnlich, unvereinbar, unverständlich gegenüber stehen. In der einen Ecke: Die von DDR-Opportunisten gezeugten und finanziell gepamperten Junglinken in Großstädten, denen die Armut des anderen Milieus am Arsch vorbeigeht. Erstere dürften den öffentlichen Diskurs mitbestimmen und sich über Migration freuen, weil: ohne Migranten kein exotisches Streetfood.

In der anderen Ecke: Unterklasse und alte Mittelklasse, die – Baron zufolge – materialistisch argumentieren und in Hinblick auf Migration angstvoll bis misstrauisch fragen: „Was kostet es uns? Was kostet es mich?“

Beide Milieus stünden sich unversöhnlich oder zumindest verständnislos gegenüber. So weit, so holzschnittartig, so bekannt, so lückenhaft. Ab dann aber wird’s – wie gesagt – waghalsig. Der Autor macht zwei Spitzenpolitikerinnen der LINKEN zu Anwältinnen dieser Milieus. Woher er diese Zuschreibung  nimmt, wie er sie herleitet, bleibt im Ungefähren. Da wird die Kritik Oskar Lafontaines am Bindungsverlust zwischen Arbeiterklasse und Linkspartei herangezogen (was auch immer das mit Wagenknecht zu tun hat) und Katja Kippings Hinweis auf die Unvereinbarkeit rechter Haltungen in der Flüchtlingspolitik mit den Grundprinzipien der Linkspartei zitiert.

Der Baron hat Prohlis nicht verstanden ...

Beides sei unvereinbar. Da stünden Anklägerin fremdenfeindlicher Ressentiments und Verteidigerin von Überfremdungsverängstigten unversöhnlich gegenüber. Der Autor hat sichtbar Freude an Gräben, die so tief allerdings gar nicht sind.

Wer, wie Kipping, in der Hochzeit der Flüchtlingskrise eine Sozialgarantie für die Ärmsten der Gesellschaft will, der richtet diese Forderung auch an all jene, die nachvollziehbarerweise mit der permanenten Angst leben, dass gesellschaftliche Lasten ein aufs andere Mal auf ihnen abgeladen werden.

Und wer, wie Wagenknecht, „offene Grenzen für alle“ als „eine gute Forderung für eine Welt der Zukunft“ beschreibt, die aber bestimmter Voraussetzungen bedarf: Der Schaffung „notwendigen Wohnraums oder von Arbeitsplätzen“, „damit Integration gelingt“. Das kennzeichnet keine Migrationsverweigerung, sondern die Einschätzung der Gefühlslage vieler Menschen am unteren Rand der Gesellschaft realistisch.

Wer allerdings, wie Christian Baron, die Analyse der Missstände und der Konfliktpotenziale in der Gesellschaft mit der Beschreibung einer linken, solidarischen Antwort darauf, wie sie Kipping und Wagenknecht in unterschiedlichen Tonalitäten gleichsam geben, verwechselt, der verstellt den Blick auf die Möglichkeiten einer LINKEN, die gesellschaftliche (WählerInnen-)Gruppen nicht – wie der Autor selbst – auseinanderdividieren, sondern zusammenbringen will.

Als Dresdner kann ich abseits der Reden Sahra Wagenknechts nichts über ihren persönlichen Umgang mit LINKEN-Anhängern unterschiedlicher Milieus sagen. Ich weiß so wenig wie der Autor, ob sie links-grüne Düsseldorfer „Gutmenschen“ eher links liegen lässt und sich lieber am Stammtisch im Arbeiterviertel Flingern niederlässt. Als Dresdner weiß ich aber sehr wohl, wie Katja Kippings Wahlkampf ausgesehen hat.  

Ob Kipping früh vorm JobCenter stand, tagsüber in den Wohnvierteln in den Hausfluren, an der Seite von ver.di bei Aktionen für mehr Personal in der Pflege stritt oder sich abends auf Tour durch hippe und weniger hippe Kneipen begab – es war immer die Praxis, sich den Blick auf die ungefilterten Gefühlslagen aller möglichen LINKEN-WählerInnen nicht verstellen zu lassen – und in der Konsequenz (dennoch?) nach linken, soldarischen, natürlich auch internationalistischen Antworten zu suchen. Ich habe Haustürgespräche im Prohliser Plattenbau genauso erlebt wie Diskussionsveranstaltungen in der szenigen Neustadt. Mir sind in diesen Veranstaltungen Ressentiments und Weltoffenheit begegnet, aber überall gleichermaßen der Zuspruch zu Forderungen nach mehr sozialem Wohnraum, Arbeit für die, die hier herkommen, und nach einer Sozialgarantie für die, die bereits hier sind.

Und ich weiß aus Alltag und Wahlkampf, dass es schlicht ein gern bemühter Mythos ist, dass die Weltoffenen keine Empathie für die Armen haben. Denn gerade unter den Weltoffenen (die Christian Baron so lustvoll verspottet) gibt es viele, die selber knapp über der Armutsgrenze leben und sich mit prekären Jobs über Wasser halten. Gegenthese: Es gibt viel mehr ein Zusammenfallen von nationalem und sozialem Chauvinismus. Diejenigen, die heute abfällig über Geflüchtete reden, haben vor vier Jahren mit ähnlicher Abfälligkeit über Langzeiterwerbslose gesprochen.

Und für Letztere kämpfen Wagenknecht und Kipping gleichermaßen. Ich kann den beiden Spitzenpolitikerinnen empfehlen, sich von Autoren wie Christian Baron nicht auseinanderdividieren zu lassen und beim Spiel, potenzielle LINKE-wählende Milieus gegeneinander auszuspielen, nicht mitzumachen. Und dem Autor empfehle ich, mal bei einer Plattenbauhaustürtour durch Dresden Prohlis dabei zu sein. Das ist zwar nicht das szenige Berlin Neukölln, aber es würde ihm sicher helfen bei der Unterscheidung zwischen einem zugewandten Gespräch zwecks Analyse gesellschaftlicher Verfasstheit und linker Antwort mit Haltung.

Thomas Feske lebt und arbeitet in Dresden. Im Bundestagswahlkampf 2017 zog er als Moderator mit Katja Kipping und dem Roten Wohnzimmer durch die Wohnviertel in Dresden. Er ist Mitglied im Bundesausschuss DIE LINKE.

 

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